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Die Legende von Steinwart Wurzelknopf
Die Legende von Steinwart Wurzelknopf
Die Legende von Steinwart Wurzelknopf
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Die Legende von Steinwart Wurzelknopf

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About this ebook

Herausgerissen aus einem Dasein voller Frieden und mit bekannten Wegen wird Steinwart vor die Wahl gestellt. Sich entweder der Aufgabe zu stellen, die für ihn vorgesehen ist oder wegzuschauen und die aufziehenden dunklen Wolken zu ignorieren. Er entscheidet sich für seine Aufgabe und mit seinen Gefährten tritt er eine Reise an, die ihn bis an seine eigenen Grenzen führen wird. Auf der er aber auch viel Neues über Vertrauen, bedingungslose Freundschaft und Liebe erfährt.
Nicht für jeden aus der Gemeinschaft hat das Schicksal eine Rückkehr vorgesehen. Am Ende zählt nur noch der persönliche Einsatz, den sie bereit sind zu geben, um nicht zu scheitern.

Wie hättest du gehandelt?

Folge Steinwart, Hyazintha und ihren Freunden auf einer Reise, die das Vorstellbare sprengt. Und von der niemand weiß, was am Ende bleibt.
Werden die Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein? Oder ist alles vom Beginn an zum Scheitern verurteilt?

Tauche ein in Steinwarts Leben - und lausche der Legende.
LanguageDeutsch
Release dateJun 11, 2014
ISBN9783863321369
Die Legende von Steinwart Wurzelknopf

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    Die Legende von Steinwart Wurzelknopf - Henry Wimmer

    Henry Wimmer

    Die Legende

    von

    Steinwart Wurzelknopf

    Die alte Eiche

    Kennst du das Geräusch, wenn der Regen sanft auf ein Blätterdach fällt? Wenn die staubgeladene Luft mit einem Mal diesen ganz besonderen Duft hat? Wenn Regentropfen groß und schwer an der Spitze der Blätter hängen, sich immer länger strecken, als wollten sie niemals loslassen und dann mit einem fast hörbaren Plopp auf das nächste Blatt fallen?

    Wenn sich dann die Wolken verziehen und während der letzten fallenden Tropfen ein Regenbogen ganz weit in der Ferne erscheint, dann überzieht ein Strahlen dein Gesicht. Und du meinst, du müsstest nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Doch je weiter du auf ihn zugehst, desto weiter entfernt er sich von dir. Aber die Freude, wenn sich die Farben in den Regentropfen zeichnen, die bleibt.

    Und manchmal fällt dann ein vorwitziger Sonnenstrahl so in einen dieser Regentropfen, dass er abgelenkt wird und auf jemanden trifft, ihn an der Nase kitzelt, und ...

    … aber damit sind wir schon in meiner Geschichte. Und vorgreifen will ich nicht ...

    Es war einer dieser Morgen nach einer heißen Nacht, die gar keine Abkühlung bringen wollte. Die ganze Nacht hatte Steinwart Wurzelknopf sich in seinem Bett aus Farn hin und her gewälzt und so gar nicht gewusst, was denn nun der Anlass für seine Schlaflosigkeit war. Hatte ihm die schwüle und heiße Nacht den Schlaf geraubt, war es das letzte Pfeifchen mit starkem Tabak am Abend gewesen? Oder vielleicht doch seine wunden Schienbeine, die über und über mit blauen Flecken übersät waren. Und während er noch seinen Gedanken nachhing, da traf eben dieser Sonnenstrahl von dem ich gerade erzählt hatte auf seine Nase, kitzelte ihn und löste einen dermaßen gewaltigen Nieser aus, dass der Blättervorhang aufflog und sein Weib Hyazintha ganz erschrocken ihren Kopf ins Schlafgemach steckte, um nachzusehen, ob etwas passiert war. Sie sah so erschrocken aus, dass Steinwart lachen musste. «Liebes Weib, es ist alles in Ordnung. Die Sonne wollte mir nur eben bedeuten, dass es Zeit sei für alte Zwerge das Bett zu verlassen!» Und murmelte zu sich selbst: «Auch wenn mir das von Tag zu Tag schwerer fällt.» Und damit schwang er seine Beine aus dem Bett, machte sich frisch und schlurfte humpelnd an den Frühstückstisch. «Alterchen, mach nicht so ein mürrisches Gesicht. Dein Tagwerk wartet nicht. Also, auf jetzt und deine Beine werde ich gleich noch einmal einreiben. Ich habe da ein neues Mittel von unserer Kräuterkundigen bekommen …»

    Steinwart hörte ihr schon gar nicht mehr zu, denn im Grunde seines Herzens war er ein arger Morgenmuffel und freute sich schon auf die Ruhe und die Dunkelheit seiner unteririschen Höhle, in der er Tag für Tag seiner Arbeit nachging und Erzadern freilegte. Wenn das Licht seiner Grubenlampe auf die schimmernden Flüsse im Gestein fiel und Quarze oder auch edlere Metalle zeigte, dann war es für ihn das höchste Glück.

    Aber in der letzten Zeit fiel es ihm immer schwerer, den Weg zu seiner Grube oder auch zurückzugehen. Denn an dem Weg stand eine uralte Eiche. Die grüßte er jeden Tag, wie eigentlich alle Bäume und alle Lebewesen. Denn er wusste, dass sie beide nur zusammen existieren konnten. Und er war sich immer sicher gewesen, dass sich die mächtige Krone bei seinem Gruß kurz geneigt hatte, um auch ihm einen schönen Tag zu wünschen. Doch seit mehreren Tagen konnte er nicht mehr an der Eiche vorbei, ohne dass sie ihm mit einer ihrer zahlreichen Wurzeln ein Bein stellte. Egal was er auch versuchte, eine der Wurzeln schlang sich um seine Füße und brachte ihn zum Stolpern. Kein Wunder, dass seine Schienbeine grün und blau waren. Aber warum das alles? Er war sich keiner Schuld bewusst. Und während er sein letztes Tässchen Holunderblütentee für diesen Morgen trank und sich eine Pfeife stopfte beschloss er, an diesem Morgen der Sache auf den Grund zu gehen und seinen geliebten Berg heute ausnahmsweise zu vernachlässigen.

    Er küsste seine Hyazintha unbeholfen auf die Nase (denn solche Liebesbezeugungen liegen alten Zwergen gar nicht), nahm sein Bündel, welches sie ihm gepackt hatte und machte sich auf den Weg. Und er war gar nicht weit gegangen, als er die alte Eiche schon erreicht hatte. In gebührender Entfernung setzte er sich auf einen Baumstumpf und betrachtete den alten Baum. Wie friedlich er doch aussah. Die letzten Tropfen des morgendlichen Regens verdampften auf seinen Blättern und er betrachtete das Leben im Baum. Raupen, die sich über den Stamm und über die Blätter bewegten, Schmetterlinge, Vögel in ihrem Nest und alles strahlte Frieden aus. Und trotzdem, irgendetwas war dort und brachte eine Störung in das empfindliche Gleichgewicht. Wenn er es doch nur erkennen könnte.

    Steinwart stand auf. «Liebe Eiche. Du kannst zwar nicht reden. Aber wenn du ein Problem hast und meine Aufmerksamkeit auf dich ziehen wolltest, dann ist dir das gelungen. Gib mir ein Zeichen. Was ist dein Problem?» Immer näher ging er auf den Baum zu und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Unter dem Waldboden bemerkte er ein Zucken, ein Strecken, Bewegung und Veränderung. Er spürte die ersten Wurzeln, die nach seinen Füßen griffen und plötzlich … ja, plötzlich bemerkte er, wie er in den Boden einsank. Erschrocken wollte er nach etwas greifen um den Fall aufzuhalten. Fall? Nein, es war ein sanftes Gleiten. Vom Wurzelgeflecht getragen wurde er sanft nach unten befördert und sein Herzklopfen ließ nach, als er merkte, dass die Eiche ihm nichts Böses wollte. Nach wenigen Augenblicken wurde er gestoppt und die Wurzeln zogen sich von ihm zurück. Verwirrt sah er sich um. Jedoch, die Dunkelheit um ihn schien undurchdringbar.

    «Ich Idiot», murmelte er und kramte seine Grubenlampe aus seinem Arbeitsbündel. Warum auch immer, er hatte sie, Macht der Gewohnheit eben, mitgenommen. Als das warme Licht aus der Lampe erstrahlte, nahm er seine Umgebung in Augenschein. Erst wollte ihm nichts auffallen, das dort nicht hingehörte. Ich weiß, euch als Baumkundigen wäre es sofort aufgefallen. Aber ihr dürft nicht vergessen, dass Steinwart Wurzelknopf ein Bergkundiger und kein Baumkundiger war. Lasst mich jedoch weiter erzählen. Er wollte sich schon resignierend abwenden und versuchen wieder ans Tageslicht zu kommen, da sah er aus den Augenwinkeln etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Es sah aus wie seine Grubenlampe, nur war das, was er dort sah ungleich viel älter. Vorsichtig zog er es aus dem Wurzelgeflecht hervor und erkannte eine uralte Karaffe, schimmernd unter all dem Schmutz der Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte, der sich darauf angesammelt hatte. Als er die Karaffe bewegte, bemerkte er ein leichtes Gluckern, als ob sie mit einer Flüssigkeit gefüllt sei.

    «Ich nehme sie mit», sprach er leise zu sich. Aber die Eiche schien ihn gehört zu haben und es war ihm als vernehme er einen Seufzer der Erleichterung. Als habe diese Karaffe dem alten Baum lange Zeit auf der Seele gelegen. Denn auch Bäume haben eine Seele, damit ihr das wisst. Im gleichen Moment trug ihn das Wurzelwerk auch schon wieder nach oben und ließ ihn im selben Augenblick wieder unbehelligt seiner Wege ziehen.

    Von weitem hörte Hyazintha ihn schon rufen. «Weib, Weib, schau was ich gefunden habe!» Keuchend und völlig ausser Atem (denn Zwerge rennen sonst eigentlich fast nie), kam Steinwart nach Hause und stellte die Karaffe auf den Tisch.

    «Mann», fauchte seine Zwergenfrau ihn an. «Siehst du nicht, was du mir für einen Schmutz ins Haus bringst? Typisch Mann. Alles mitnehmen, was man so findet. Ich kann ja sehen, wie ich damit klarkomme. Habe ja nichts anderes zu tun, als zu fegen und zu putzen, während mein Gemahl sich tief im Berg herumtreibt», zeterte sie. Steinwart hielt dazu den Mund. Denn er wusste, dass es gar keinen Sinn machte, ihr Widerworte zu geben. Und während sie noch schimpfte, nahm auch in ihr die Neugier überhand, denn Zwergenfrauen sind noch viel neugieriger als Zwergenmänner.

    Vorsichtig nahm sie die Karaffe in die Hand und drehte und wendete sie. Doch ein rechter Sinn des Gefäßes wollte sich auch ihr nicht erschließen. Also begann sie die Lampe zu putzen und schon bei den ersten Bemühungen, machte sich ein Schriftzug sichtbar. Nun können Zwerge zwar lesen, aber fremde Sprachen beherrschen sie nicht. Das, was sich dort auftat, war eindeutig eine fremde Sprache. Geschwungene und bildhafte Schriftzeichen zeigten sich, die aber überhaupt keinen Sinn ergeben wollten. Die beiden sahen sich an und wie aus einem Mund stießen sie «Meister Dachs» hervor. Ja, Meister Dachs würde wissen, was es mit den Zeichen auf sich haben könnte.

    Meister Dachs

    Meister Dachs war der in Ehren ergraute weise Ratgeber des Tier- und Zwergenvolkes im Eichenhain. Er hatte bereits Generationen von Jungspunden Lebensweisheiten mit auf den Weg gegeben und Hyazintha erinnerte sich noch sehr gut an ihre ersten Schultage und die strenge aber auch gütige Art des Lehrers.

    Nur, in ihrem jetzigen Aufzug wollte sie Meister Dachs nicht unter die Augen treten. Schließlich weiß man als Zwergin von Welt, was sich gehört. So verschwand sie in ihrem Zimmer, um ihr Sonntagskleid anzuziehen, um ihre Haare zu bürsten und um all das zu tun, von dem jede Frau meint, dass es absolut notwendig ist, um sich zu zeigen. Steinwart verdrehte die Augen. Er wusste schon genau, dass er sich auf eine längere Wartezeit einzurichten hatte. So nahm er in seinem Lieblingssessel Platz, griff sich erneut die Karaffe um sie näher zu untersuchen und während er die seltsamen Zeichen mit zusammengekniffenen Augen betrachtete (Zwerge sind extrem kurzsichtig), merkte er, dass er müde wurde. «Steinwart», hörte er eine Stimme. «Steinwart, hör mir zu!»

    Der Zwerg runzelte die Stirn. Es war eine ihm unbekannte Sprache, ein Säuseln, ein Wispern, ein Rauschen, wie von hunderten Blättern im Frühlingswind. Und dennoch verstand er jedes Wort. Wie konnte das nur sein?

    «Was willst du von mir?», fragte er vorsichtig, «und vor allem, wer bist du?»

    «Ach Steinwart, du kennst mich. Ich bin nicht eine einzige Person. Die Bäume rund um dich, das Moos unter deinen Füßen, die Felsen und der Sand, den Jahrhunderte der Erosion geschaffen haben, das Laub, welches im Herbst von den Bäumen fällt. All das bin ich und noch vieles mehr. Immer habe ich mir selbst zu helfen gewusst. Die Natur war stark. Doch seit die Menschen immer mehr Einfluss nehmen und mir zu Leibe rücken, wird es immer schwieriger für mich. Und jetzt brauche ich Hilfe, speziell deine Hilfe. Denn der Eichenhain ist krank. Sehr krank. Hast du die Zeichen denn nicht gesehen?» Natürlich hatte Steinwart die Veränderungen bemerkt, immer mehr Bäume mit kränklichen Blättern, Bäume, die im Herbst ihre Blätter abgeworfen hatten, aber im Frühling kein neues Laub mehr austrieben. Doch was hatte es ihn gekümmert? Er war ein Mann der Steine. Sollten sich andere darum kümmern. Was scherte es ihn? Doch jetzt, unter den prüfenden Worten einer allumfassenden aber Hilfe suchenden Macht, kam er sich so unendlich klein vor und am liebsten wäre er vor Scham im Erdboden versunken.

    «Aber was kann ich tun und warum gerade ich», fragte er frei heraus. Nicht, dass er die Hilfe abgelehnt hätte, aber ihm war nicht bewusst, wie er helfen konnte und was zu tun sein würde. «Steinwart, zu gegebener Zeit wirst du erkennen, warum es gerade dich getroffen hat. Jedoch jetzt bin ich müde. So viele Jahre und soviel Zerstörung und Verfall lasten auf mir.» Die Stimme, das Wispern wurde immer leiser und in den letzten zu verstehenden Äußerungen erkannte der Zwerg eine verschlüsselte Botschaft:

    Wenn die letzte Eiche ihr Haupt neigt im Eichenhain, dann ist es an der Zeit, das Leben dorthin zu tragen, wo es geschützt ist und sich erneut frei entfalten kann. Mannigfache Gefahren sind zu überstehen. Doch der eine Auserwählte hat die Kraft und die Macht, seine Aufgabe zu erfüllen. Versagt er jedoch, gibt es keine Zukunft mehr.

    Steinwart spürte ein sanftes Rütteln an seiner Schulter und schob verwirrt die Augenlider auf. Er war tatsächlich eingeschlafen. Jetzt stand sein Weib im prächtigsten Ausgehkleid vor ihm. «Steinwart, hast du nichts anderes zu tun, als zu schlafen?», fragte sie und machte sich bereits zur Türe auf. Die Karaffe hatte sie in große Blätter eingewickelt, um sich nicht zu beschmutzen.

    «Ja, ich komme gleich», antwortete ihr Mann und fragte sich, ob er das Gespräch nur geträumt hatte, oder ob es tatsächlich erfolgt war. Aber erst einmal war die Schrift zu entziffern. Alles andere würde sich ergeben, da war er sich ganz sicher. So stemmte er sich aus seinem Sessel hoch und folgte seiner Hyazintha auf dem Fuße.

    Finstere Gedanken

    Finstere Gedanken, tief im Schoß der Erde. Bosheit, erwachsen aus Jahrhunderten der Einsamkeit. Mit jedem Atemzug ein Verströmen von Kälte, von grenzenlosem Hass, auf alles was sich bewegt. Aber auch tief in sich die Gewissheit, dass das, auf das er schon so lange gewartet hat, nicht mehr lange und freiwillig zu ihm gebracht werden wird. Und wenn er auch das Lachen in der alles verschlingenden Dunkelheit schon vor ewigen Zeiten verlernt hat, entweicht seinem weit geöffneten Mund ein Grollen. So tief und so unsagbar böse, dass die Wesen, welche diese Welt der Schwärze mit Leben erfüllen, für einen Moment innehalten und sich zitternd aneinander drängen … Oh ja, die Zeit des Wartens wird bald vorbei sein.

    Erneut begann es leicht zu regnen als Steinwart seinen Fuß vor die Tür setzte. Sein Weib war schon ein ganzes Stück voraus gegangen und hin und wieder konnte er einen Zipfel ihres gelben Sommerkleides zwischen den Büschen aufleuchten sehen. Welch ein verregneter Sommer in diesem Jahr. Die Sonne ließ sich nur selten sehen. So, als ob sie sagen wollte: Sehet her und gewöhnt euch daran. So wird es sein, wenn die Dunkelheit die Herrschaft übernimmt. So und noch viel schlimmer.

    Steinwart schüttelte den Kopf. Woher kamen diese trüben Gedanken? Wurde es Zeit für ihn sich auszuruhen? Kamen diese Gedanken aus der Erschöpfung, die immer mehr Besitz von ihm ergriff? Er hatte es Hyazintha noch nicht gesagt, was ihn so sehr bedrückte in der letzten Zeit. Je tiefer er in die Erde vordrang und je mehr Stollen er anlegte, desto mehr nahm Platzangst in ihm überhand. Ha, wer hätte schon jemals davon gehört, dass ein Zwerg Platzangst gehabt hätte? Aber es war nicht nur das. Auch andere Ängste entstanden in ihm. Immer häufiger sah er sich über die Schultern während der Arbeit. Das Gefühl beobachtet zu werden, ließ ihm kalte Schauer über den Rücken laufen. Wenn das Licht erlosch, was hin und wieder vorkam, hätte er sich am liebsten irgendwo verkrochen. Er hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit sich bewegte, sich zu einem Wesen verdichtete und Schatten im Schatten bildete, weil es schwärzer als die dunkelste Nacht war. Und wenn er dann die Laterne wieder zum Leuchten gebracht hatte, sah er sich gehetzt um. Doch da war nichts, alles eine Ausgeburt seiner Phantasie. Kopfschüttelnd erwachte Steinwart aus seiner Lethargie und erkannte, dass er trotz des Versinkens in seine Gedanken den richtigen Weg gegangen war. Seine Frau stand schon vor der Haustür von Meister Dachs und winkte voller Ungeduld.

    Als er neben ihr stand, wollte er schon an die Türe klopfen, da wurde sie von innen geöffnet und der Meister steckte seinen Kopf zur Tür hinaus. «Ich habe doch richtig gehört», sprach er und blinzelte heftig, denn in seiner Zerstreuung hatte er wieder einmal seine Brille verlegt. Aber erkannt hatte er seinen Besuch dennoch augenblicklich. «Steinwart und Hyazintha. Welch eine unerwartete Freude. Was führt euch zu mir? Aber was rede ich denn hier an der Haustüre?» Verlegen räusperte er sich, wobei seine ergrauten Barthaare so sehr zitterten, dass der Zwerg und seine Frau schmunzeln mussten. «Kommt doch herein. Bei diesem Regen spricht es sich doch viel gemütlicher in einem trauten Heim bei einer Tasse Tee.» Und so trat er zur Seite und ließ seinen überraschenden Besuch ein.

    Sofort wurde Hyazintha durch den vertrauten Geruch nach heißem Tee, nach Tafelkreide und nach dem Pfeifentabak des alten Lehrers in ihre Schulzeit zurückversetzt. Oh, wie sie diese Zeit genossen hatte. Und als sie die Regale an den Wänden sah, mit der Unmenge an ledergebundenen Büchern, traten ihr die Tränen in die Augen. Wie hatte sie diese Bücher geliebt. Leider hatte ihr Mann damit gar nichts am Hut und in ihrer Behausung fand sich kein einziges Stück an geschriebenem Wort. So etwas sei unnütz sprach Steinwart immer wieder, wenn sie ihn darauf ansprach und es gebe genug Bücher, die darüber hinaus nur geschaffen seien, um Gedanken der Leser zu vergiften. Nein, ein Buch komme ihm niemals ins Haus.

    Als könne der Dachs ihre Gedanken lesen, trat er an ihre Seite, legte ihr eine Pfote auf die Schulter und reichte ihr ein Taschentuch, um ihre Tränen abwischen zu können. Verlegen nahm Hyazintha es an und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. «Danke», sagte sie und begrüßte ihren alten Lehrer aufs herzlichste.

    «Meine Lieben, was führt euch zu mir?», fragte er und bot ihnen einen Platz in seinem Arbeitszimmer an, welches mit Büchern und alten Karten schier überquoll. Bald stand ein dampfender Tee vor den Dreien. Und während draußen der Regen immer heftiger wurde, begann es drinnen immer dunkler zu werden. Verstohlen und mit aufgerichteten Nackenhaaren sah Steinwart sich um und begann zu sprechen ...

    Stimme in der Dunkelheit

    Tja, Meister Dachs. Mir ist etwas Seltsames passiert.» Steinwart erzählte, was ihm am Morgen widerfahren war. Er beobachtete dabei Meister Dachs und versuchte in seinen Augen abzulesen, ob er ihn wohl für verrückt ansehen würde. Doch alles, was er sah, war der interessierte Blick und so fuhr er in seiner Erzählung fort: «Ich wollte schon versuchen, wieder nach oben zu klettern, als ich ein Schimmern sah und diese Karaffe dabei fand.» Der Zwerg kramte sie bei diesen Worten umständlich aus den großen Blättern, in die seine Frau das Gefäß eingewickelt hatte.

    «Lass sie mich sehen», sprach der alte Lehrer und Steinwart reichte ihm die Karaffe. Irgendwie war er dabei froh, sie loszuwerden und aufatmend dachte er bei sich, wie schön es wäre, wenn dies alles nicht ihm, sondern irgendjemand anderem passiert wäre. Meister Dachs schob seine Brille auf die Nasenspitze und betrachtete das Gefäß prüfend von allen Seiten, wischte hier und rieb da – und schüttelte für den ersten Moment resignierend den Kopf. «Es ist gut, dass ihr zu mir gekommen seid. Aber Hilfe bin ich euch für den Moment auch nicht. Ja, manche Zeichen kommen mir wohl bekannt vor. Doch es ist eine Sprache, die auch ich nicht so ohne weiteres zu entziffern mag.»

    Steinwart sog die Luft geräuschvoll ein. Sollte es tatsächlich etwas geben, das selbst dem alten und weisen Dachs so fremd war?

    «Ich sehe an deinen Augen, was du denkst, lieber Steinwart. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Hyazintha, wärest du so lieb und würdest uns noch einen Tee machen. Steinwart und ich werden derweil schauen, was uns noch auf die Sprünge helfen könnte.» Mit diesen Worten stand er auf und winkte dem Zwerg, mit ihm zu kommen.

    «Sieh her, das ist alles, was ich in vielen Jahren an lehrreichen Werken aus der Menschenwelt sammeln konnte», zeigte er auf die Wände voller Bücher in seiner Bibliothek. «Und ich bin mir sicher, dass wir etwas finden werden, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Bist du auch meiner Meinung?», fragte er verschmitzt und grinste dabei in sich hinein, Steinwarts Abneigung gegen das geschriebene Wort sehr wohl kennend.

    «Wenn ihr meint, Meister Dachs», erhielt er kurz angebunden zur Antwort. Aber da merkte er auch schon, wie der Lehrer sich in die ersten Schriftstücke vertiefte. Irgendwie kam Steinwart sich in diesem Augenblick verloren vor. Er sah nach einem Sitzmöbel, aber da er keines fand, nahm er vorsichtig auf einem Bücherstapel Platz. Und im nächsten Moment versank er wieder tief in einem Grad zwischen Wachen und Traum und alles was er hörte, war wieder diese Stimme, die ihn säuselnd rief: «Steinwart, nur du alleine hörst mich. Hört auf in diesen Büchern zu suchen. Dort werdet ihr die Lösung nicht finden. Es ist keine Sprache, die seit Menschengedenken geschrieben, geschweige denn gesprochen wurde. Vor Äonen bereits, als die Welt noch jung war, war diese Sprache schon dem Vergessen anheim gefallen. Doch ich kann dir helfen. Denn in meinem Auftrag wurde gezeichnet auf dieser Karaffe, was sich nun als deine Aufgabe enthüllen soll.»

    «Aber was ..., ich verstehe nicht …!»

    «Beruhige dich Steinwart, bald wirst du verstehen. Wenn du gleich aus deiner Trance erwachst, so gebe ich dir die Fähigkeit zu begreifen, was auf diesem Gefäß niedergelegt ist und was sich darin befindet. Habe keine Angst. Ich bin bei dir.»

    Im nächsten Moment kam Steinwart voller Verwirrung zu sich. Niemand hatte gemerkt, was mit oder in ihm vorgegangen war. Meister Dachs wühlte noch murmelnd und zu sich selbst sprechend in allen möglichen Schriften. Und Hyazintha betrat soeben die Bibliothek mit dampfendem Tee.

    «Ich hatte einen Traum, Meister Dachs», stammelte Steinwart und spürte sogleich den überraschten und ratlosen Blick seines Gegenübers auf sich ruhen. «Ich träumte, dass man mir den Schlüssel zur Entzifferung des Rätsels gab.» Er glaubte es selbst nicht, nahm jedoch die Karaffe an sich … und verstand.

    Was in dieser Karaffe ist, soll dereinst retten, was von zerstörerischer Hand verwüstet wird. Ich, der ich diese Worte schreibe, am Anbeginn der Zeiten, weiß, dass es einmal notwendig wird, diesen Schritt zu gehen. Daher fange ich in diesem Gefäß den Extrakt aus den Seelen der Bäume, der Sträucher, der Blumen, der Gräser, ja der Natur an sich ein. Und derjenige, der als würdig erkannt wird, diese Aufgabe zu erfüllen, wird diese Karaffe eines fernen Tages in das Land tragen, tief versteckt im Schoße der Erde. Auf dass dort erneut ins Leben gerufen werden kann, was hier ohne Not zerstört wird. Doch einsamer Wanderer, sieh dich vor. Es gibt Kräfte, die verhindern wollen, dass du dieses Land erreichst. Sie sind gefährlich und dunkel und voller Bosheit. Gierig, dieses Leben in ihre Klauen zu bekommen. Weil sie sich dadurch selbst aus ihrem Schattendasein befreien können. Und sollte das eintreten, ist es um die Welt, wie ihr sie jetzt kennt, geschehen.

    Verwirrt sah Steinwart auf, nicht glaubend, dass er selbst diese Worte gesprochen hatte. Meister Dachs runzelte die Stirn und Hyazintha war blass geworden und stand zitternd mit ihrem Tablett immer noch in der Türe. Sie zitterte so sehr, dass die Tassen klirrend gegeneinander stießen.

    «Komm her, ich nehme dir das Tablett ab», ging Meister Dachs zu ihr und an Steinwart gewandt sprach er: «Unheilvolle Worte, die wir da hören müssen. Und dennoch glaube ich dir und weiß, dass du die Wahrheit sprichst. Doch bevor wir uns näher mit dem Wie, Warum und Wann beschäftigen werden, müssen wir den Großen Rat einberufen. So lange bleibt ihr bei mir, denn ich befürchte Steinwart, du bist – nein, wir sind ob dieses Wissens bereits in Gefahr.»

    Während er das sagte, erloschen plötzlich alle Kerzen im Raum und urplötzlich war es stockfinster, obwohl die Sonne noch hoch stand. Erschrocken fuhren die drei zusammen, als sie eine Stimme, kalt wie Eis, vernahmen ...

    Angst

    Mit der aufkommenden unnatürlichen Dunkelheit begann rund um die Gefährten ein Glitzern einzusetzen und ein Geräusch, als ob irgendwo Dampf entweichen würde. Meister Dachs, der als erster die Fassung wiederfand, bemerkte verwirrt, dass sich rings um sie ein leichter Eispanzer über all seine Einrichtungsgegenstände zog. Egal, ob Bücher, Glaskolben, ob Möbel oder Kleidung. Alles glitzerte wie mit Raureif überzogen. Und auch er selbst spürte, wie ihm die Kälte in die Gelenke zog und sich langsam aber stetig von seinen Füßen aufwärts arbeitete. Und er wusste plötzlich mit erschreckender Klarheit, sollte diese Kälte sein Herz erreichen, wäre es um ihn geschehen. Einem Impuls folgend, versuchte er sich zum Feuer hinzuwenden. Doch auch die Flammen züngelte nur bläulich und ohne Kraft.

    Als er ein Klappern hörte, welches er nicht einzuordnen wusste, denn auch seine Gedanken flossen nur noch träge, wie von der Kälte erstickt, drehte er sich zu Hyazintha und Steinwart um – und sah, dass die Zwergenfrau, erdrückt von einer Mischung aus Angst und Eis mit den Zähnen aufeinander schlug und nicht fähig war, sich auch nur einen Schritt zu bewegen.

    Auch Steinwart stand regungslos dort. Doch in diesem Moment begann sich eine kondensierte Atemwolke vor seinem Mund zu bilden, die allerdings immer wieder unterbrochen wurde. Teils atmete Steinwart hektisch aus. Dann war es Meister Dachs wieder, als sammele sich der Zwerg innerlich, um mit aller Kraft gegen etwas anzukämpfen, das Besitz von ihm ergreifen wollte.

    «Ihr Narren!», stieß Steinwart plötzlich aus. Und doch – die Worte flossen zwar aus dem Mund des Zwerges, aber es war nicht seine Stimme, die an ihre Ohren drang.

    «Was glaubt ihr, wer ihr seid? Euer jämmerliches bisschen Leben ist nichts gegen mich, der ich schon seit Äonen bin und immer sein werde. Noch harre ich in der Dunkelheit. Aber bald werde ich frei sein.» Und das Wort frei stieß die Stimme aus wie einen Triumphschrei.

    Währenddessen bemerkte Meister Dachs schon, wie ihm die Kälte bereits bis über die Oberschenkel kroch und zur absoluten Bewegungslosigkeit verdammte. Nur seine Sehkraft und sein Gehör schienen unbeeindruckt zu sein. Mit erstaunlicher Klarheit konnte der Lehrer dem Geschehen um sich folgen.

    «Ihr Kleingeister. Ich spüre, ich rieche die Angst, die euch umgibt. Die Angst euer Leben jetzt und hier zu lassen. Doch beruhigt euch. Für den Moment brauche ich euch noch. Ihr werdet mir bringen, was für mich seit Anbeginn der Zeiten bestimmt war. Und dann, wenn ich keine Verwendung mehr für euch habe, werdet ihr mir dankbar eure Lebenskraft spenden. Darum geht sorgsam damit um. Sie ist mein ...!» Und mit einem höhnischen Lachen verklang die Stimme.

    Meister Dachs wusste, hätte dieser Vorgang nur Augenblicke länger gedauert, wären sie tot gewesen. Sein Herz schmerzte bei der Erinnerung an die Kälte, deren Berührung es für einen Moment gespürt hatte, und er wusste zwei Dinge sehr deutlich. Niemals würde er das Gefühl dieser Machtlosigkeit vergessen und niemals würde er zulassen, dass diese Wesenheit ihr Ziel erreichen würde. Er wusste nicht, wie er es verhindern sollte, aber er wusste, dass er es verhindern würde. Auch unter Einsatz seines Lebens.

    Mit der zurückweichenden Dunkelheit loderte auch das Feuer wieder auf und der eisige Panzer begann sich zurückzubilden. Und in diesem Moment geschahen zwei Sachen gleichzeitig. Mit einem hellen Sirren zersprang alles Glas im Haus. Alles, bis auf die Flasche, die Steinwart immer noch mit blaugefrorenen Fingern hielt. Und im selben Augenblick brach Hyazintha leblos zusammen. So schnell und ohne Vorankündigung, dass Meister Dachs keine Möglichkeit mehr blieb, ihr zur Hilfe zu kommen. Und so schlug die Zwergin schwer auf den mit Glassplittern übersäten Dielenboden auf.

    «Hyazintha, Liebes, was ist mit dir?» Steinwart erwachte aus seiner Erstarrung, legte die Flasche zur Seite und stürzte zu seiner Frau. In seinem Gesicht stand die blanke Angst vor dem möglichen Erkennen, dass sie nicht mehr atmete.

    Doch erleichtert atmete er auf. «Es ist nur eine gnädige Ohnmacht, die sie umfangen hat», brummelte er in seinen Bart und schaute Meister Dachs hilfesuchend an.

    Der hockte sich zu ihm und schlug der Zwergin leicht auf die Wangen, was sie wieder zu sich brachte. Hektisch sah sie sich um und als ihr Blick auf Steinwart fiel, schrie sie zuerst vor Angst auf und brach dann erleichtert in Tränen aus, als sie merkte, dass er wieder er selbst war.

    Die beiden Männer halfen ihr auf und brachten sie zum Kamin, damit sie sich wärmen konnte. Denn die Möbel waren vom schmelzenden Eis so durchnässt, dass sie erst trocknen mussten.

    «Steinwart, was weißt du noch?», fragte Meister Dachs, als Hyazintha am Feuer saß, die Arme um ihre Beine geschlungen, und sich hin und her wiegte wie ein kleines Kind, das verängstigt Schutz sucht und diesen nicht finden kann.

    «Ich habe Angst gespürt. Und einen Ekel und Widerwillen, wie noch nie in meinem Leben zuvor. Ich kann mich an jedes Wort erinnern. Aber dieses Gefühl, nicht mehr Herr meines eigenen Körpers und meiner eigenen Gedanken zu sein war grauenhaft. Ich habe gekämpft und wollte es nicht zulassen. Aber ich war machtlos, so machtlos ...!»

    Steinwart begannen die Schultern zu beben. Er sackte ein gutes Stück in sich zusammen und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben weinte er hemmungslos.

    Meister Dachs trat zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er sagte nichts, denn er wusste, dass alle Worte in diesem Moment sowieso Schall und Rauch und damit überflüssig gewesen wären. Aber er merkte auch, wie gut Steinwart diese Berührung tat und wie sich seine Schultern unter seinen Händen wieder strafften.

    «Geht es dir besser?», fragte der Lehrer. Steinwart nickte nur und stand auf.

    «Was ist jetzt zu tun? Ich merke, dass sich mein Leben, unser Leben, von dem Moment, an dem ich heute Morgen erwacht bin, zu jetzt verändert hat. Wir können nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Aber wir brauchen Unterstützung.»

    Steinwart hatte das Gefühl, noch niemals zuvor in seinem Leben soviel gesprochen zu haben, wie an diesem Vormittag. Kurz nebenbei bemerkt, das stimmt völlig. Denn Zwerge scheuen das gesprochene Wort ebenso wie das Geschriebene.

    Aber die Geschehnisse, der nächsten Wochen und Monate sollten noch viele Veränderungen mit sich bringen, von denen sie zu diesem Zeitpunkt nichts ahnten. Zum Glück nichts ahnten, denn sonst wären die Geschehnisse, von denen ich hier berichte, niemals Wirklichkeit geworden. Und das hätte üble Folgen gehabt ... sehr üble ...

    Tief in der Erde, dort wo ewige Dunkelheit herrscht, kann das Wesen seine Aufregung kaum mehr im Zaum halten. Nicht mehr lange und es würde endlich wieder das Licht sehen. Nicht nur durch die Augen dieses verfluchten Zwerges. Nein, mit seinen eigenen Augen. Und doch ... tief in der Gewissheit regten sich auch Zweifel. Und er brüllte seinen Frust heraus, dass der Granit rings um ihn erzitterte und alles Getier wieder für einen Moment innehielt und sich schutzsuchend verkroch.

    Ein Feuer in der Nacht

    Zwerge kennen in der Regel keine Angst. Nein, ganz gewiss nicht. Wie sollten sie auch sonst in der Dunkelheit der Berge alleine und im Gefühl, unter Millionen Tonnen Gestein begraben zu sein nach ihrem geliebten Erz schürfen können. Der Stein gibt Sicherheit. Der Stein ist Heimat. Der Stein ist Ruhe. Er spricht nicht – und doch gibt er seine Schätze preis. Er ist wie ein guter Freund – und mehr.

    Doch heute – nach diesem Erlebnis – zog es Steinwart hin zur Helligkeit. Dies Gefühl kannte er nicht. Und es macht ihm Angst. Wer hätte auch je von einem Zwerg mit klaustrophobischen Anwandlungen gehört?

    Wie Steinwart dort so verloren und in Gedanken versunken in einer Ecke saß, kam Meister Dachs zu ihm und setzte sich an seine Seite. «Warum es nun gerade dich getroffen hat, mein lieber Freund, weiß ich nicht. Aber wie eigentlich alles im Leben, wird auch das seinen Grund haben. Es scheint mir, du hast etwas Besonderes an dir. Und wir werden gemeinsam herausfinden, was es ist. Auf jeden Fall bist du nicht alleine. Das sollst du wissen.»

    Steinwart schaute auf – und verlor sich in den gütigen und weisen Augen des alten Lehrers: «Was empfiehlst du als nächsten Schritt?» Und irgendwie spürte er, dass ein wenig seines eigentlich unerschütterlichen Mutes wieder zurückkam.

    Meister Dachs streckte sich und ließ seine alten Knochen knacken. «Ich denke, es ist an der Zeit, den großen Rat einzuberufen. Das, was hier geschieht, ist für Einzelne zu groß. Doch die Gemeinschaft wird vielleicht Licht ins Dunkel bringen. Ich werde für heute zu einer Versammlung auf der Lichtung einladen. Ihr geht jetzt erst einmal nach Hause und kommt wieder zur Ruhe.»

    Als Steinwart und Hyazintha wieder hinaus in den immer noch strömenden Regen traten und Richtung ihrer Wohnung im Wald aufbrachen, schaute Meister Dachs ihnen lange hinterher. Und auf seinem Gesicht lag eine tiefe Sorge.

    Meister Dachs schloss die Türe hinter sich ab und machte sich ebenfalls auf den Weg. Hin zum Postamt im Wald.

    Wie? Du wusstest nicht, dass es auch im Wald ein Postamt – na ja, jedenfalls etwa ähnliches, gibt? Du siehst mich mit dem Kopf schütteln. Bitte, wie sollte es denn sonst möglich sein, sich untereinander Nachrichten zukommen zu lassen oder Versammlungen einzuberufen? Du bist ja vielleicht lustig. Aber auf der anderen Seite kann man ja auch nicht alles wissen. Dafür hast du schließlich mich – zumindest für den einen oder anderen Punkt.

    Das Postamt – ich will es mal weiterhin so nennen – lag abseits des großen Waldweges. Hinter den Farnen gleich links. Vielleicht hast du es sogar schon einmal gesehen. Ohne wirklich zu erkennen, worum es sich dabei handelte ...

    Als Meister Dachs – ein wenig außer Atem, er war schließlich nicht mehr der Jüngste, ankam – stand eine riesige Schlange von Kunden wartend in Reihe. Er stellte sich ruhig dazu, um den Gesprächen zu lauschen.

    «Ich muss meine Schwiegermutter wieder einmal einladen. Sie war doch erst im vergangenen Jahr hier. Aber was soll ich widersprechen? Und außerdem – wenn ich ein wenig länger meiner täglichen Arbeit nachgehe ...»

    «Man soll es doch kaum für möglich halten. Ich habe frische Eicheln aus dem westlichen Wald bestellt. Angeblich sollen sie schon lange unterwegs sein. Doch bisher … nichts.»

    Und so hörte Meister Dachs zahllosen Gesprächen zu. Belangloses, Wichtiges, Unwichtiges. Der tägliche Wahnsinn eben.

    Als er endlich an der Reihe war, klopfte der blinde Maulwurf ungeduldig aufs Pult. «Der nächste bitte», schnarrte er hoheitsvoll.

    «Helmut», so hieß der Maulwurf nämlich, «Helmut, ich bin stolz auf dich. Wer hätte gedacht, dass du es einmal so weit bringen würdest …»

    Helmut spitzte seine Ohren. War das nicht???? Na klar, sein alter Lehrer. Jegliche Vorschriften außer Acht lassend, kam er hinter seinem Pult hervor und flog Meister Dachs um den Hals.

    «Dass ich dich noch einmal treffen darf. Du glaubst gar nicht, wie oft ich von diesem Tag und dieser Stunde geträumt habe. Komm mit. Ich lasse mich ablösen. Wir trinken einen Tee miteinander und erzählen …»

    «Entschuldige bitte, Helmut, ein anderes Mal gerne. Doch heute ist der Anlass meines Besuches einfach zu wichtig. Für heute Abend, pünktlich zum Mondaufgang gilt es eine große Versammlung einzuberufen. Es geht vielleicht um alles oder nichts. Bitte rufe alle verfügbaren Kräfte am Boden, im Wasser und in der Luft zusammen. Und mach schnell. Wir haben keine Zeit».

    Betroffen zuckte Helmut zusammen. Wohlwissend, dass es Meister Dachs fernliegen würde, dumme Scherze zu machen. Und bereits wenige Minuten später waren die Boten auf ihrem Weg. Die silbrig glänzenden Forellen im Bach. Die Schwalben am Himmel. Die Wiesel am Boden. Um sich herum hörte der alte Lehrer noch ein letztes Rascheln. Dann war es wieder still. Still, bis auf das stete Plätschern des nicht nachlassenden Regens.

    «Vielen Dank, mein Freund». Mit diesen Worten drehte sich der alte Dachs um und trat den Rückweg an. «Ich habe noch viel vorzubereiten und muss mich für den heutigen Abend einlesen.»

    Helmut sah ihm nachdenklich hinterher.

    Als Meister Dachs seine Wohnung erreichte und den Knopf seiner Türe berührte, zuckte er zusammen. Der Knopf war glühend heiß. Wie konnte das sein? Er war aus Wurzelwerk beschaffen. Und wie sollte es möglich sein, dass Wurzeln eine solche Hitze entwickeln? Er schaute auf seine Hände und erkannte, dass es ihm die Haare versengt hatte. Sein Herz klopfte vor Aufregung wie wild aus seinem Hals. Er trat einen Schritt zurück, um sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Und welch ein Glück, dass er das tat …

    Denn im nächsten Augenblick ging seine Behausung in Flammen auf. Das Feuer loderte zum Himmel. Nicht, dass es klein begonnen und sich dann ausgebreitet hätte. Nein! Von einem Augenblick zum nächsten legte das Inferno sein Heim, die alte Schule, die kostbaren Bücher in Schutt und Asche.

    Meister Dachs spürte, wie ihn Verzweiflung überkam. Hemmungslos schluchzend sank er zu Boden. Nicht wegen des Bettes, des Teegeschirrs oder wegen seiner Pfeifensammlung. Die Bücher waren es, die ihn Tränen vergießen ließen. Und er begriff! Irgendwo darin wäre die Lösung versteckt gewesen. Wäre? Meister Dachs nahm seinen Rucksack und kramte darin herum. Und fand dies kleine Büchlein, welches schon seit Generationen im Besitz seiner Familie war. Gedanken der Altvorderen. Dieses Buch, diesen Schatz, dieses Vermächtnis trug er immer bei sich. Egal, wo er sich auch immer befand.

    Jetzt ging es darum, dieses Buch vor dem Zugriff des Unbegreiflichen zu schützen. Doch wie? Wer es schaffte, eine komplette Wohnung aus dem inneren der Erde hinaus zu zerstören, für den sollte doch ein Rucksack nur ein geringes Problem sein. Wie hätte der alte Lehrer auch ahnen können, dass es für das Geschöpf in der Tiefe sehr wohl ein Problem war. Denn alles was mit solcher Liebe erfüllt war, wie jenes kleine Buch, entzog sich seinem Zugriff.

    Und wie unter größten Schmerzen drehte und wand sich der Unhold tief in der Erde. Wissend, doch nicht akzeptierend, dass er immer noch nicht in der Lage sein würde, sich zu befreien. Er schrie erneut seinen Frust hinaus, sodass der Boden des Waldes erzitterte und alles Leben für einen kurzen Moment innehielt. Doch so schnell dieser Moment gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei.

    Meister Dachs hingegen warf noch einen letzten Blick auf die qualmenden Überreste seines ehemals schönen Zuhauses und machte sich auf den Weg zum Versammlungsplatz. Denn er lag ein gutes Stück entfernt und vor den Menschen gut verborgen, tief im Wald.

    Gelächter

    Der Weg war mühsam. Der stete und nervende Regen hatte den Waldboden aufgeweicht. Viele Schritte wurden zur Qual. Immer wieder musste Meister Dachs Umwege suchen, um Wasserflächen, die sich gebildet hatten, weitläufig zu umgehen. War es Einbildung, dass er sich dabei manches Mal beobachtet fühlte?

    Du kennst sicher auch dieses Gefühl, dass dir jemand verstohlen hinterherschleicht. Dieses Gefühl im Nacken, als sei dort ein steter Druck. Als könne man den Blick forschender Augen tatsächlich spüren. Dann dreht man sich um – aber da ist … Nichts. So ging es auch Meister Dachs.

    Doch manchmal meinte er aus dem Augenwinkel ein Huschen zu bemerken, ein Kräuseln auf den Wasserflächen, leichte tapsende Schritte. Kopfschüttelnd machte er sich auf seinen weiteren Weg. Natürlich war es im Moment alles andere als einfach. Überall spürte er die drohende Gefahr. Doch sich jetzt verrückt zu machen, würde niemandem weiterhelfen.

    Als es schon langsam dämmerte, erreichte Meister Dachs den Versammlungsplatz. Nach und nach kamen sie aus allen Richtungen. Manche wild gestikulierend und sich lautstark mit ihren Begleitern unterhaltend. Manche still und mit nachdenklichem Blick. Niemand wusste den Grund der Zusammenkunft. Und jeder hatte sich seine eigene Wahrheit zurechtgelegt.

    Bei allem Ernst der Lage musste der alte Lehrer doch schmunzeln. Dieses an- und abschwellende Volksgemurmel. Wie hatte er das Zeit seines Lebens geliebt. Erst wenn er den Schulraum betrat und mit seinem Stock aufs Pult klopfte, herrschte Ruhe. Und so würde es auch heute wieder sein. Als er spürte, wie nach und nach alle Blicke auf ihm ruhten, begab er sich zu dem umgestürzten Baum, der dort schon lange Zeit lag und der ihm die Möglichkeit gab, aus erhöhter Position zu den Teilnehmern an der Versammlung zu reden.

    Er klopfte mit seinem Stock laut und vernehmlich gegen einen Ast – und schlagartig herrschte Ruhe.

    «Liebe Freunde. Dass ich euch so kurzfristig hier einberufen habe, hat einen äußerst wichtigen Grund.» Meister Dachs unterbrach kurz, um nach Steinwart und Hyazintha Ausschau zu halten. Als er sie entdeckte, winkte er, sie sollten zu ihm hinauf kommen.

    Steinwart mochte es überhaupt nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Er machte sich etwas kleiner, als er ohnehin schon war und meinte, der Kelch könne an ihm vorübergehen. Doch Hyazintha war ganz anderer Meinung. Sie packte ihren Zwerg am Bart, zog daran und zischte: «Jetzt hab dich mal nicht so. Komm jetzt! Spring doch ein einziges Mal über deinen Schatten!» Und weil es so still war, hatten alle ihre Worte gehört und lachten lauthals. Spott begleitete Steinwart auf seinem Weg zu Meister Dachs.

    Und wüsste ich es nicht besser, würde ich sogar Stein und Bein darauf schwören, dass der Zwerg rot wurde. Aber das muss ich mir eingebildet haben ...

    «Liebe Freunde», begann Meister Dachs erneut, «Ihr wisst, dass ich niemand bin, der unnötig Unruhe schürt. Blinder Eifer schadet nur. Und oftmals ist es besser, eine Situation in Ruhe zu überdenken, als diese durch unbedachte Verhandlungen vielleicht sogar zu verschärfen. Doch ich habe heute Morgen …», dann zeigte er auf das Zwergenpaar, «zusammen mit meinen Freunden etwas erlebt, das keinen Aufschub im Handeln zulässt. Erzählt bitte, was sich zugetragen hat», wandte er sich an Steinwart.

    Dieser räusperte sich verlegen. Wann hatte er denn schon jemals vor so vielen Anwesenden gesprochen. Selbst zu Schulzeiten hatte er jede Gelegenheit genutzt, nicht vor der Klasse sprechen zu müssen. Aber heute – heute ging es nicht anders.

    «Ja, also ... Ich … ich ...» Aufgeregt sog er an

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