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Heimchen am Schwert
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Heimchen am Schwert

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About this ebook

„Eine Frau war aus den Schatten getreten.“
Erik Huyoff, Der Kreis der Sieben

Nicht nur eine Frau tritt aus den Schatten: junge Mädchen, erwachsene Frauen und ältere Damen – sie alle leben grundverschiedene Leben, bestreiten Abenteuer, erheben Schwerter, Äxte und ihre lauten Stimmen. Vorbei sind die Zeiten, in denen fantastische Frauen nur als schmückendes Beiwerk zu männlichem Heldenmut dienten.

Heldinnen in zwanzig unterschiedlichen Geschichten wandeln auf gefährlichen Pfaden, beweisen Mut und bringen Welten zum Erzittern. Manche von ihnen laden zum Schmunzeln ein, andere sind ernst, einige spielen mit Klischees und doch haben sie eine Sache gemeinsam: Sie sind stark!
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateJul 1, 2016
ISBN9783903006614
Heimchen am Schwert

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    Heimchen am Schwert - Ingrid Pointecker

    AutorInnen

    Die geraubten Lilien

    Karin Pelka

    Als im ersten Morgengrauen die Reiter von der Burg her aufbrachen, saß die kleine Lilli längst am Erkerfenster. Zuerst waren sie nur ein kaum auszumachender dunkler Fleck, der sich auf dem helleren Weg den Hügel hinab und zwischen den Feldern bewegte. Doch Lilli genügte das. Sie wusste, dass es losging.

    Das Kleid trug sie noch vom Vorabend, knittrig hing es an ihr herab. Sie warf ihre langen, zausigen Zöpfe zurück, lauschte ins Haus hinein. Und als sie nichts Verdächtiges hörte, kletterte sie flink vom Erkerfenster übers Dach zur Regenrinne hinunter, hangelte sich von dort auf den Holzstoß und sprang in die Wiese. Ohne einen Laut pirschte sie barfuß über den Hof, schlich in den Schuppen, um das lange, rostige Messer zu holen, das sie dort gefunden hatte. Wieder spitzte sie die Ohren, lugte um die Ecke, bevor sie hinter dem Schuppen, sichtgeschützt vom Haus aus, über die Wiese davonging.

    Das Gras war feucht und kühl von der Nacht, kitzelte sie an den Sohlen, hier und da piekste etwas. Doch Lilli ignorierte all das entschieden. Der Griff des Messers war noch etwas zu groß für ihre Kinderhände. Aber auch das machte ihr überhaupt nichts aus. Nicht das Geringste. Sollten die Reiter nur kommen. Wie sie jedes Frühjahr kamen. Aus der Burg, die gerade noch in Sichtweite des kleinen Dorfes auf dem Burghügel hockte.

    Ein Waldstück lag nun zwischen ihr und dem Blick zum Weg. Sie konnte nicht sehen, ob sie tatsächlich kamen oder in eine andere Richtung abbogen. Aber sie war sicher, dass sie genau richtig vermutete. Die frischgrüne Wiese führte weiter ins Tal hinunter, dorthin wo der kleine Bach floss und sich in den Weiher ergoss, in dem die Schleien ihre Bahnen zogen.

    Ja, dort unten lagen der Bach und der Weiher. Und die Ufer säumten die prächtigsten Lilien, die Lilli sich vorstellen konnte. Wohl auch die prächtigsten, die der König kannte. Weshalb er seine Befohlenen hierher schickte, sie Jahr um Jahr zu schneiden und in riesigen Büscheln zur Burg hinauf zu verschleppen, wo sie traurig und vor der Zeit verblühen mussten. Ohne noch einmal die Sonne zu schauen.

    Sie fand ein Versteck in einem Weidenbusch, dicht am Ufer. Roch den süßschweren Lilienduft, erfreute sich an den gelben, satten Blüten, die höher standen als Lilli selbst. Im Himmel konnten die Lilien nicht schöner sein.

    Da! Sie hörte etwas. Nur leise, undeutlich, zu weit entfernt. Doch es kam näher. Und als es noch näher rückte, war sie sicher: Die Reiter kamen tatsächlich. Sie waren bereits im Wäldchen, nicht mehr lange, und sie waren da.

    Fester packte Lilli den Messergriff, die Finger taten ihr weh davon. Die würden Augen machen.

    Das erste Pferd konnte sie nun sehen. Aufwendiger Schmuck zierte den Kopf. Ein herausgeputzter Reiter, das wehende Burgwappen in der Hand, saß auf dem Pferderücken.

    Sie musste jetzt gut aufpassen, keinen Fehler machen. Warten, bis sie nah genug herangekommen waren.

    „Lilli?, rief die Mutter. „Lilli, lass den Zirkus!

    Lilli spürte ihren Zorn überkochen. Das durfte doch nicht wahr sein, dass die Mutter gerade jetzt nach ihr suchte. Ihr in den Rücken fiel.

    „Lilli!" Näher jetzt. Und sie klang ängstlich. Dabei gefiel es ihr doch auch nicht, dass der König alle Lilien stahl. Das hatte sie selbst zugegeben. Und jetzt das.

    „Halte ein, Frau!, rief der Mann auf dem Pferd. „Wohin des Wegs?

    „Mein Kind suche ich. Wenn sie nur nicht ins Wasser gefallen ist."

    „Helft suchen", befahl der Mann.

    Klirrend und scheppernd stiegen die Männer ab, Pferde schnaubten, stießen warme Atemwolken aus.

    „Lilli!", rief die Mutter wieder.

    Ins Wasser gefallen - die wusste ganz genau, dass Lilli nicht ins Wasser gefallen war. Lilli zitterte am ganzen Körper vor Wut. Auf die Mutter, auf die Männer, überhaupt auf all die Ungerechtigkeit.

    „Schaut auch im Bach nach dem Kind", meinte der Mann. Merkwürdig steife Schritte machte er am Weidenbusch vorbei, als hätte er vergessen, sich morgens die Scharniere zu schmieren. Knackend und knisternd stapften die Männer am Ufer entlang, drückten die Lilien grob zur Seite, traten auf die Wurzelknollen.

    „Hört auf!, schrie Lilli. Das rostige Messer vorgestreckt sprang sie aus dem Weidenbusch. Zu allem entschlossen. „Verschwindet und sagt dem König, dass er nie wieder jemanden schicken braucht. Niemand mehr schneidet die Lilien! Nie wieder!

    „Lilli, Herzchen, sagte die Mutter, rannte ihr entgegen, das Messer übersah sie glatt. „Welch ein Glück, du bist nicht ertrunken.

    „Geh weg Mama!", protestierte Lilli, drängte sich an ihr vorbei, das Messer weiter drohend nach vorn erhoben.

    „Na, wen haben wir da? Ein ausgebüxtes Mädchen. Gib Acht, dass dich niemand raubt, allein und wehrlos, wie du bist", sagte der Anführer. Ein allzu nettes Lächeln auf dem Gesicht.

    „Verschwindet, hab ich gesagt. Ihr sollt die Lilien in Ruhe lassen."

    „Ein hübsches Töchterlein hast du, Frau. Aber sie sollte ihr Temperament zügeln."

    Genug! Lilli nahm Anlauf, lief geradewegs auf den Mann zu, todesmutig und zu allem bereit.

    „Nicht!", rief die Mutter, schlang den Arm um Lillis Bauch, packte zu und hob sie hoch.

    Lilli zappelte, trat, schrie, schlug um sich, so wild, so garstig, dass sie beinahe die Besinnung verlor.

    Ohne ein Wort trug die Mutter sie fort, den Griff um Lillis Bauch nicht lockernd. Trug sie einfach weg, einfach so. Das machte Lilli noch rasender als die Männer, die schulterzuckend und flachsend die Messer zückten und begannen, dicke Lilienbüschel niederzumetzeln. Lillis Blick verschwamm in Tränen.

    „Lilli, nun komm doch hervor", bat die Mutter.

    Ihre Füße in den dünnen Stofffetzen standen vor Lillis Bett. Ganz bestimmt würde sie nicht rauskommen. Niemals, nie wieder. Und schon gar nicht mehr würde sie mit ihr reden. So weit kam es noch.

    „Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens da unten verbringen."

    Das hatte Lilli gar nicht vor. Sie hatte schon einige Pläne geschmiedet, verworfen und neue gemacht. Sobald sie den richtigen Plan hatte, würde sie herauskommen und ihn umsetzen. So wahr sie Lilli vom Liliental war.

    „Meine kleine Schwertlilie, sagte die Mutter. Seufzend setzte sie sich auf das Bett. Lilli sah ihre Füße jetzt von hinten. „Wenn du erst groß bist, wirst du es verstehen. Für kleine Menschen ist das alles schwer und furchtbar ungerecht. Aber wenn man groß wird, lernt man die Dinge zu nehmen, wie sie eben sind. Du wirst sehen.

    „Wenn ich groß bin, kann der König einpacken", knurrte Lilli. Ja, genau so würde es kommen. Und jetzt musste sie essen. Je eher sie groß und stark wurde, desto besser.

    Von nun an beobachtete Lilli das Treiben der Königsboten im Frühling stets von ihrem Fenster aus. Die Mutter bewachte sie in den Tagen der Lilienblüte ganz genau, verriegelte alle Türen und hielt nachts Wache, damit sie sich nicht davonschleichen konnte. Erst wenn die Ufer hinter den abgetrennten Stümpfen freilagen, schlief sie wieder und ließ die Tochter laufen, wohin sie wollte. Und jedes Jahr, nachdem die Lilien geschnitten waren, stellte sich Lilli im Schuppen an denselben Balken und machte eine kleine Kerbe mit dem alten Messer dorthin, wo ihr Kopf zu Ende war. Sie wuchs. Ja, aber verdammt langsam. Und als sie acht Jahre alt war, hörte sie mit dem Wachsen ganz auf. Egal wie viel Erbsensuppe und Hirsebrei und Haferschleim sie hinunterdrückte. Sie wuchs nicht mehr. Nicht einmal dicker wurde sie davon. Blieb das zerbrechliche, kleine Ding, das sie gar nicht mehr sein wollte. Und gerechter kam es ihr auch nicht vor, dass der König alles für sich beanspruchte.

    So übte sie, wann immer niemand zu Hause war, das Messer rasch und präzise zu führen. Ließ sich im Umgang mit dem Schleifstein unterweisen, als die Mutter die Sense dengelte. Wann immer sich Gelegenheit bot, übte sie, um bereit zu sein. Denn irgendwann würde sie weiterwachsen, groß genug sein und dann war es endlich so weit.

    „Ihr werdet sehen, flüsterte sie, wenn sie am Teich bei den Lilien saß. „Ihr werdet sehen, bald ist es so weit und ihr könnt endlich einmal blühen, soviel ihr wollt. Wie es euch bestimmt ist.

    Wie zur Antwort raschelte dann der Wind in den verwaisten Lilienblättern.

    In ihrem zwölften Jahr stand Lilli wieder vor dem Balken. Noch waren die Lilien nicht aufgeblüht, aber dieses Jahr konnte sie nicht wieder warten, bis sie abgeschnitten waren. Nun musste sie wissen, wie es stand. Ganz gerade presste sie den Rücken an den Balken, den Kopf ganz aufrecht, führte die Hand darüber gewissenhaft ans Holz, hielt sie dort und schaute. Nichts. Keinen müden Millimeter war sie gewachsen. Seit unsäglichen vier Jahren.

    „Nun gut, sagte Lilli zu dem Balken. „Dann eben nicht.

    Und bevor die Mutter wieder furchtbar genau aufpasste, was Lilli so trieb, schnappte sie das blank polierte, blitzescharf geschliffene Messer, wickelte es in einen alten Jutesack und marschierte über die Wiese hinunter, an den Lilienknospen vorbei, durch das Wäldchen und schnurstracks auf die Burg zu.

    Dumpf pochte es, als sie mit dem schweren Eisenring an die Türe schlug. Dreimal, wie es sich in anständigen Häusern wohl gehörte.

    „Wer da?"

    „Ein Mädchen mit einem Anliegen."

    „Welcher Art?"

    „Geheim", sagte Lilli.

    Ein kehliges Lachen erklang, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und ein Männerauge schaute heraus.

    „Na, hübsches Ding, du bist ja allein unterwegs."

    „Jawohl. Und ich bitte um eine Audienz beim König."

    „Der König empfängt meines Wissens keine Kinder."

    „Fragt ihn wenigstens. Nicht, dass er sauer wird, wenn er erfährt, dass Ihr mich abgewiesen habt."

    „Schon recht", sagte er. Das Auge verschwand aus dem Spalt und die schwere Holztür öffnete sich vor Lilli.

    „Hierher", sagte der Wachmann.

    Er wies ihr den Weg in eine düstere Halle. Ein ausgestopfter Bär stand auf halber Höhe aufgerichtet in der Rundung der geschwungenen Treppe ins Obergeschoss. Kalt war es hier drin, und klamm.

    „Ach, sieh an, du kommst mir bekannt vor", sagte ein Mann, der auf merkwürdig steifen Beinen hereingelaufen kam.

    Lilli zuckte nicht, aber sie wusste, dass er recht hatte. Obwohl es hier drin grausig düster war, erkannte sie sein inzwischen gealtertes Gesicht: der Anführer der Reiter.

    „Und was hast du in diesem Sack, kleines Ding?"

    „Nichts für Euch", sagte Lilli.

    „Lass sehen. Ich trau dir nicht."

    „Ihr fürchtet ein Mädchen?"

    „Torheit fürchten wir."

    Er machte einen mechanischen Schritt vorwärts, die Hände nach dem Sack ausgestreckt. Der andere Wachmann, der sie hereingeführt hatte, kam näher, die Hand bereits am Säbel.

    Nun denn!

    Lilli zog. Blank das Messer, sprang vor, die Männer genauestens im Blick. Rasselnd zogen sie die Säbel, Lilli schlug los - oben, unten, unten, oben, seitwärts, Drehung, zwei Schritte vor, einen zurück. Geschmeidig sprang ihre Klinge, hieb kräftig, rücksichtslos. Da! Einen traf sie ins Bein, er sog scharf Luft ein, zog sich zurück. Ha! Weiter, weiter so. Sprang auf die ersten Treppenstufen, nun war sie fast auf Augenhöhe mit den Vasallen. Weitere kamen hinzu.

    „Packt sie, überwältigt das Weibsstück!", rief der steifbeinige Anführer.

    Sie versuchten es. Doch Lilli wich jedem Griff, jedem Schlag aus, duckte sich weg und schlug von der anderen Seite her zu. Metall klirrte auf Metall, schrammte am Stein des Burghauses entlang. Jemand rempelte rückwärts den Bären, der umfiel wie ein morscher Baum. Ja, das gefiel ihr.

    Lilien niedermetzeln, das machten sie gerne. Zeit, es ihnen heimzuzahlen.

    Behände huschte sie die geschwungene Treppe weiter hinauf, die Männer folgten ihr scheppernd und schnaubend.

    Den Gang entlang, den König finden, schnell … rannte sie gegen jemanden.

    „Sieh an, sagte ein alter Mann. Auf seinem Kopf funkelte eine güldene Krone. „Ein Mädchen, das meine Wachen zum Narren hält. Das sieht man selten heutzutage.

    „Ihr hättet es schon früher sehen sollen, keuchte Lilli. „Befehlt Euren Männern nicht mehr, die Lilien zu schneiden, sonst ergeht es ihnen genauso.

    „Was?"

    „Ihr erinnert Euch wohl an die herrlichsten, gelbsten, duftendsten Blüten, die aus dem Liliental stammen? So wie ich."

    „Ach?"

    „Sie schneiden sie alle, lassen keine Einzige stehen, nehmen alle mit, wohl für Euch. Das dulde ich nicht."

    „Na, na!"

    „Versprecht, dass Ihr sie stehen lasst", sagte Lilli, das Messer entschlossen vorgestreckt.

    „Nun langsam. Komm erst zu Atem, Kind, dann zu Verstand und wir sprechen weiter."

    Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, fast als nähme er ihr Anliegen ernst. Trotzdem gebot sich Lilli größte Wachsamkeit.

    „König!, rief der Anführer der Wachen. „Das Schwert.

    „Lasst nur. Komm, Mädchen, komm ins Licht, denn meine Augen sind trüb."

    Er führte Lilli in einen Wohnraum, der tatsächlich ein wenig heller war. Dennoch waren die Wände steingrau und düster. Kein bisschen gemütlich war es hier drin.

    „Ihr wollt die Lilien, damit es hier ein bisschen wohnlicher ist, was?", murmelte sie.

    „Ja, ganz recht."

    „Trotzdem."

    „Wer ist das, Vater?", fragte ein junger Mann. Lilli sah ihn erst jetzt, als er sich erhob. Ein schlaksiger Jüngling, der die Nase eifrig in die Höhe reckte, Lilli unter halb geschlossenen Lidern hervor musterte.

    „Lilli vom Liliental", besorgte Lilli das Vorstellen und schüttelte dem Jüngling ordentlich die Hand.

    Irritiert zog er sie weg, die Augen nun tatsächlich offen.

    „Du gefällst mir, Lilli vom Liliental", sagte der König und lachte.

    „Dann versprecht Ihr mir, die Lilien stehen zu lassen?"

    Der König lief eine gemächliche Runde auf dem knarzenden Bretterboden, strich durch seinen knisternden Bart. „Ja, sagte er dann. „Ich verspreche es feierlich. Wenn du magst, sogar schriftlich.

    „Sehr gern sogar schriftlich", sagte Lilli.

    Den Jüngling mit der gereckten Nase ließ sie nicht aus den Augen. Dem traute sie kein Stück.

    „Unter einer Bedingung", sagte der König streng.

    „Welche mag das sein?"

    „Wenn die Lilien nicht mehr dem Schmuck meines Hauses dienen, werden wir einen anderen brauchen. Du wirst die rechtmäßige Frau meines Sohnes hier, sobald du groß genug bist."

    Lilli trat einen Schritt zurück, musterte den Jungen noch einmal. Lieber mochte sie ihn davon nicht.

    „So soll es denn sein", sagte sie dann, probierte einen artigen Knicks, der halbwegs gelang.

    „Schriftführer!", rief der König.

    Der Schriftführer erschien mit Papier, Feder und Tintenfass, nahm die Angelegenheit in zweifacher Ausfertigung zu Protokoll und bald darauf war Lilli auf dem Heimweg. Das schartig gewordene Messer offen in der Hand, im Jutesack eine gerollte und mit dem königlichen Siegel verzierte Urkunde.

    Weiterhin kamen nun jedes Jahr zur Lilienblüte die Boten des Königs ins Liliental. Nicht aber, um die Lilien zu schneiden, sondern um zu sehen, wie groß Lilli geworden war. Die aber blieb ihr Leben lang klein, gerade so groß, wie die Lilien waren, die ihretwegen niemals mehr geschnitten wurden. Und größer musste sie, wenn sie es recht bedachte, eigentlich nicht sein, um zu sehen, wie die Dinge nun einmal waren - und um bei Bedarf das Schwert zu ziehen.

    Die Fadenschmiede

    Thomas Heidemann

    Viviens Fadenschmiede rankte sich in verschlungenen Buchstaben über die Seite des pastellgelben VW-Busses.

    Isabella stieß ihren Bruder mit dem Ellbogen an. „Das ist sie. Ich dachte, die kommt nie."

    „Hmm." Colins Finger flogen über das Display seines Smartphones.

    Ein scharf geschnittenes Gesicht hinter einer Sonnenbrille beugte sich zum Beifahrerfenster. Die Scheibe ruckelte nach unten. „Colin und Bella?"

    Isabella erhob sich von ihrer Reisetasche. „Colin!", zischte sie.

    „Ja! Nur noch eben abschicken … So!" Er stemmte sich schnaufend hoch.

    Tante Vivien trommelte mit den Fingernägeln ein ungeduldiges Stakkato aufs Blech, während die Kinder ihr Gepäck über den Parkplatz schleppten.

    „Taschen nach hinten!"

    „Toll, flüsterte Colin. „Die könnte ruhig mal helfen! Er zog die Schiebetür auf und fand noch etwas Platz vor einem Berg Kartons.

    Der Bus hatte keine Rücksitze, aber eine Beifahrerbank mit zwei Gurten. Isabella rutschte in die Mitte und warf der Frau, die kaum Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte, einen scheuen Blick zu. „Hallo, Tante Vivien!"

    „Hallo, Bella! Hat Astrid euch nicht gesagt, dass ihr mich nicht Tante nennen sollt?"

    „Nee."

    Vivien schob die Brille auf die Stirn. „Du erinnerst dich nicht mehr an mich, oder?"

    Isabella schüttelte den Kopf.

    „Ist ja auch ewig her. Wie alt bist du jetzt?"

    „Elf."

    Colin quetschte sich neben Isabella und drängte sie auf Vivien zu.

    „Hallo", murmelte er.

    „Hallo, Colin! Du müsstest mich eigentlich noch kennen."

    „Ja. Glaub schon."

    „Du bist ganz schön … kräftig geworden."

    Colin wurde rot.

    Vivien startete den Motor.

    Auf den ersten Kilometern versuchte Vivien, die Konversation am Leben zu erhalten. Ob ihnen die Zugfahrt gefallen habe. Wie die Zeugnisse ausgefallen seien. Wann Mama aus dem Krankenhaus käme. Wie sie sich mit Papas neuer Frau vertrügen - und deren Sohn Marc-Ole.

    Je unangenehmer die Fragen wurden, desto wortkarger wurden die Geschwister.

    Colin vergrub sich in sein Smartphone. Isabella starrte auf den Mittelstreifen.

    Die Straßen wurden schmaler, der Gegenverkehr spärlicher.

    Vivien bog auf einen Schotterweg ab. Zwei Minuten später ließ sie den Bus zwischen einigen verwahrlost aussehenden Gebäuden ausrollen.

    Sie stiegen aus.

    Isabellas Blick fiel auf einen rostigen Pflug unter einer halb abgedeckten Remise und einen Stapel Traktorreifen in einem Brennnesselfeld. „Was ist das hier?"

    „Das, sagte Vivien, „ist die Fadenschmiede!

    „Hier drin, Vivien wies auf eine schwarz gestrichene Scheune, „ist meine Kostümwerkstatt. Damit verdiene ich mein Geld, wie ihr sicher wisst.

    „Cool. Dürfen wir uns mal verkleiden?", bat Isabella.

    Vivien wandte ihr ruckartig den Kopf zu. „Verkleiden? Ich nähe doch keine Karnevalskostüme! Das sind Auftragsarbeiten fürs Theater und für Filmstudios!" Sie schüttelte sich.

    Die Geschwister sahen einander an.

    „Das werden ja tolle Ferien", sagte Colin. „Kann man hier irgendwas machen?"

    „Habt ihr denn keine Bücher eingepackt?"

    „Bücher?", quiekte Colin.

    „Ja, bedruckte Seiten, die man selbst umblättern muss. Ihr könnt aber auch Unkraut hacken."

    „Vielleicht lassen sie Mama morgen schon aus der Klinik", sagte Isabella ohne große Überzeugung.

    Eine Böe wirbelte Staub auf. Die Scheune ächzte und knarrte.

    Vivien blickte mit gerunzelter Stirn in den Himmel. „Gehen wir ins Haus!"

    Die Aura des Verfalls, die sie auf dem Weg über den Hof begleitete, endete an der Türschwelle.

    Warme Erdtöne und freigelegtes Fachwerk vermittelten Behaglichkeit. Es duftete nach Zitrone und Olivenholz. Jedes Möbelstück und jede Dekoration wirkte einzigartig und nach einem ausgeklügelten Plan arrangiert.

    Tante Vivien besaß Stil. Und Geld.

    Und den größten Fernseher, den die Geschwister je gesehen hatten.

    Der erste Abend erwies sich als Reinfall. Ein nicht enden wollendes Gewitter tobte sich über dem Hof aus. Der Fernseher empfing kein Signal. Und Tante Vivien besaß nicht mal ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Kurzerhand schickte sie die Kinder nach oben ins Bett.

    Isabella und Colin drückten sich die Nasen am Fenster des Gästezimmers platt und zählten Blitze.

    „Hundertfünfzehn!, schrie Colin. „Boah! Hundertsechzehn! Nein, siebzehn!

    Den nächsten Blitz begleitete ein Krachen, das die Scheibe zum Zittern brachte.

    Colin zuckte zurück. „Einschlag! Drüben bei der Scheune!"

    In Sekundenabständen wurde der Hof in blaues Licht getaucht, zeigten sich neue Details.

    Blitz! Ein Sturzbach ergoss sich aus einem geborstenen Fallrohr.

    Blitz! Zerschmetterte Dachziegel vor der Remise.

    Blitz! Eine geduckte Gestalt huschte am VW-Bus vorbei.

    Isabella stieß einen erstickten Schrei aus.

    „Weg vom Fenster!" Tante Vivien stand als dunkler Umriss im Türrahmen,

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