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Das Omega-Amulett: Ein phantastischer Kriminalroman
Das Omega-Amulett: Ein phantastischer Kriminalroman
Das Omega-Amulett: Ein phantastischer Kriminalroman
Ebook1,336 pages17 hours

Das Omega-Amulett: Ein phantastischer Kriminalroman

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About this ebook

Ein rasanter Fantasy Krimi in drei Teilen.

Ein über 2000 Jahre altes Amulett taucht aus den Untiefen der Zeit wieder auf. Ein Anhänger in Form eines Omegas. Omega, das Zeichen für das Ende ... aber das Ende wovon? Ist die Jahrtausende währende Spanne menschlicher Gewalt und Willkür fast vorbei? Oder befindet sich die Welt kurz vor der Katastrophe? Der exzentrische Multimillionär N.D. Tucker und die schöne Mineralogin Dr. Sandy Rudolphs begeben sich auf die Suche nach sieben geheimnisvollen Energiesteinen. Der Prophezeiung nach müssen diese in dem Omega wiedervereint werden. Die Zeit drängt. Auf ihrer Suche durch halb Europa findet das Paar einen machtvollen Stein nach dem anderen. Und ein Wettlauf gegen einen unbekannten Verfolger beginnt, der mit allen Mitteln versucht, die Vereinigung der Steine zu verhindern. Von einem Land ins nächste gejagt, mit den Wächtern der Steine konfrontiert, versuchen Tucker und Sandy das Rätsel um das Omega zu lösen und werden tiefer und tiefer in die Wirbel der Zeit gezogen. Die Steine beeinflussen und lenken sie. Aber in welche Richtung? Bald schon müssen sie einsehen, dass ihre bisherige Wirklichkeit nie wieder so sein wird wie vorher. Wie sind die Visionen zu deuten, die sie mit jedem neuen Steinfund öfter und öfter heimsuchen?

Der zweite Teil der mitreißenden Fantasy Krimi Trilogie.
Nostradamus Tucker ist tot. Garren und Greer treten das Erbe ihres Vaters an. Die jungen Wächter sehen sich plötzlich der Herausforderung gegenüber, auf die sie gewartet haben. Sie können nicht ahnen, dass sie mit jedem Schritt, den sie der Lösung des Rätsels des Omega näher kommen, die Welt ein Stück weiterdrehen. Die Menschen, die ihren Weg kreuzen, sind ihnen hilflos ausgeliefert. In einer Art, die über den Verstand eines Normalsterblichen hinausgeht.
Aber Garren und Greer sind keine normalen Männer. Sie sind mehr. Viel mehr. Doch das wird ihnen selbst erst bewusst, als es bereits zu spät ist.

Der letzte Teil der Omega Trilogie.
Nostradamus Tuckers Erbe geht von seinen Söhnen auf seine neun Enkel über. Das Omega wird aufgelöst und die Steine ihren neuen Wächtern übergeben. Um die Steine in Sicherheit zu bringen zerstreuen sich die Tuckers in alle Winde. Das ist das Ende einer Familie und der Beginn einer neuen Ära.
LanguageDeutsch
Release dateJan 18, 2016
ISBN9783863320034
Das Omega-Amulett: Ein phantastischer Kriminalroman
Author

Jo Arnold

Jo Arnold wurde 1968 in Mannheim geboren und studierte zwischen 1989 und 1994 amerikanische und spanische Literatur, sowie Sprachwissenschaften und Wirtschaft in Gießen. Nach dem Umzug in die USA 1995 folgte ein Masters Abschluss in BWL an einer Universität in Michigan und eine Stelle im mittleren Management bei einer Werbe- und Promotionagentur in Detroit. 1997 Heirat in den Vereinigten Staaten und Rücksiedlung nach Deutschland. Sprung in die Selbstständigkeit als Geschäftsführerin einer eigenen Agentur und parallel Unterrichtserteilung an einer Schule für Erwachsenenbildung in Mannheim. 2002 und 2004 Geburt der beiden Söhne. Aufgabe der Agentur und Aufbaustudium zum Gymnasiallehrer. Seit 2006 unterrichtet Jo Arnold Englisch und Spanisch an einem Gymnasium in Südhessen. Jo Arnold ist Mitglied beim Syndikat und den Mörderischen Schwestern. Sie lebt mit ihrer Familie im Odenwald.

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    Book preview

    Das Omega-Amulett - Jo Arnold

    Arnold

    Das

    Omega-Amulett

    Trilogie

    Lapislazuli

    Buch 1

    Der Suchende

    Für die zwei Stützpfeiler in meinem Leben:

    Meine Familie und meine Freunde.

    Dank Euch falle ich nie tief und

    halte mein Gleichgewicht.

    Ω 1 Ω

    Es war die bizarrste Aufmachung, die Tucker seit langer Zeit gesehen hatte. Bedachte man die Kreise, in denen sich N. D. Tucker bewegte, hieß das etwas. Der Mann stand lächelnd auf der anderen Seite der Scheibe und winkte ihm zu. Einen Moment lang glaubte sich Tucker einem Wesen aus der frühen Raumschiff Enterprise Serie gegenüber. Einem dieser kleinen grünen Männchen , die eindeutig als schlecht verkleidete Schauspieler zu erkennen waren.

    Der Unbekannte trug einen langen braunen Ledermantel mit Fransen und bunten Perlen verziert und eine Art Fliegermütze, die über und über mit eng anliegenden, dunkelblau schillernden, kurzen Federn gespickt war.

    Ein Einbrecher? dachte Tucker perplex, einer der Sorte New Yorker Stadtstreicher.

    Tucker suchte unwillkürlich nach einem mit Plastiktüten und alten Dosen gefüllten, verbeulten Einkaufswagen in der Nähe der Gestalt und musste über die Absurdität dieses Gedankens lächeln. Der Fremde lächelte ebenfalls und fing an, wild zu gestikulieren. Ein kurzer Blick nach links durch die offene Tür zeigte Tucker, dass die kleine Leuchtdiode der Alarmanlage in der Vorhalle stupide grün blinkte. Die Sensoren der Hightech Sicherheitsanlage hatten kein unbefugtes Betreten des Geländes gemeldet.

    Der Kerl mit der Federkappe war offensichtlich unbehelligt über den drei Meter hohen, schmiedeeisernen Zaun gestiegen. Er war siebenhundert Meter bis zum Haus gelaufen, ohne eine der Laserschranken auszulösen. Dann war er um die Villa gegangen und dabei allen am Haus angebrachten Videokameras ausgewichen. Jetzt stand er in voller Lebensgröße winkend und grinsend vor Tuckers Glasschiebetür zum Wohnzimmer.

    Er wartete darauf, dass seine drei Hunde aufspringen und anschlagen würden. Nichts geschah. Die riesigen Shilo-Schäferhunde räkelten sich weiter auf dem Teppich vor der Couch. Tucker starrte den seltsam gekleideten Mann noch eine weitere Sekunde lang an, dann nahm er den Kopfhörer, dem leise klassische Musik entströmte, vom Kopf und die Beine vom Couchtisch. Er stieg ungeschickt über zwei der riesigen Hunde hinweg und näherte sich dem Fenster.

    Der Mann winkte ihn heran und nickte in einem fort. Tucker hob die Hand und wollte zurückwinken. Er hielt sich selbst nur mit Willensanstrengung davon ab. »Bist du irre?«, fragte er sich selbst. »Du willst einem Einbrecher winken?«

    Aber das war noch nicht alles. Tucker wollte diesem Unbekannten die Tür öffnen. Er wollte es wirklich. Er musste einfach wissen, wer er war. Es war völlig egal, wie er bis zu ihm vordringen konnte und ob er gefährlich war.

    Nein, gefährlich sieht er nicht aus, dachte Tucker und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Dann ging er mit drei schnellen, bestimmten Schritten zur Glastür. Das riesige Fensterelement glitt lautlos zur Seite, als er den Hebel umlegte.

    »Wer sind Sie und wie kommen Sie auf mein Grundstück?«, blaffte er den Fremden an.

    »Mein Name ist Tomáz. Ich muss mit Ihnen sprechen.« Der Mann hatte eine sanfte, leise, aber unglaublich klare Stimme.

    Es war deutlich zu hören, dass Deutsch nicht seine Muttersprache war, aber es war auch kein greifbarer Akzent zu definieren. Tucker blickte ihn abweisend an, was ihm überraschend schwer fiel. Irgendetwas ging von diesem Mann aus, das seine sonst so souveräne Art, mit Menschen umzugehen, erschütterte.

    Mit seinen achtunddreißig Jahren und der beruhigenden Anwesenheit mehrerer Millionen Euro auf seinen Konten, hielt sich N. D. Tucker für eine gefestigte Persönlichkeit. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen. Ein Frauentyp, hauptsächlich dank seines Geldes, da machte Tucker sich nichts vor. Sein Aussehen war eher durchschnittlich. Ein Meter fünfundachtzig, weder durchtrainiert noch wabbelig, mit guten Proportionen, aber eben nichts Besonderes. Genauso wenig wie seine braunen Haare. Straßenköterbraun, dachte er manchmal, wenn er sich im Spiegel musterte. Ebenso unspektakulär waren die braunen Augen über einer leicht nach unten geschwungenen Nase in dem ovalen Gesicht. Trotzdem war er zufrieden mit sich. Er hatte wenigstens noch alle Haare, im Vergleich zu vielen seiner Altersgenossen, und er sah höchstens aus wie achtundzwanzig, fand er.

    Tucker bildete sich ein, gut mit Menschen umgehen zu können und durch seine direkte Art, die Dinge anzugehen, respektiert zu werden. Er wirkte immer kompetent und selbstbewusst. An große Gefühle glaubte er nicht und blieb lieber reserviert. Ihm war bewusst, dass er dadurch anderen mit einer gewissen Kälte entgegentrat, was seiner Meinung nach aber zwischenmenschlichen Beziehungen keinen Abbruch tat.

    Überließ man die Beschreibung den wenigen anderen Personen, die Tucker gut genug kannten, um ein Urteil über ihn zu fällen, fiel das Ergebnis weniger schmeichelhaft aus. Die meisten hielten ihn für einen überheblichen, oft unhöflichen, schroffen Menschen, der andere leicht vor den Kopf stieß. Niemand wagte allerdings Tucker dies offen zu sagen. Dafür war er zu reich.

    Tucker starrte den Eindringling an. Er hat mich einfach überrascht, versuchte er sich selbst zu beruhigen.

    Seine barsche Stimme hatte die Hunde alarmiert und alle drei kamen Schwanz wedelnd zur offenen Terrassentür, schnüffelten dem Fremden im Vorbeilaufen an den Füßen und verschwanden dann im dunklen Garten. Tucker blickte ihnen ungläubig hinterher. Drei Sekunden später schrillte die Alarmanlage ohrenbetäubend los, als einer der Hunde von den Sensoren erfasst wurde. Tucker wurde aus seiner Erstarrung gerissen, wirbelte herum und rannte in die Vorhalle, in der er hektisch einige Tasten auf dem Zahlenfeld an der Wand drückte. Der Lärm erstarb.

    Als Tucker in das Wohnzimmer zurückkehrte, hatte es sich Tomáz auf der Couch bequem gemacht und goss sich gerade ein Glas von Tuckers Rotwein ein.

    »Ein spanischer Rioja. Sie haben einen guten Geschmack, Señor Tucker. Und das sage ich nicht nur, weil ich Spanier bin.«

    »Wer sind sie?«, fragte Tucker erneut und registrierte dabei, dass er überhaupt nicht beunruhigt war. Tomáz schien auf der Couch ein völlig natürlicher Anblick zu sein. Er drehte dem Fremden den Rücken zu, griff sich ein zweites Weinglas aus der Hausbar und setzte sich in den Sessel gegenüber seines unverhofften Besuchers.

    Tomáz grinste ihn mit einem Mund voller weißer Zähne an. Ein überraschend jugendliches Lächeln in dem gebräunten, von tiefen Falten durchfurchten Gesicht. Irgendwie schienen auch seine klaren dunkelbraunen Augen fehl am Platz. Tucker schätzte Tomáz auf mindestens siebzig Jahre. »Die Zähne mögen ein Gebiss sein, aber diese Augen?«

    Tucker fuhr mit der Analyse seines Gegenübers fort, während Tomáz noch einen genüsslichen Schluck aus seinem Glas nahm. Der Spanier war vielleicht 1,65 Meter groß und drahtig, soweit Tucker sehen konnte. Der seltsame Mantel verdeckte den größten Teil seines Körpers.

    Tomáz blickte Tucker über das Glas hinweg direkt in die Augen. Etwas, das die wenigsten Leute taten.

    »Was wissen Sie über dieses Haus, in dem Sie seit Ihrer Kindheit leben?« Er begleitete seine unvermittelte Frage mit einer ausladenden Geste, bei der er seinen ausgestreckten Arm im Halbkreis schwang.

    Vom zentralen Wohnzimmer aus hatte man durch drei breite, offene Türen freien Blick auf die Vorhalle, das Speisezimmer und Tuckers Schlafzimmer. Die Villa war nicht außergewöhnlich groß, im Gegenteil, aber dafür exklusiv ausgestattet und eingerichtet. Es gab keinen zweiten Stock und nur eine kleine Küche. Das Wohnzimmer war seit den jüngsten Umbaumaßnahmen der größte Raum und nahm mit knapp zweihundert Quadratmetern fast die Hälfte des Wohnraumes ein. Außerdem gab es noch eine kleine Bibliothek und zwei Gästezimmer mit Bad.

    »Weshalb wollen Sie das wissen?« Tucker war ehrlich überrascht.

    »So kommen wir nicht weiter.« Tomáz lächelte tadelnd. »Ich habe nicht sehr viel Zeit, Señor Tucker. Sie sollten meine Frage beantworten, statt mir eine Gegenfrage zu stellen.«

    »Das kann nicht ihr Ernst sein!«, brachte Tucker mühsam hervor. Er hatte das Gefühl kurz vor einem nervösen Lachanfall zu stehen. »Sie dringen in mein Haus ein, sagen mir nicht, wer Sie sind und erwarten von mir, dass ich Ihre Fragen beantworte. Wie wäre es, wenn ich die Polizei rufe und Sie deren Fragen beantworten?«

    Tucker taten die Worte fast im selben Moment Leid, in dem er sie ausgesprochen hatte. Was war nur mit ihm los? Er kannte den Kerl vor sich nicht einmal. Warum wollte er seine Gefühle nicht verletzen? Er rühmte sich doch sonst so gern wegen seiner Kaltschnäuzigkeit.

    Tomáz machte ein beleidigtes Gesicht. Tucker fühlte sich sofort schuldig. Er kannte sich selbst nicht mehr.

    »Na schön«, sagte Tomáz. »Mein Name ist Tomáz la Piedra und ich bin ein Druide des alten Reiches. Ich bin hier, um Ihnen Ihre Bestimmung zu enthüllen.«

    Diesmal fing Tucker wirklich an zu lachen. »Ein spanischer Druide, ja? Klar, mein Freund. Wissen Sie denn nicht, dass Druiden lange weiße Rauschebärte haben und mit einer goldenen Sichel bei Vollmond Misteln von alten Eichen schneiden? Das kann man in jedem Asterix-Comic nachlesen. Und vielen Dank, aber meine Bestimmung wartet in Frankfurt auf mich.«

    »Ich weiß, Sie sind ein erfolgreicher Börsenmakler, aber Ihren Reichtum verdanken Sie doch in Wirklichkeit ihrem Großvater, oder?«

    Tucker suchte vergebens nach einer Spur von Gehässigkeit in Tomaz’ Stimme. Es war allseits bekannt, dass Tucker mehr Verluste als Gewinne an der Börse machte. Er hatte sein Vermögen ererbt, und es war oft genug Grund für Neid und Anfeindungen. Er hatte sich fast schon an die vielen Stimmen gewöhnt, die ihn seit seiner, zugegeben wilden Jugend, als unfähigen Sohn aus reichem Hause bezeichneten.

    »Und jetzt sagen Sie mir, was sie über Ihr eigenes Haus wissen«, riss Tomáz Tucker aus seinen Gedanken.

    Tucker zuckte zusammen und sah Tomáz an. Dieser erwiderte seinen Blick mit einer durchdringenden Gelassenheit, die Tucker keine andere Wahl ließ, als zu antworten.

    »Mein ziemlich exzentrischer Großvater hat diese Villa vor etwa 100 Jahren in Marokko abreißen lassen, um sie hier wieder aufzubauen, soweit ich weiß. Meiner Meinung nach passt sie wie die Faust aufs Auge in diese Landschaft, aber mein Großvater hatte immer mehr Geld als Geschmack.«

    Tatsächlich hatte Tuckers Großvater das Grundstück, oder besser die Grundstücke, auf denen die Villa stand, gekauft, lange bevor die UNESCO die Region zum Geopark erhoben hatte. Dieser Teil Süddeutschlands war außergewöhnlich pittoresk. Eine sanfthügelige Mittelgebirgslandschaft mit üppigen Mischwäldern, meandernden Bachläufen und satten, grünen Wiesen. Tucker hatte auf unzähligen Reisen fast jeden Winkel der Welt gesehen, aber er kam immer wieder gern nach Hause. Hier war es einfach schön, gleich zu welcher Jahreszeit. Der generell milde Sommer wurde abgelöst von einem farbenfrohen Herbst und dieser von einem schneereichen Winter. Das Frühjahr ließ manchmal zu wünschen übrig, aber selbst Tucker wusste, dass man nicht alles haben kann. Meistens war jedoch auch der Frühling sonnig und blumig bunt.

    Die Villa stand erhöht über dem Dorf am Rand des Waldes. Zwischen den Bäumen war einer von Tuckers Lieblingsplätzen gewesen. Als Kind war er oft allein in den Wald gegangen und hatte dort gespielt. Es fiel nicht schwer, sich dort im Bodennebel zwischen den uralten Bäumen einen Hobbit oder Troll vorzustellen. Manchmal war Tucker Robin Hood, der einer Kutsche in einem der alten Hohlwege auflauerte, oder er war ein Musketier, der eine edle Lady aus den Händen von Straßenräubern befreite. Ja, als Kind hatte er diesen Wald geliebt. Wann war er eigentlich das letzte Mal in seinem Wald spazieren gegangen? Jetzt, im späten Frühjahr waren die Bäume besonders schön.

    Zum zweiten Mal wurde Tucker von Tomáz aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Es war sonst gar nicht seine Art so abzuschweifen. Tucker gab sich Mühe, sich auf Tomáz zu konzentrieren.

    »Haben Sie sich nie gefragt, wie alt dieses Haus wirklich ist?«, fragte Tomáz in diesem Moment.

    »Mein Großvater und mein Vater haben viel im Innenbereich renoviert und erneuert. Ich hatte nie Grund, über das Alter dieses Baus nachzudenken«, wich Tucker aus.

    »Haben Sie sich nie Gedanken über das Mosaik auf dem Boden im Esszimmer gemacht? Oder über die Marmorstatuen in der Vorhalle? Was ist mit den handgemachten Terrakottafliesen auf dem Küchenfußboden, oder den tragenden Steinsäulen vor dem Eingang ...?« Tomáz setzte an, seine Auflistung noch weiter auszuführen, aber Tucker hob abwehrend die Hände.

    »Verstehen Sie doch, ich bin hier aufgewachsen. All diese Dinge, dieses Haus waren stets um mich. Ich habe ihr Alter nie gesehen. Sie sind einfach schon immer da!«, Tucker wurde unruhig. Was wollte dieser Spinner von ihm? Wieso war es ihm so wichtig, wie alt das Gebäude war? Woher wusste er so viele Einzelheiten über das Innere des Hauses?

    »Ich bin nicht ganz sicher, aber ein paar hundert Jahre wird es wohl schon sein«, sagte er vage.

    Tomáz wiegte den Kopf leicht: »Einige Teile Ihres Hauses sind sogar noch älter.«

    »Noch älter! Woher wollen Sie das wissen?«, Tucker merkte, wie seine Unruhe zunahm.

    »Ein paar tausend Jahre würde es eher treffen«, Tomáz drehte sein Weinglas im selben Rhythmus, in dem er seinen Kopf von rechts nach links wippte.

    Tucker lachte unsicher: »Klar, wahrscheinlich erzählen Sie mir als Nächstes, dass es das Wohnhaus Christi war, oder etwas ähnlich Haarsträubendes? «

    »Soweit würde ich nun nicht gehen. « Tomáz grinste. »Vor allem glaube ich nicht, dass Jesus in einer römischen Villa hätte wohnen wollen, oder was meinen Sie? «

    »Langsam ist das hier nicht mehr witzig! Sagen Sie mir, was Sie glauben, mir sagen zu müssen und dann verschwinden Sie!«, fuhr Tucker Tomáz an und verspürte drei Sekunden lang Genugtuung.

    Tomáz seufzte resignierend.

    »Na schön, also, hier die Kurzversion: Dieses Haus stand ursprünglich in einer kleinen, aber wohlhabenden römischen Siedlung im Norden des heutigen Marokko. Das exakte Baujahr ist natürlich nicht mehr nachzuweisen. «

    »Nicht mal für einen Druiden?«, fragte Tucker bissig, nur um sich unter Tomáz‘ vorwurfsvollem Blick sofort wieder wie ein Trottel zu fühlen.

    Tomáz fuhr fort: »Geschätzt wird, dass das ursprüngliche Haus, auf dessen Grundmauern dann noch vier weitere erbaut wurden, von denen dieses schließlich hierher verbracht wurde, um fünfzig nach Christus entstanden ist.«

    Tucker starrte Tomáz mit offenem Mund an.

    »Ihre Villa in ihrem jetzigen Zustand wurde zirka 300 n. Chr. errichtet für den damaligen Wächter des Steins, oder besser als Aufbewahrungsort für den Stein. Die nächsten tausend Jahre war der Stein dort sicher. Über zwanzig Generationen wurde er bewacht, dann kam die Sahara und schluckte die ganze Siedlung. Ihr Haus und mit ihm der Stein verschwanden unter Tonnen von Sand. «

    Tucker, der bis zu diesem Moment mit amüsierter Faszination zugehört hatte, konnte nicht mehr an sich halten.

    »Warum hat der Wächter denn den ominösen, wertvollen Stein im Haus gelassen, als die Wüste kam? Hat sich eine Düne an ihn herangeschlichen und einfach überrumpelt? «

    Wieder erntete er einen missbilligenden Blick von Tomáz und ärgerte sich darüber, dass er sich wie ein Schuljunge fühlte.

    Tomáz antwortete wider Erwarten: »Der damalige Wächter traf die Entscheidung, den Stein im Haus zu lassen. Er ging davon aus, dass er unter dem Sand sicher sei.«

    »Aber dann kam mein Großvater ein halbes Jahrtausend später, buddelte alles wieder aus, verpflanzte das Haus mitsamt Stein 2000 Kilometer weiter nach Norden und seitdem hat die internationale Druidenvereinigung ein Problem?«, witzelte Tucker.

    »Im Ansatz gar nicht so verkehrt«, Tomáz lächelte den völlig verblüfften Tucker an, »aber ganz so einfach war es nicht. Die Wüste zog weiter und die Siedlung kam um 1860 wieder zum Vorschein. Sie war eine Sensation in den archäologischen Kreisen dieser Zeit. Selbst Schliemann war kurzfristig dort. Die Häuser waren teilweise so gut erhalten, dass man direkt hätte einziehen können, was Ihr Großvater im Grunde genommen ja auch getan hat. Damals hielt man es noch nicht so streng mit Dingen, die eigentlich in ein Museum gehören, und was sollte man auch mit so vielen Häusern anfangen. Also verkaufte man Ihrem Großvater die Villa bereitwillig. Viele der anderen Häuser verfielen innerhalb der nächsten fünfzig Jahre oder wurden von den Einheimischen als Baumaterial weiterverwendet und sind heute nur noch geschliffene Mauerreste und Steinmosaike im Sand.« Tomáz schüttelte bedauernd den Kopf. »Von daher sind wir Ihrem Großvater eher dankbar.«

    »Wir?«, hakte Tucker nach.

    »Die internationale Vereinigung der Druiden«, Tomáz grinste übers ganze Gesicht. Im ersten Moment war Tucker zu baff über diesen Beweis von Humor von Seiten des selbst ernannten Druiden, um zu reagieren, aber dann lachte er lauthals. Die Befreiung, die er dadurch empfand, konnte er kaum in Worte fassen. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte Tomáz mit ernstem Gesicht zu ihm. »Wir sind nicht alle Druiden. Einige von uns nannten sich Schamane, Hexer, Seher, Deuter, Zauberer, Wahrsager oder Prophet, und wir sind ausnahmslos Männer. Über die Generationen hat man uns viele Namen gegeben. Gegenseitig nennen wir uns Wächter

    Wenn Tucker geglaubt hatte, bisher seinen Ohren nicht trauen zu können, brachte ihn diese letzte Erklärung Tomáz‘ zu der Überzeugung, wirklich nicht richtig zu hören.

    »Eine sexistische Männervereinigung, die seit mehreren tausend Jahren einen Stein hütet?«

    Er merkte, wie der anfängliche Ärger wieder in ihm aufkam. »Was hatte es mit diesem kuriosen Stein denn auf sich, dass er einen Wächter benötigte?«

    »Benötigt«, berichtigte ihn Tomáz. »Der Stein existiert noch und braucht wieder einen Wächter.«

    »Ah ja, und der sind dann wohl Sie und Sie glauben, der Stein ist noch irgendwo hier im Haus, richtig? Aber da werde ich Sie enttäuschen müssen. Ich kenne dieses Haus, egal wie alt es ist, bis in den letzten Winkel, und hier gibt es keine unentdeckten Geheimverstecke mit Steinen darin, okay?«

    Tomáz sah Tucker verdutzt an. »Ich bin bereits der Wächter eines Steines, ich kann nicht die Verantwortung für einen zweiten Stein übernehmen. Ein Stein kann zwei oder mehr Wächter haben, aber ein einzelner Wächter kann nicht über zwei Steine wachen. Nein, Sie sind der Wächter des Steins, und das schon seit dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren.«

    Diesmal blieb Tucker endgültig die Spucke weg.

    Ω 2 Ω

    Aber ich bin weder ein Druide, noch ein Hexer oder Ähnliches«, Tucker lachte unsicher, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte.

    »Noch nicht«, Tomáz war für Tuckers Geschmack ein wenig zu ernsthaft.

    »In Ordnung.« Tucker gelang es nur mit Mühe, ruhig zu bleiben. »Mal angenommen, es gibt diesen Stein wirklich hier im Haus, weshalb sollte ich sein Wächter sein?«

    Die innere Unruhe und mit ihr die Unaufmerksamkeit kehrte wieder zurück. Tucker ging in Gedanken die letzten drei Jahre durch und suchte nach irgendeinem Stein in seiner jüngsten Vergangenheit. Tomáz erzählte währenddessen etwas von emotionaler Verbundenheit und seelischer Ausgeglichenheit. Tucker konnte nicht folgen und wollte es auch nicht. Ein Wissen, das er nicht ganz zu greifen vermochte, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, hielt seine Aufmerksamkeit gefangen und machte ihn rasend. Er kam einfach nicht darauf. Am liebsten hätte er sich die Haare gerauft.

    Eine Erinnerung stieg in ihm hoch. Und plötzlich war es da, das Begreifen. Tomáz war entweder verstummt, oder Tucker hörte nichts mehr. Aus Gedankenwirbeln tauchte das Bild eines Amuletts auf. Ein altes unansehnliches Ding. Riesengroß, wie ein gedrungenes, nach unten offenes Hufeisen. Nein, wenn er genauer darüber nachdachte, ähnelte es eher dem griechischen Zeichen Omega. Aus irgendeinem minderwertigen Metall, mit leeren runden Löchern über die ganze Form angeordnet. Leer, bis auf eines. Im Zenith, an der höchsten Stelle des Omegas war ein glatter, perfekt kugelförmiger Diamant gefasst. Tucker hatte vor diesem Stein noch nie einen Diamanten in einer solchen Form gesehen. Er sah eher aus wie eine Glasmurmel, da ihm der typische Schliff fehlte, der einen Diamanten zum funkelnden Schmuckstück macht. Er war überaus ungewöhnlich und groß. Tucker erinnerte sich, dass er sich darüber gewundert hatte, warum sein Großvater den wundervollen Stein in dem schäbigen Amulett belassen hatte, statt ihn in Amsterdam schleifen zu lassen. Schließlich hatte er sich nicht weiter Gedanken darüber gemacht. Sein Großvater war für seine Verschrobenheit bekannt, und Tucker hatte schon als Kind aufgehört, seine Beweggründe zu hinterfragen. Insgeheim war er zu dem Schluss gekommen, dass Nifrit Tucker oft gar keinen Grund für sein Handeln hatte, oder wenn doch, nur den, andere damit zu ärgern. Alter macht biestig, zu diesem Ergebnis war er inzwischen noch ein zweites Mal gelangt, nachdem sein Vater sich und vor allem ihn mit seiner Alzheimererkrankung gequält hatte.

    Ein Kratzgeräusch drang bis in Tuckers Bewusstsein vor, und er schüttelte die unangenehmen Erinnerungen ab. Die Hunde waren von ihrer nächtlichen Grundstückpatrouille zurück und standen schwanzwedelnd vor der Glastür. Tucker öffnete ihnen, während seine Überlegungen zu dem Amulett zurückkehrten. Wo war es? Wann hatte er es zum letzten Mal gesehen? Das musste Jahre her sein. Er kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Als er leicht frustriert aufsah, bot sich ihm eine Szene, die einer gewissen Komik nicht entbehrte.

    Tomáz hatte sich bequem in das Ledersofa zurückgelehnt und die Beine, die lang an dem ansonsten gedrungenen Körper wirkten, unter den gläsernen Couchtisch gestreckt. Rechts und links zu seinen Füßen hatten sich die Hunde niedergelassen und himmelten ihn mit heraushängenden Zungen an. Tucker drängte sich das Bild eines englischen Lords auf, der mit seinen treuen Hunden vor dem Kamin sitzt. Nur die qualmende Pfeife fehlte, stattdessen hatte sich Tomáz sein Glas nachgefüllt, wie Tucker überrascht feststellte, und er drehte es langsam zwischen seinen Handflächen. Er sah Tucker mit einem leisen Lächeln an: »Sie erinnern sich.«

    Es war eine Feststellung, keine Frage.

    »Ich bin nicht sicher«

    »Doch, das sind Sie.« Wieder eine Feststellung.

    »Na schön, aber ich weiß nicht, wo der Stein ist.« Tucker wunderte sich, wie viel Bedauern er darüber empfand.

    »Haben Sie schon mal im Safe nachgesehen?« Tomáz lächelte immer noch.

    Tucker hätte alarmiert sein sollen. Woher wusste er vom Safe? Wahrscheinlich ging er davon aus, dass es in einem Haus wie diesem einen Safe geben musste. Schließlich war er sehr wohlhabend. Womöglich war das ganze vorangegangene Gespräch nur eine clevere Finte gewesen, um Tucker einzuwickeln und ihn dazu zu bringen, den Safe zu öffnen. Tomáz war doch nur ein Dieb, wenn auch ein äußerst einfallsreicher. Aber Tucker fühlte sich trotz dieser Überlegungen keineswegs beunruhigt, vielmehr wollte er sofort zum Safe im Schlafzimmer und nachsehen.

    »Gehen Sie ruhig und sehen Sie nach«, sagte Tomáz in diesem Moment, »die Jungs und ich werden hier warten.«

    Die Hunde, die sich sonst sofort an Tuckers Fersen hefteten, wenn er von einem Raum in den anderen ging, hingen mit ihren Blicken noch immer wie gebannt an Tomáz. Tucker verspürte einen eifersüchtigen Stich, ging dann aber willig ins Schlafzimmer.

    Er fand das Amulett in einem einfachen dunkelgrünen Samtbeutel, der mit einem weißen, pulvrigen Kristallstaub gefüllt war. Er hatte über vier Jahre immer wieder an diesem Beutel vorbeigeguckt, obwohl er den Safe, mehr oder weniger regelmäßig, mindestens zweimal im Monat öffnete. Seltsam? Er schloss den altmodischen Zahlenschlosskasten, der anschließend hinter der Wandtäfelung verschwand. Als er sich umdrehte, blieb sein Blick kurz auf dem antiken Tonrelief an der gegenüberliegenden Wand hängen. Zwei Knaben mit lockigem Haar standen dem römischen Göttervater Jupiter gegenüber und sahen ihn herausfordernd an. Das schwere Tonbild wurde von Metallklammern gehalten, die in der Wand verankert waren, und wurde geschickt indirekt von unten beleuchtet. Wie alt es wohl war? Tucker hatte sich darüber tatsächlich noch nie Gedanken gemacht, und ein unbekannter Teil von ihm schämte sich mit einem Mal dafür. Er hasste Ignoranz. Langsam drehte er sich um, ging zur Tür und zurück ins Wohnzimmer.

    Tomáz saß in unveränderter Haltung da, nur sein Weinglas war nicht mehr ganz so voll, und die Hunde waren verschwunden. Tucker konnte sie in der Küche geräuschvoll Wasser trinken hören. Tomáz‘ Blick war auf die griechische Inschrift geheftet, die über dem Durchgang zum Schlafzimmer eingemeißelt war.

    Εξουσία und αδάμαστος stand dort. Tucker drehte sich um und sah ebenfalls nach oben.

    »Wissen Sie, was das bedeutet?«, fragte Tomáz versonnen.

    »Das beschreibt den Größenwahn meines Großvaters. Er hat es über dem Eingang zu seinem ehemaligen Reich eingravieren lassen. Die Übersetzung lautet Allmacht und Unbezwingbarkeit«, antwortete Tucker. Er konnte einen Anflug von Bitterkeit nicht zurückhalten. »Nur noch eine unpassende Geschmacklosigkeit mehr!«

    Am Tisch angelangt, setzte er sich neben Tomáz, etwas, das er nicht einmal bei den wenigen engen Freunden tat, die er hatte. Tucker hatte sonst ein großes Bedürfnis nach Abstand, aber zu Tomáz fühlte er sich regelrecht körperlich hingezogen. Tucker lachte über diese Idee in sich hinein, das änderte aber nichts an der Tatsache. Er schüttelte den Inhalt des kleinen Säckchens auf den Tisch und das Amulett rutschte auf einem Puffer aus Staub fast schwerelos heraus. Tomáz lehnte sich nach vorne und studierte das Objekt eingehend. Er nahm ein wenig Kristallpulver zwischen die Finger und rieb sie aneinander. Er nickte zufrieden. Dann sah er das Omega an.

    »Nicht besonders beeindruckend, was?«, meinte Tomáz. »Aber das war der heilige Gral angeblich am Anfang auch nicht.«

    »Am Anfang?« Tucker spürte, wie die Unruhe, die ihn seit Beginn dieses abstrusen Gesprächs immer wieder erfasste, erneut in ihm hoch kroch.

    »Na, Sie sehen doch wohl auch, dass hier Einiges fehlt, oder?«, Tomáz deutete auf die Löcher. Es waren neun, wie Tucker mit einem Blick feststellte. Nicht sieben, oder dreizehn, nichts Symbolträchtiges, einfach neun Öffnungen von denen acht leer und eine mit einer glänzenden durchsichtigen Kugel gefüllt war.

    »Sie müssen diese Löcher schließen, Señor Tucker. Das ist Ihre Bestimmung«, sagte Tomáz vehement.

    »Ach, und das war‘s schon? Und wo finde ich Ihrer Meinung nach jemanden, der mir aus übergroßen Diamanten die teuersten Murmeln der Welt macht? Gesetzt den Fall, ich finde noch acht weitere Riesenklunker und kann sie dann auch noch bezahlen. Auch meine Möglichkeiten sind begrenzt, wissen Sie. Ich bin reich, aber nicht Krösus.«

    »Nicht Diamanten, Señor Tucker. Sie müssen die fehlenden Steine finden und an ihre Plätze setzen. Ihr Stein ist der erste und der mächtigste. Meiner ist der letzte, aber die anderen sieben Steine müssen wieder gefunden werden.«

    Also doch die Zahl Sieben, dachte Tucker kurz, dann sagte er: »Na, dann geben Sie mir doch schon mal Ihren und dann sehen wir weiter.«

    Tomáz hörte auf zu lächeln. »Ich wache über den letzten Stein. Erst, falls Sie alle anderen Steine wieder finden, kann ich Ihnen meinen Stein geben.«

    Das Wort falls war Tucker nicht entgangen.

    »Ich bin ganz Ihrer Meinung, wenn Sie denken, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen ist«, sagte er zu Tomáz.

    Tomáz nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Nicht alle Wächter sind von der Idee begeistert, dass die Steine wieder vereint werden sollen, Señor Tucker. Schließlich werden diese Steine seit Generationen von ihren Wächtern gehütet. Sie haben Angst, ihre Berufung zu verlieren und sie befürchten, dass wir den Zeitpunkt falsch gewählt haben. Es mag sein, dass sich Ihnen der eine oder andere in den Weg stellen wird.«

    »Wenn Sie wissen, wer die anderen Wächter sind und wo sich die sieben fehlenden Steine befinden, warum erledigen Sie das dann nicht selbst?«, fragte Tucker, obwohl er die Antwort schon erahnte.

    »Ich kenne die anderen Wächter nicht, und ich weiß nicht, wo sich die anderen Steine befinden. Wir kommunizieren seit Beginn der Wacht anonym miteinander, um unseren Auftrag nicht zu gefährden und um keinen von uns in Versuchung zu führen.«

    »Versuchung? Tomáz, die Steine mögen ja einiges Wert sein, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei allen um Edelsteine handelt! Sie sind sicherlich nicht den Aufwand wert, sieben andere Personen zu bestehlen oder womöglich Schlimmeres.« Tucker sah Tomáz kopfschüttelnd an.

    »Der Wert dieser Steine hat nichts mit Geld zu tun, Señor Tucker.«

    »Irgendwie wusste ich, dass Sie das sagen würden«, meinte Tucker. »Und was hat es mit diesen Steinen dann auf sich?«

    »Das werden Sie erfahren, während Sie nach ihnen suchen.«

    »Und warum sollte ich das tun wollen?«, fragte Tucker störrisch.

    »Weil es Ihre Bestimmung ist, Nostradamus Tucker!«

    Tucker ignorierte, dass er mit seinem vollen Vornamen angesprochen wurde, obwohl er das hasste.

    »Na schön, nehmen wir einmal für einen Moment an, dass ich tatsächlich derjenige bin, der auf die Suche nach diesen Steinen gehen muss. Wie soll ich das Ihrer Meinung nach anfangen?« Tucker hob die Hände in Hilfe suchender Geste. »Wofür halten Sie mich denn, Tomáz? Für einen Verschnitt aus Indiana Jones und James Bond? Ich muss Sie enttäuschen. Ich bin weder ein athletischer Archäologieprofessor, noch ein smarter britischer Geheimagent.«

    Tomáz sah ihn lächelnd an. »Niemand hat gesagt, dass Sie die Steine allein finden sollen.«

    Ω 3 Ω

    Kassandra Rudolph lag nach einem extrem langen Tag in der Badewanne mit einem Glas eiskalten Apfelsaft auf dem Wannenrand und einem schnulzigen, halb durchweichten Liebesroman in der linken Hand. Der Schaum der Badelotion schwamm in dicken Flocken auf dem heißen Wasser. Ihre Haut hatte einen fast krebsroten Ton. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, und die Enden der Strähnen baumelten in die Wanne und kräuselten sich. Ihr Kopf ruhte auf einer Nackenstütze und auf ihrem schmalen Gesicht mit den grauen Augen lag ein entrücktes Lächeln. Auf ihrer hohen Stirn standen Schweißperlen. In dem kleinen Bad waberte heißer Nebel und der große Ganzkörperspiegel war komplett beschlagen.

    Kassandra ging es richtig gut. Dieses Vollbad einmal die Woche war ihr kleiner Urlaub in einem sonst vom Stress regierten Leben und die Kitschromane eine Flucht aus der Realität, die sie normalerweise schätzte. Niemals hätte sie irgendjemandem gegenüber zugegeben, Groschenromane zu lesen. Eigentlich war es ihr peinlich, aber sie waren, wie ihre Vorliebe für Science-Fiction, ein Überbleibsel aus ihrer Teenagerzeit. Sie gehörten seit dieser Phase hormoneller Verwirrung zu ihrem Vollbad wie der eisgekühlte Saft. Die Geschichten waren immer wieder die gleichen: Frau sucht und findet Mann, oder umgekehrt, sie werden glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Einfaches Strickmuster mit Erfolgsgarantie. Kassandra liebte es, wieder und wieder in die Rolle der schmachtenden Liebenden zu schlüpfen und sich ihren Ritter in glänzender Rüstung vorzustellen. Meistens kehrte sie erst wieder in die Wirklichkeit zurück, wenn ihr Badewasser so kalt war, dass sie zu frieren begann. Auf diese Weise hatte sie sich schon unzählige Erkältungen geholt, aber von ihrer Badegewohnheit wollte sie nicht lassen.

    Das Telefon klingelte. Kassandra warf einen Blick auf den Radiowecker über dem Waschbecken. 23:47 Uhr. Anrufe aus dem Büro bis zehn Uhr abends waren durchaus keine Seltenheit, aber um fast zehn vor zwölf? Mit einem resignierten Seufzer legte Kassandra das zerfledderte Paperback auf die Seite und stemmte sich aus der Wanne hoch. Dabei stieß sie das Saftglas von der Kante. Erschrocken sog sie die Luft ein, als das Glas auch schon auf den siebziger Jahre Fliesen zersplitterte und sich sein Inhalt über den Boden ergoss.

    Na perfekt, dachte Kassandra und stieg vorsichtig über die Splitter hinweg. Nicht vorsichtig genug. Auf halbem Weg zur Tür trat sie mit dem linken Fuß in eine kleine Glasscherbe. »Aua! Verdammt!« Unflätige Flüche von sich gebend, hüpfte Kassandra nackt und tropfend, auf einem Bein ins dunkle Wohnzimmer. Auf ihrem hoppelnden Zickzackkurs stieß sie sich den großen Zeh des unverletzten Fußes an einer Stehlampe. Neue Schmerzenslaute und noch wütendere Flüche waren das Ergebnis. Als sie endlich das Telefon erreichte und gerade nach dem Mobilteil griff, hörte es auf zu klingeln. Einen Moment lang starrte Kassandra den Hörer an, dann griff sie zu und pfefferte ihn mit einem frustrierten Aufschrei quer durch den Raum auf das Sofa gegenüber. Sie ließ sich auf den großen Ohrensessel fallen, der neben der Telefonbasis stand. Die Fernsehfernbedienung bohrte sich ihr schmerzhaft in den nackten Po. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Kassandra zerrte die Fernbedienung mit einem schmatzenden Geräusch unter sich hervor und schrie das Hassobjekt aus Leibeskräften an.

    Nachdem sie sich wieder unter Kontrolle hatte, und die unbändige Wut verraucht war, stand sie auf. Sie machte das Licht an und ging ins Bad zurück, um sich ein Handtuch zu holen. Dabei hinterließ sie feuchte, blutige Fußabdrücke auf dem cremefarbenen Wohnzimmerteppich und den Fliesen.

    Klasse! Auch das noch! dachte Kassandra. Sie trocknete sich schnell ab und unterzog dann die Schnittwunde am Fuß einer kurzen Untersuchung. Nichts, was ein bisschen Jod und ein Pflaster nicht beheben würde. Kassandra war generell nicht besonders wehleidig. Sie machte sich mehr Gedanken um ihren Teppich. Sie verarztete die Wunde, zog sich einen unförmigen Bademantel über und ging dann in die Küche, um den Besen und eine Rolle Küchenpapier zu holen. Sie sah auf die Uhr. 00:01. Gott sei Dank ist dieser Tag vorbei, dachte sie bei sich und ging zurück ins Bad, um aufzukehren.

    Das Telefon klingelte erneut. Kassandra fuhr herum, flitzte quer durch den Raum, am Sessel vorbei und griff ins Leere. Vom Sofa her kam das durch ein Kissen gedämpfte Klingeln zum zweiten Mal. Sie sprang geschickt über den kleinen Beistelltisch und begann in den Kissen zu wühlen. Beim vierten Klingeln hielt sie den Apparat triumphierend in der rechten Hand und drückte mit dem Daumen auf den Antwortknopf. Ein wenig außer Atem schnappte sie in den Hörer: »Rudolphs hier.«

    »Sandy«, sagte eine sonore, Kassandra wohl bekannte Stimme. »Packen Sie ein paar Sachen. Nur leichtes Gepäck. Ich lasse Sie in einer Stunde abholen. Sie fliegen nach Deutschland.«

    Kassandra stand wie vom Donner gerührt mit dem Telefon am Ohr da, starrte auf die Blutflecken auf dem Teppich und war momentan zu keinem klaren Gedanken fähig.

    »Sandy? Sind Sie noch dran?«, fragte der Anrufer.

    »Ja, Sir, ja!«, stotterte Kassandra mit einiger Verzögerung.

    »Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Habe ich Sie geweckt, sind Sie noch nicht ganz wach?« Der Mann am anderen Ende klang eher entnervt als bedauernd.

    »Nein, Sir, nein!«, Kassandra hörte sich an wie eine zurechtgewiesene Soldatin in der Grundausbildung. »Entschuldigen Sie, ich hatte nur nicht damit gerechnet ...« Ja womit eigentlich? » ... heute noch ins Ausland zu fliegen, Sir.« Das war sicherlich die Untertreibung des Jahres. Kassandra war noch nie beruflich ins Ausland geflogen, nach Europa schon gar nicht. Ebenso, wie sie noch nie mitten in der Nacht vom Boss ihres Vorgesetzten angerufen worden war. Sie war noch nie von ihm angerufen worden.

    Eine Menge nie auf einem Haufen! dachte sie verstört.

    Kassandra wusste nicht einmal, dass Harold Grandmoor ihren Namen kannte. Aber offensichtlich kannte er ihn, zusammen mit ihrer Telefonnummer und höchstwahrscheinlich allem anderen, was es über sie zu wissen gab. Was ihrer Meinung nach nicht sehr viel war.

    Kassandra war die zweite von drei Töchtern eines Metzgers aus Detroit, der sich nichts sehnlicher als einen Sohn gewünscht hatte. Sie hatte sich zu Hause immer im Hintergrund gehalten, um möglichst wenig aufzufallen. Die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu ziehen, führte nur zu Ärger. Einer sehr unangenehmen Art von Ärger.

    Ihre Mutter Pythia war ihrem Mann nicht gewachsen und versuchte auch gar nicht, die drei Mädchen vor ihrem Vater zu beschützen. Das lag hauptsächlich daran, dass sie als Afroamerikanerin nicht den Mut hatte, ihrem weißen Mann Paroli zu bieten. Die Konstellation einer gemischtrassigen Ehe war in den Siebzigern ungewöhnlich genug. Es hagelte regelmäßig Schläge und das, was ihr Vater für liebevolle Zuwendung hielt, hätte Kassandra gern ausgelassen. Am liebsten wäre sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens unsichtbar gewesen. Sie hatte sich auf die Schule konzentriert. Das Lernen lenkte sie von ihrem lieblosen Familienleben ab und verschaffte ihr Erfolgserlebnisse. Sie beendete die High School als eine der zwanzig Besten und bekam ein Stipendium für Minderheiten an der Big Rapids University im Staat New York. Keine der berühmten Hochschulen wie Harvard, Stanford oder das MIT, aber immerhin mit einer renommierten Fakultät für Chemie. Kassandra schrieb sich für dieses Fach ein und machte vier Jahre später einen unspektakulären Abschluss. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über Gesteinskunde und war dankbar, als man ihr anbot am Institut für Petrologie, Mineralogie und Kristallographie zu bleiben, um in den verschiedenen Abteilungen mitzuarbeiten. Das war vier Jahre her.

    Kassandra war jetzt 29 und man hatte ihr endlich ein eigenes Forschungsprojekt in Aussicht gestellt. Das erste Mal sollte sie keine Assistentin sein, sondern die Leiterin eines eigenen Projekts.

    Und jetzt schickte sie der leitende Direktor der Universität nach Europa.

    Ω 4 Ω

    Tucker legte den Hörer zurück auf die Gabel des antiquarischen Telefons. Es hatte ein kleines Vermögen gekostet, den Apparat aus dem 19. Jahrhundert mit dem neuesten technischen Standard ausrüsten zu lassen. Billiger wäre es gewesen, einfach ein Telefon im Retro Look in irgendeinem Elektromarkt zu kaufen. Tucker aber hatte partout dieses Telefon haben wollen, gleich als er es zum ersten Mal auf einem Flohmarkt in Südfrankreich entdeckt hatte. Das war damals auch sofort dem Verkäufer aufgefallen, und Tucker hatte einen horrenden Preis für das alte Ding bezahlt. Vielleicht habe ich doch ein bisschen Verschrobenheit von Großvater geerbt, dachte er und drehte sich zu Tomáz herum.

    »Der Mineraloge ist auf dem Weg hierher. Er wird heute Vormittag ankommen.«

    »Sehr gut«, nickte Tomáz zufrieden, »Sie werden ihn sicher brauchen, um die Steine zu finden.«

    »Das sagten Sie bereits mehrmals.«, murrte Tucker, während er an Tomáz vorbei die Küche ansteuerte. »Wie wäre es mit etwas zu essen und ein paar mehr Informationen, während wir warten?«

    In den letzten zehn Stunden waren sich Tucker und Tomáz auf eine seltsame Art und Weise näher gekommen. Tucker war von den Eröffnungen, die Tomáz ihm gemacht hatte, anfänglich amüsiert, dann fasziniert und schließlich erschreckt gewesen. Inzwischen hatte dieses Erschrecken einem dumpfen Gefühl der Überforderung Platz gemacht, das ihn unwirsch und aggressiv reagieren ließ. Allerdings war er mittlerweile auch extrem müde und er hatte Hunger, was durchaus zu seinem Missmut beisteuern mochte.

    Es war kurz nach sechs Uhr früh. Der Gesteinswissenschaftler würde gegen Mittag eintreffen. Genug Zeit für einen Snack und vielleicht ein paar Stunden Schlaf.

    Tomáz folgte Tucker weiterhin nickend in die Küche. »Gute Idee. Haben Sie noch eine Flasche von dem leckeren Tinto?«

    »Wie können Sie jetzt nur ans Saufen denken?« Tucker war gereizt. »Ich brauche Sie bei klarem Verstand, wenn das, was Sie mir da weismachen wollen, auch nur im Ansatz gelingen soll.«

    Tucker durchwühlte den Kühlschrank, der von einem Lieferservice zweimal die Woche mit den ausgesuchtesten Leckereien aufgefüllt wurde. Er förderte ein Glas mit italienischen Antipasti und eine kleine Keramikschale mit Entenleberparfait zu Tage. Er stellte beides auf ein Tablett. Im Brottopf auf der Anrichte fand er ein fast frisches französisches Stangenweißbrot. Er griff sich das Brotmesser und rückte dem Baguette zu Leibe. Mit aggressiven kurzen Schnitten zerteilte er es in dicke Scheiben und legte sie in einen Korb. Er drückte Tomáz zwei Teller, Gläser und Besteck in die Hand, klemmte sich eine Flasche Mineralwasser unter den Arm und nahm sich das Tablett. Tucker bedeutete dem Spanier mit dem Kopf, ihm ins Wohnzimmer zu folgen.

    Tomáz bedachte das Mineralwasser mit einem enttäuschten Blick, während er Tucker hinterherging.

    »Lassen Sie mich das Ganze noch einmal rekapitulieren« Tucker stellte das Essen auf dem Tisch ab. »Es gibt also insgesamt neun Steine, von denen meiner der erste ist, richtig?«

    Tomáz nickte nur, da Tucker ihn nicht einmal ansah und die Frage rein rhetorisch gewesen war.

    »Sie erwarten von mir, dass ich die anderen acht Steine, von denen Sie einen haben, finde, sie ihren Wächtern wegnehme und in dem Amulett meines Großvaters fassen lasse? «

    »Sie müssen in der richtigen Reihenfolge in das Amulett eingesetzt werden«, erinnerte Tomáz Tucker.

    »Ah, ja, richtig. Aber das muss warten, bis Sie mir am Ende den letzten Stein bringen.«

    Tomáz zuckte mit den Schultern, während er sich ein Stück Brot dick mit Parfait bestrich und herzhaft hinein biss.

    »Und die Steine sind über den ganzen Globus verteilt, nicht wahr?«, Tucker sah Tomáz aus zu Schlitzen verengten Augen an.

    »Nein, alle Steine befinden sich im alten Reich, also in Europa«, sagte der mit vollem Mund.

    »So, na ja, das grenzt die Suche ja enorm ein!«, meinte Tucker sarkastisch, »und mein Vater wusste angeblich über all diesen Schwachsinn Bescheid? Warum hat er mir dann nichts von dieser, meiner Bestimmung gesagt?«

    »Er hat es vergessen«, erwiderte Tomáz kauend.

    »Wie kann man etwas derartig Wichtiges vergessen?« Tucker spielte den Entsetzten.

    »Señor Tucker, Ihr Vater konnte sich am Ende nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern oder daran, jemals einen Sohn gehabt zu haben. Selbst wenn er sich an den Stein erinnert hätte, warum hätte er Ihnen davon erzählen sollen? Er kannte Sie ja nicht einmal. «

    Tomáz Worte trafen Tucker wie ein Peitschenhieb. Die Wahrheit schmerzte. Sein Vater und er hatten nie eine sonderlich herzliche Beziehung geführt. Selbst wenn die Krankheit sein Gehirn nicht zerstört hätte, war Tucker nicht sicher, ob sein Vater ein solches Geheimnis mit ihm geteilt hätte. Immer vorausgesetzt, Tomáz erzählte ihm die Wahrheit. Ein klitzekleiner Teil von ihm wehrte sich noch immer gegen das Unvermeidliche.

    Tucker nahm seinen roten Faden wieder auf: »Okay, mein Vater wusste also Bescheid und wollte die Suche selbst durchführen, deshalb hat er auch auf seine alten Tage Mineralogie studiert, aber dann kam ihm seine Krankheit dazwischen. Und ich dachte, das sei nur wieder eine typisch Tuckersche Schnapsidee.«

    Tomáz schmierte sich ein weiteres Brot und trank verdrießlich ein Glas Wasser dazu.

    Tucker fuhr fort. »Und jetzt sind Sie hier, um mich dazu zu bringen, mein Erbe anzutreten. Eine europaweite Schnitzeljagd nach ein paar uralten Murmeln. Bis hierhin alles korrekt?«

    »Im Großen und Ganzen ja«, nuschelte Tomáz um einen großen Bissen Brot herum.

    »Und jetzt die große Preisfrage«, Tucker parodierte einen Talk Show Moderator: »Wozu das alles? Was wird passieren, wenn ich das Amulett wieder vervollständige? Warum? Weshalb? Wieso?«

    Tomáz schluckte geräuschvoll. »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.«

    »Können oder wollen Sie nicht?«, Tucker merkte, wie der Ärger wieder an Boden gewann.

    »Ich kann nicht, weil ich es nicht weiß. Es gibt einige Theorien unter uns Wächtern, aber keine davon ist fundiert. Ich weiß nur, dass die Wiedervereinigung der Steine wichtig für die gesamte Menschheit ist. Es wird Auswirkungen in ungekanntem Maße haben.«

    »Na, jetzt übertreiben Sie aber! « Tucker beruhigte sich wieder, setzte sich in den Sessel und griff nach dem Brot und den Resten des Leberaufstrichs. Während er sich mehrere Scheiben bestrich, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin. Nachdem er den ersten Bissen genommen hatte und merkte, wie hungrig er war, galt seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Teller vor sich. Innerhalb von zehn Minuten hatte Tucker nur noch leere Behältnisse vor sich stehen. Er fühlte sich erheblich besser.

    Er wandte sich wieder Tomáz zu und begann, weitere gezielte Fragen zu stellen. Auf die meisten erhielt er keine Antwort.

    Ω 5 Ω

    In aller Eile zog sich Kassandra an und stopfte einige Kleidungsstücke und einen kleinen Kulturbeutel mit Zahnbürste, Kamm und anderen Utensilien in eine Reisetasche. Ihr Fuß hatte angefangen wehzutun, und ein leises Pochen machte sich in der Sohle bemerkbar. Kassandra versuchte, es zu ignorieren.

    Um 0:43 saß sie auf dem Rücksitz eines dunkelblauen Lincoln neuesten Modells und war auf dem Weg zum Newark International Airport. Neben ihr saß Harold Grandmoors persönlicher Assistent Gavin Weeler und gab ihr Instruktionen. Soweit sie es bisher verstanden hatte, war der Leiter der Universität um kurz vor 23:00 Uhr vom Sohn eines ehemaligen Absolventen, der das Institut in großem Umfang mit Spenden bedachte, angerufen worden. Er hatte umgehend einen Mineralogen ersten Ranges angefordert und damit gedroht, ansonsten sämtliche Zuwendungen ersatzlos zu streichen.

    »Eine nette Art, mit seiner Alma Mater umzugehen«, Kassandra mochte den Kerl schon jetzt nicht.

    »Im Grunde genommen hat sein Vater, Dionisos Tucker, ein Amerikaner, dessen Familie nach Europa ausgewandert ist, einen Abschluss in Gesteinskunde bei uns erworben. Er war damals bereits Ende fünfzig und er hat die Kurse per Internet belegt«, erklärte Weeler.

    »Ich wusste gar nicht, dass das geht«, Kassandra war überrascht.

    »Es gibt wenig, was mit genügend Geld nicht geht, Sandy. Sie werden in Kürze sehen, was ich meine.«

    »Wofür werde ich denn in Deutschland benötigt? «

    »Ich weiß nur, dass es sich um ein längerfristiges Projekt handelt. Vor Ort wird man Ihnen sicher mehr sagen.«

    Kassandra, die sich bis eben noch geschmeichelt gefühlt hatte, dass man sie für eine Mineralogin ersten Ranges hielt, fragte sich jetzt, ob man sie vielleicht nur deshalb ausgewählt hatte, weil das Institut nicht sicher war, wie lange der reiche Knallkopf einen ihrer Leute mit Beschlag belegen würde.

    »Ich habe aber nur für ein paar Tage gepackt«, sagte sie lahm.

    »Für passende Garderobe ist bereits gesorgt. Am Flughafen in Frankfurt wird man Ihnen einen Extrakoffer übergeben«, zerstreute Weeler ihre Bedenken.

    Inzwischen näherten sie sich dem Flughafen und Weeler bedeutete dem Fahrer rechts abzubiegen. Das Fahrzeug fuhr auf eine schlecht beleuchtete, aber neu geteerte, breite Zufahrtsstraße. Nach etwa fünfhundert Metern kamen sie an eine geschlossene Schranke. Weeler ließ die getönte Scheibe herunter und rief etwas in die Dunkelheit. Ein dunkelhäutiger Mann mit Schirmmütze und Maschinenpistole tauchte wie aus dem Nichts vor dem offenen Fenster auf und erschreckte Kassandra fast zu Tode. Sie fuhr entsetzt in ihren Sitz zurück und hätte sich am liebsten darin verkrochen. Der Bewaffnete grinste sie schadenfroh an. Zwei Goldzähne blitzten ihr entgegen. Weeler nannte ihre Namen, der Posten öffnete und ließ sie passieren. Eine Minute später kamen sie an eine zweite Schranke. Das gleiche Prozedere wiederholte sich. Sie fuhren noch zwei bis drei weitere Meilen, schätzte Kassandra, bevor der Lincoln auf eine breite, aber auch völlig im Dunkeln liegende Startbahn abbog. Rechts und links war ein gutes Stück entfernt als Schemen die umliegende Landschaft im Mondlicht zu erkennen. Das Auto glitt fast lautlos über glatten Asphalt.

    »Ich wünschte, die Straßen um meinen Wohnblock hätten diese Qualität«, scherzte Kassandra, obwohl sie sich von Minute zu Minute unbehaglicher fühlte. Wo war der Flughafen, der Check-in Schalter, die Passkontrolle, das Boarding Gate? Sie war noch nicht allzu oft in ihrem Leben geflogen, aber es war klar, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Plötzlich sah sie durch die Frontscheibe vor sich das Flugzeug auftauchen. Es kam ihr sonderbar bekannt vor. Als das Unglaubliche bis zu ihrem Verstand vorgedrungen war, entfuhr ihr ein gepresstes Stöhnen.

    »Das ist ja die Concorde«, flüsterte sie. »Aber das ist unmöglich, die Maschinen sind doch schon vor mehreren Jahren aus dem Verkehr gezogen worden. Die Concorde fliegt nicht mehr. Sie ist nur noch im Museum zu besichtigen.«

    Weeler nickte erst, dann schüttelte er den Kopf. »Glauben Sie wirklich, dass sich die Schönen und die Reichen einfach so eines ihrer vielgeliebten Privilegien nehmen lassen? Ich sagte doch, es gibt nicht viel, das man mit genug Geld nicht bekommen kann.«

    Inzwischen hatte die dunkelblaue Limousine neben der Einstiegstreppe gehalten. Kassandra saß wie versteinert auf ihrem Sitz und konnte die Augen nicht von dem Flugzeug losreißen.

    »Na kommen Sie, Sandy, man wartet schon auf Sie«, hörte sie Weeler dicht neben sich. Er war inzwischen ausgestiegen, hatte das Auto umrundet und ihr die Tür geöffnet. Nichts von alledem hatte Kassandra bemerkt. Weeler streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Wie in Trance ergriff Kassandra sie und ließ sich aus dem Fond helfen. Weeler hatte, ebenfalls unbemerkt, bereits ihre kleine Reisetasche aus dem Kofferraum genommen und drückte sie ihr jetzt in die Arme. Kassandra klammerte sich daran wie eine Ertrinkende. Ihre Augen waren groß wie die eines Kindes am Weihnachtstag und glitten gebannt über die schlanke Silhouette der Concorde. Im hell erleuchteten Einstieg winkte eine Gestalt ungeduldig.

    »Alles in Ordnung?«, fragte Weeler besorgt.

    Kassandra gab sich einen Ruck und drehte sich zu Weeler um. Er lächelte ihr aufmunternd zu.

    »Nein, das kann ich eigentlich nicht behaupten«, sagte sie ehrlich. »Da soll ich wirklich einsteigen?«

    »Ja, und möglichst zügig, die anderen Fluggäste warten immerhin schon eine Stunde Ihretwegen«, Weeler lachte fast.

    »Dann bin ich nicht die einzige Passagierin?« Kassandra wusste nicht genau, warum sie davon ausgegangen war, allein in diesem riesigen Überschallflieger zu sein.

    »Aber nein, so exklusiv ist ihr zukünftiger Arbeitgeber auch wieder nicht. Das ist der reguläre illegale Mitternachtsflug von Newark nach Frankfurt«, jetzt lachte Weeler wirklich.

    Kassandra konnte sich gut vorstellen, was für ein dummes Gesicht sie gerade machte. Immerhin gewann sie langsam ihre Fassung wieder. Sie nahm sich ein Herz, krallte sich noch ein bisschen fester an ihre Reisetasche und setzte sich in Richtung Treppe in Bewegung.

    »Also dann ...«, sagte sie halblaut zu sich selbst.

    »Guten Flug!«, wünschte Weeler.

    »Danke!«

    Am Fuß der Stiege angekommen, drehte sie sich noch einmal kurz um. Weeler zog gerade die Beifahrertür des Lincoln zu. Dann verschwand das Auto in der Richtung, aus der sie gekommen waren.

    Kassandra fühlte sich unwirklich.

    Von oben rief eine Frauenstimme mit britischem Akzent: »Darf ich Sie bitten, an Bord zu kommen. Wir haben bereits eine gute Stunde Verspätung!«

    Offensichtlich wird auch bei illegalen Flügen Wert auf Pünktlichkeit gelegt, dachte Kassandra und kletterte die Treppe hinauf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ein kalter Wind blies und sie erbärmlich fror.

    Außer ihr waren noch vier weitere Passagiere an Bord, die sie alle unverhohlen feindselig ansahen. Sie kannte keinen von ihnen. Halb hatte sie erwartet, auf irgendwelche Prominente zu stoßen, aber sie wurde enttäuscht. Ihr wurde ein Sessel, den sie sich weitaus komfortabler vorgestellt hatte, zugewiesen und man bat sie, sich anzuschnallen. Überhaupt war die Concorde von innen fast beklemmend eng im Vergleich zu einem großen Passagierflugzeug.

    Eine Rakete mit Sitzen, dachte Kassandra beunruhigt, als die Maschine mit einem Ruckeln zu rollen anfing.

    »Na endlich!«, murmelte ein älterer Herr mit grau meliertem Haar in einem teuer aussehenden Dreiteiler. Selbst die baumelnde Taschenuhrkette fehlte nicht. Kassandra musste an den weißen Hasen aus Alice im Wunderland denken und grinste den Mann an. Sie erntete nur einen missmutigen Blick.

    Das Flugzeug gewann schnell an Geschwindigkeit. Die Dunkelheit raste zu beiden Seiten an den Fenstern vorbei. Dann kam das magensenkende Gefühl des Abhebens und Kassandra sandte ein Stoßgebet gen Himmel.

    Von hier an war der Flug nur ein normaler Flug. Kassandra konnte nicht sagen, ob und wann sie Schallgeschwindigkeit erreichten. Wäre die lächerlich schmale und fast leere Kabine nicht gewesen, Kassandra hätte auch auf jedem beliebigen Linienflug sein können. Nicht zu lange nach dem Start brachte eine Flugbegleiterin in einem eleganten blauen Kostüm und mit einem kleinen Barett auf dem Kopf Getränke und einen Imbiss in Form von Lachshäppchen. Kassandra erkannte in ihr die Frau, die vom Einstieg her nach ihr gerufen hatte. Sie bedankte sich höflich für ihr Glas Champagner und entschuldigte sich für die durch sie entstandene Verzögerung. Die Flugbegleiterin sah sie etwas konsterniert an und versicherte ihr dann in reinstem Oxford Englisch, dass sie die verlorene Zeit wieder aufholen würden. Kassandra wurde blass vor Schreck.

    »Eine ganze Stunde?«, fragte sie.

    »Vielleicht nicht die volle Stunde«, gab die Engländerin zu, »aber viel Verspätung werden wir nicht haben. Wir wollen ja schließlich beizeiten landen.«

    Die restlichen dreieinhalb Stunden des Fluges verbrachte Kassandra damit, die Lehne des Sitzes vor sich anzustarren und sich an ihrem Glas festzuhalten, das in regelmäßigen Abständen von der immer lächelnden Flugbegleiterin nachgefüllt wurde. Nach der Hälfte der Flugzeit hatte Kassandra bereits mehr als einen kleinen Schwips, dafür aber das unangenehme Pochen in ihrer Fußsohle vergessen.

    Ω 6 Ω

    Am Frankfurter Flughafen wiederholte sich das Szenario des Abflugs fast exakt in umgekehrter Reihenfolge. Landung um 10:36 Ortszeit im Blindflug in dichtem Nebel auf einer abgelegenen Landebahn, Abholung durch eine ebenfalls dunkelblaue Limousine, diesmal der Marke Audi, und das Passieren zweier bewachter Schranken, ohne Passkontrolle. Dann fuhr der Wagen mit unbekanntem Ziel auf die Autobahn Richtung Süden. Während der Fahrt fragte sich Kassandra ein ums andere Mal, wie es möglich war, dass ein Flugzeug wie die Concorde unbemerkt auf dem verkehrsreichsten europäischen Flughafen landen konnte und sei es mitten im dicksten Nebel. Sie wusste wenig über die deutsche Regierung, aber wenn sie nur im Ansatz so korruptionsanfällig war, wie die amerikanische, konnte sie sich durchaus vorstellen, dass der Staat an diesen irregulären Flügen auch noch Geld verdiente. Warum noch kein Journalist diese Story aufgedeckt hatte, oder irgendeine Bürgervereinigung, blieb ihr jedoch ein Rätsel.

    Ihre eigene, durchaus beängstigende Situation wurde ihr mit jedem Kilometer, den sie sich vom Flughafen entfernten, mehr und mehr bewusst. Wo war sie hier nur hineingeraten?

    Bereits nach zwanzig Minuten fuhren sie von der Autobahn ab und der große Audi schlängelte sich durch ein üppiges Waldgebiet die Berge hinauf. Kassandra war froh, die Autobahn verlassen zu haben. Die deutsche Reisegeschwindigkeit von Autos wich von der amerikanischen in erschreckendem Maße ab. Der Audi war mit rund 250 km/h auf der linken Fahrspur dahingesaust. Kassandra hatte zwar davon gehört, dass serienmäßig gebaute Fahrzeuge ein solches Tempo erreichen konnten, hatte es aber noch nie selbst erlebt. Sie legte auch keinen Wert auf eine Wiederholung. Immer wieder waren vor ihnen andere Autos aufgetaucht, die wie von Geisterhand im letzten Moment Platz machten, wenn sie herangerauscht kamen. Der deutsche Fahrstil war definitiv nicht ihre Sache.

    Den Nebel hatten sie hinter sich im Tal gelassen. Hier oben war der Himmel strahlend blau. Das Wetter hätte nicht besser sein können. Kassandra kurbelte das Seitenfenster herunter und wunderte sich kurz darüber, dass ein Auto dieses Kalibers hinten keine elektrischen Fensterheber hatte. Sie hielt die Nase in den Fahrtwind und genoss die frische Luft. Das klärte ihren Kopf ein wenig. Wenigstens hatte sie keinen Brummschädel, dafür war der Champagner wohl zu exklusiv gewesen. Der Audi bog von der breiten Landstraße ab auf eine sehr viel engere Straße ohne Seitenstreifen. Einen Mittelstreifen gab es auch nicht und bis zu dem Moment, in dem ihnen ein Lastwagen entgegenkam, war Kassandra davon ausgegangen, dass es sich um eine Einbahnstraße handelte. Der riesige Audi wich dem Laster, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, mit einem Geschick aus, das Kassandra den Atem stocken ließ.

    Fahren können die hier, das muss man ihnen lassen! dachte sie und schaute verstohlen ihren hünenhaften Chauffeur an. Der Mann sah genauso aus, wie sich ein Amerikaner einen Deutschen vorstellte. Groß, breitschultrig, mit grobschlächtigem Gesicht und vor allem blond. Der Mann saß gelassen, aber in untadeliger Haltung hinter dem Steuer des Wagens. Er hatte während der gesamten Fahrt kein Wort gesprochen. Die einzigen Sätze, die sie gewechselt hatten, waren auf dem Flugfeld gewesen, als er sie gefragt hatte, ob er ihre Reisetasche in den Kofferraum packen solle, oder ob sie sie mit auf den Rücksitz nehmen wolle. Sein Englisch hatte einen starken Akzent, war aber ansonsten gut verständlich. Kassandra hatte ihm gesagt, er solle sich keine Mühe machen, und seither herrschte Schweigen zwischen ihnen. Kassandra war auch nicht in der Verfassung, irgendwelche Fragen zu stellen. Sie war noch immer stark beschwipst und rügte sich in Gedanken: Einen schönen Eindruck werde ich machen. Besoffen zum ersten Treffen mit dem neuen Boss. Na prima!

    Der Wagen wurde langsamer und Kassandra sah aus dem Fenster. Sie kamen in eine kleine Ortschaft und das Auto fuhr die vorgeschriebenen 50 km/h. Zum ersten Mal, seit sie in den Wagen gestiegen war, fühlte sie sich wohl. Diese Geschwindigkeit war schon eher nach ihrem Geschmack. Am Ende des kleinen Dorfes setzte der Chauffeur den linken Blinker und fuhr von der Straße ab. Sie krochen im Schritttempo ein kurzes Stück sandsteinfarben gepflasterte Einfahrt hinauf und kamen dann vor einem großen schmiedeeisernen Tor zum Halten. Das vordere Seitenfenster glitt herab und der Fahrer tippte eine Zahlenfolge in ein Keypad in Augenhöhe. Das Tor öffnete sich mit leichtem Quietschen. Sie rollten hindurch und Kassandra hatte freien Blick auf ein riesiges, eingezäuntes Areal. Das ansteigende Grundstück bestand hauptsächlich aus sauber gemähtem Rasen, durch den sich die gepflasterte Zufahrt zog. Am höchsten Punkt, direkt vor dem Waldrand stand eine Villa, die Kassandra in Beverly Hills oder in Florida erwartet hätte, aber nicht hier in Deutschland.

    So eine Geschmacksverirrung kann nur einem Amerikaner unterlaufen, dachte sie peinlich berührt.

    Der Audi hielt vor dem Haupteingang und der Chauffeur beeilte sich, Kassandra zuvorzukommen. Er konnte die Tür gerade noch rechtzeitig von außen öffnen, bevor sie es selbst tat. Sie stieg aus, das Auto fuhr davon, und sie stand einen Moment verloren da. Sollte sie zur Tür gehen und klingeln oder hier warten? Kassandra war zu keinem klaren Gedanken im Stande. Sie wurde der Entscheidung enthoben, als sich die Tür öffnete und ein Mann mit weit ausholenden Schritten regelrecht auf sie zugestürmt kam.

    »Doktor Rudolphs?«, fragte der heranpreschende Mann ungehalten.

    Kassandra unterzog den Fragenden einer kurzen Begutachtung: mittelgroß, gut gebaut, kurze, wellige braune Haare, ovales, leicht gebräuntes Gesicht, Adlernase unter klaren braunen Augen. Insgesamt eine angenehme Erscheinung.

    »Ja«, Kassandra lächelte, obwohl sie sich durch die Art, wie der Mann auf sie zukam, eingeschüchtert fühlte.

    »Sie sind eine Frau!« Er blieb vor ihr stehen, stemmte die Hände in die Hüften und sah vorwurfsvoll auf sie herab.

    Kassandra glotzte ihn an. »Ja«, war alles, was ihr einfiel.

    Der Mann schnüffelte in der Luft. »Haben Sie getrunken?«

    Kassandra lief dunkelrot an. »Ja, ich ....«

    »Ich hätte Grandmoor vielleicht dazu sagen sollen, dass ich einen männlichen Antialkoholiker als Unterstützung wünsche, was? «, Der Mann blickte arrogant über seine geschwungene Nase hinweg.

    Kassandra wäre am liebsten im Boden versunken, und der Kerl legte noch mal nach.

    »Sie zurückzuschicken und Ersatz anzufordern, dafür fehlt uns leider die Zeit, also kommen Sie rein. «

    Er machte auf dem Absatz kehrt und fegte in Richtung Haustür davon. Kassandra schulterte ihre Reisetasche und schlich wie ein geprügelter Hund hinter ihm her.

    »Nun machen Sie schon«, rief es von der Tür her.

    Kassandra hatte sich oft schon für ihre mangelnde Schlagfertigkeit verflucht, aber noch nie so sehr wie heute. Ein leichter Ärger rührte sich in ihrer Magengegend. Was bildete sich dieser frauenfeindliche Kerl überhaupt ein? Egal in welchem Zustand sie sich befand, er hatte kein Recht, sie so zu behandeln. Er hatte sich nicht mal vorgestellt, obwohl ziemlich klar war, dass es sich bei ihm um ihren neuen Arbeitgeber handelte. Er hatte sämtliche Regeln der Höflichkeit verletzt, die angeblich in Europa so hoch gehalten wurden. Kein Händeschütteln, kein Guten Tag, sie schleppte ihr Gepäck selbst, und er stand drängelnd mit dem Fuß wippend an der Haustür. Bis sie bei ihm angelangt war, hatte sie ihre Fassung zurückgewonnen und blitzte ihren Gastgeber, sofern man ihn so nennen wollte, giftig an. Der hatte nichts Besseres zu tun, als die schwere Eingangstür in dem Moment loszulassen, als sie hindurchgehen wollte. Kassandra fing sie schmerzhaft mit der Hüfte ab, um sich dann mit ihrem Gepäck hindurchzuquetschen. Der Mann vor ihr verschwand durch die Vorhalle in einem der angrenzenden Räume. Sie lief wütend hinterher.

    Im Wohnzimmer war die Reise vorerst zu Ende. Kassandra ging mit steifen Beinen bis zum Sofa warf ihre Tasche auf einen der Sessel und spießte den Urheber ihres Ärgers mit Blicken auf.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung und drehte sich halb herum. Ein Mann im Vogelkostüm kam auf sie zu und reichte ihr eine faltige, braune Hand.

    »Encantada, Señorita«, begrüßte er sie auf Spanisch und deutete eine Verbeugung an. Kassandra war dankbar für dieses bisschen Freundlichkeit, »Mein Name ist Tomáz de Piedra, und Señor Tucker haben Sie ja bereits kennengelernt«, fuhr der Vogelmann in exzellentem Englisch fort, deutete auf Tucker und lächelte.

    Auch Tucker erinnerte sich seiner Umgangsformen und streckte Kassandra widerwillig die Hand entgegen. »N. D. Tucker«, stellte er sich kurz angebunden vor.

    »Andy?«, fragte Kassandra

    »Nein, N. D., es sind meine Initialen, aber ich wäre ihnen dankbar, wenn sie mich einfach Tucker nennen, Dr. Rudolphs.«

    »Sandy, bitte!«, Kassandra bemerkte mit Erleichterung, dass sich die Atmosphäre etwas entspannte. Trotzdem ignorierte Tucker ihr Angebot, sie mit dem Vornamen anzusprechen.

    »Können wir jetzt zum geschäftlichen Teil kommen?«, fragte er.

    Kassandra hätte sich lieber erst ein wenig ausgeruht, und sie verspürte große Lust auf ein kaltes Glas Wasser, aber sie wagte nicht, darum zu bitten. Tucker interpretierte ihr Schweigen als Zustimmung und sagte: »Ich habe Unterstützung durch eine Fachkraft angefordert, um eine Suchexpedition durchführen zu können. Wir werden uns auf die Suche nach ganz bestimmten Edelsteinen machen, und ich brauche Sie, um mir zu helfen, die Steine zu identifizieren und einzuordnen. «

    Bisher verstand Kassandra nur Bahnhof.

    »Ich soll Sie also auf einer Reise begleiten? Wohin?«, fragte sie mit großen Augen.

    »Lassen Sie mich bitte ausreden und stellen Sie Ihre Fragen hinterher«, fuhr Tucker ihr über den Mund.

    Die zweite Zurechtweisung innerhalb von fünf Minuten. Kassandra merkte, wie ihr Ärger wuchs. Schließlich war sie keine kleine Studentin mehr, sondern eine promovierte Wissenschaftlerin. Solch ein unhöflicher, taktloser Mensch war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht untergekommen. Abgesehen von ihrem Vater vielleicht. Und was hatte N. D. Tucker außer seinem Geld vorzuweisen? Einen Titel offensichtlich nicht, es sei denn, er verzichtete aus Bescheidenheit darauf, sich mit Herr Doktor ansprechen zu lassen. Kassandra bezweifelte allerdings, dass Bescheidenheit zu Tuckers Tugenden zählte. Sie hatte bisher noch keine einzige positive Charaktereigenschaft an ihm ausmachen können. Selten war ihr ein Mensch auf Anhieb so unsympathisch gewesen.

    Tucker machte weitere Ausführungen: »Wir werden einige Zeit in den unterschiedlichsten Klimazonen unterwegs sein. Packen Sie also entsprechend.«

    Erst jetzt fiel Kassandra auf, dass der versprochene, gepackte Koffer nicht am Flughafen auf sie gewartet hatte. Alles, was sie an Kleidung dabei hatte, waren zwei paar Jeans, mehrere Paar Strümpfe und Unterwäsche, drei labberige Sweatshirts und eine weiße Bluse. Angezogen war sie mit einem hellgrünen Kostüm mit halblangem Rock, das trotz des Fluges und der Autofahrt immer noch tadellos saß. Sie hatte einen guten Eindruck machen wollen. Tucker hatte das schicke Teil nicht einmal bemerkt.

    Genauso gut könnte ich einen Sack tragen, dachte Kassandra, Wahrscheinlich wäre ihm das sogar lieber.

    »Und nehmen sie sich genügend Hygieneartikel und Schmerzmittel mit. Ich habe keine Lust, mir

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