Umgang mit psychisch kranken Menschen aus der Perspektive der Gefahrenabwehrbehörden
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2015 wurde das Unterbringungsgesetz Baden-Württemberg (UBG BW) durch das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG BW) abgelöst bzw. ergänzt. Die Erfahrungen zeigen, dass nach wie vor größere Unsicherheiten im Umgang mit der Rechtsmaterie bestehen, und das nicht nur bei der Polizei. Dies führt leider zu unnötig komplizierten Verfahren sowie zu unnötigen Belastungen aller Beteiligten.
Das Fachbuch behandelt alle relevanten gefahrenabwehrrechtlichen Gegebenheiten im Umgang mit psychisch kranken Menschen. Es richtet sich in erster Linie an Bedienstete im Polizeivollzugsdienst, bei den Ortspolizei- bzw. Unterbringungsbehörden bzw. den anerkannten Einrichtungen.
Richtiger Umgang mit psychisch kranken Menschen
Aus dem Inhalt:
• Allgemeine Verhaltensempfehlungen im Umgang mit psychisch kranken Menschen
• Eine Definition des psychisch kranken Menschen
• Die Möglichkeiten der Unterbringungsbehörde im Rahmen des ordentlichen Unterbringungsverfahrens
• Die Möglichkeiten der anerkannten Einrichtung (Psychiatrie) im Rahmen des außerordentlichen Unterbringungsverfahrens
• Die Möglichkeiten der Polizei (OPB/PVD)
• Die Bedeutung der ärztlichen "Einweisung"
• Handlungsverpflichtungen
Der Anhang beinhaltet zahlreiche relevante Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, z.T. in Auszügen.
Bundesweit anwendbar
Die Darstellungen spiegeln die Gesetzeslage in Baden-Württemberg wider. Die angesprochenen Problemstellungen und damit einhergehende Unsicherheiten sind aber oft auf andere Ländergefahrenabwehrgesetze übertragbar.
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Book preview
Umgang mit psychisch kranken Menschen aus der Perspektive der Gefahrenabwehrbehörden - Oliver Schönstedt
Umgang mit psychisch kranken Menschen
aus der Perspektive
der Gefahrenabwehrbehörden unter
besonderer Berücksichtigung des
Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes und
des Polizeigesetzes
Oliver Schönstedt
Dozent an der Hochschule
für Polizei Baden-Württemberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Print ISBN 978-3-415-05771-5
E-ISBN 978-3-415-05773-9
© 2016 Richard Boorberg Verlag
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titelfoto: © RBV NataV – Fotolia
Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Scharrstraße 2 | 70563 Stuttgart
Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden
www.boorberg.de
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einführung
2. Welche allgemeinen Verhaltensempfehlungen im Umgang mit psychisch kranken Menschen gibt es?
3. Welche Personengruppe ist eigentlich angesprochen? Eine Definition des psychisch kranken Menschen
4. Welche Gesetzesnormen werden im Kontext der Unterbringung von psychisch kranken Menschen immer wieder genannt?
5. Die Möglichkeiten der Unterbringungsbehörde im Rahmen des ordentlichen Unterbringungsverfahrens
5.1 Tatbestandsvoraussetzungen
5.2 Das „ganz normale" ordentliche Unterbringungsverfahren
5.2.1 Die ärztliche Untersuchung durch das Gesundheitsamt im normalen Unterbringungsverfahren
5.2.2 Was ist ggfs. bei der Vollstreckung zur ärztlichen Untersuchung zu beachten?
5.2.3 Darf der Arzt des Gesundheitsamtes unmittelbar nach der ärztlichen Untersuchung eine Person „einweisen"?
5.3 Welche zeitnahe bzw. erfolgversprechendere Möglichkeit hat die Unterbringungsbehörde aber noch?
5.3.1 Ergänzende Tatbestandsvoraussetzungen
5.3.2 Wer führt ggfs. eine Zuführung im Auftrag der Unterbringungsbehörde aus?
6. Die Möglichkeiten der anerkannten Einrichtung (Psychiatrie) im Rahmen des außerordentlichen Unterbringungsverfahrens – die sog. fürsorgliche Aufnahme/Zurückhaltung
6.1 Tatbestandsvoraussetzungen
6.2 Bedarf es für die anerkannte Einrichtung immer eines Zeugnisses eines Arztes von außerhalb?
6.3 Mögliche straf- bzw. zivilrechtliche Verantwortlichkeiten der Inhaber des Gewaltmonopols
7. Welche Möglichkeiten hat die Polizei (OPB/PVD)?
7.1 Tatbestandsvoraussetzungen
7.2 Wie sind die Zuständigkeiten zwischen Ortspolizeibehörde und Polizeivollzugsdienst geregelt?
7.3 Welche Verfahrensanforderungen müssen beachtet werden?
7.3.1 Bestandskraft des Grundverwaltungsaktes
7.3.2 Richterentscheid
7.3.3 Ergänzende Regelungen
7.4 Welche Regelungen sind bei Fahndungen nach Abgängigen zu beachten?
7.5 Welche Regelungen sind zu beachten, wenn der Rettungsdienst mit der Einlieferung eines renitenten psychisch kranken Menschen befasst ist?
8. Gestattet das Gefahrenabwehrrecht eigentlich ein praktikables Zusammenwirken von Polizei und Psychiatrie, also nach dem Polizeigesetz bzw. dem Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz?
9. Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Arzt eine „Einweisung" ausspricht?
10. Gibt es eine Handlungsverpflichtung für die Unterbringungsbehörde, die anerkannte Einrichtung bzw. die Polizei?
11. Schlussbetrachtung
12. Anhang: Relevante Normen (Auszüge)
12.1 Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG)
12.2 Landeskrankenhausgesetz Baden-Württemberg (LKHG)
12.3 Verwaltungsvorschrift des Sozialministeriums über die Überprüfung von zur Unterbringung von psychisch Kranken nach dem Unterbringungsgesetz anerkannten Einrichtungen
12.4 Polizeigesetz Baden-Württemberg
12.5 Verordnung des Innenministeriums zur Durchführung des Polizeigesetzes (DVOPolG)
12.6 Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums zur Durchführung des Polizeigesetzes (VwV PolG)
12.7 Verwaltungsverfahrensgesetz für Baden-Württemberg (Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG)
12.8 Gesetz zur Errichtung der Zentren für Psychiatrie (EZPsychG)
12.9 Gesetz über die Universitätsklinika Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm (Universitätsklinika-Gesetz – UKG)
12.10 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für Baden- Württemberg (Landesverwaltungsvollstreckungsgesetz – LVwVG)
12.11 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)
12.12 Strafgesetzbuch (StGB)
12.13 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, Bundesrecht (MBO-Ä 1997)
12.14 Strafprozessordnung
12.15 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
12.16 Bürgerliches Gesetzbuch
Stichwortverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einführung
Der Umgang mit psychisch kranken Menschen bzw. ihren Angehörigen ist für alle Beteiligte sehr anspruchsvoll. Seit Beginn der 80er Jahre ist die jährliche Zahl der Patienten, die gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden, bundesweit stark angestiegen. Pro Jahr werden in Deutschland mittlerweile etwa 140.000 Menschen nach den Psychisch-Kranken- bzw. den Unterbringungsgesetzen der Länder bzw. dem Bürgerlichen Gesetzbuch zwangsweise untergebracht. Laut einer bundesweiten Gegenüberstellung stiegen die Maßnahmen nach dem Unterbringungsgesetz in Baden-Württemberg von 2003 zu 2011 von 3180 auf 4364 Unterbringungen.¹
2003 waren 90 % aller Unterbringungsfälle sog. Eilfälle² und wurden in der Regel durch den Polizeivollzugsdienst im Rahmen der sog. Not-Vorführung in einer psychiatrischen Einrichtung vorgestellt.
Im Ergebnis dürfte dies bedeuten, dass man sich auch zukünftig mit dieser Themenstellung intensiv auseinandersetzen muss.
Die gefahrenabwehrrechtlichen Hauptanwendungsfälle der Not-Vorführungen sind nicht nur für den Polizeivollzugsdienst eine besondere Herausforderung, auch die Mitarbeiter der OPB und der UB können hier besonders gefordert sein. Das vermeintliche Geflecht von Zuständigkeiten der verschiedenen Partner, z. B. eines „einweisenden" Arztes, des Amtsgerichtes, des Polizeivollzugsdienstes und der anerkannten Einrichtung (Psychiatrie) gilt es zu entwirren, um Rechts- bzw. Handlungsklarheit zu gewinnen.
Zum 01.01.2015 wurde das Unterbringungsgesetz Baden-Württemberg (UBG) durch das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG) abgelöst bzw. ergänzt. Ob sich für die Gefahrenabwehrbehörden hierdurch Veränderungen ergaben (was ab und an behauptet wird³), wird in den weiteren Ausführungen aufgelöst.
Ein Problem im Umgang mit psychisch kranken Menschen ist immer noch die sog. „Einweisung" bzw. „Zwangseinweisung". Diese Begriffe sind sehr oft mit der falschen Vorstellung verbunden, dass ein Arzt hier eine Art Dispositionsmacht hat und die Polizei dieser „Einweisung" nachkommen muss. Was auch ganz aktuell durch eine E-Mail, die dem Autor am 07.04.2016, 05.37 Uhr, übermittelt wurde, veranschaulicht wird:
Sehr geehrter Herr Schönstedt, ich habe eine Frage bezüglich o. g. Thematik, da die Problematik im Alltag immer wieder auftritt. Kann ein Arzt „zwangseinweisen oder nur das Gericht? Wird bei einer „Zwangseinweisung
durch den Arzt mit der falschen Begrifflichkeit umgegangen, so dass es sich hierbei um ein Hilfeersuchen handelt, wenn die Polizei hinzugerufen wird? Vielen Dank für Ihre Antwort! Leider war es mir noch nicht möglich, Ihre Fortbildung zu besuchen. Die Thematik betrifft uns im täglichen Dienst. Mit freundlichen Grüßen, P G, PP X, Polizeirevier Y, Dienstgruppe Z
Dies wurde in einer früheren Veröffentlichung zu einem Schwerpunkt der Auseinandersetzung gemacht.⁴
Des Weiteren gehen u. a. Privatpersonen, Behördenmitarbeiter, Richter, Rettungsdienstmitarbeiter und Aufnahmeärzte vielerorts davon aus, dass Polizeibeamte vor der Not-Vorführung in die Psychiatrie ein Zeugnis eines Arztes beizubringen hätten. Manche Psychiatrien machen ihre Aufnahme von einem solchen Zeugnis abhängig.
Auch werden die Möglichkeiten des „relevanten" Tätigwerdens der UB erörtert. Die Erfahrungen mit der behördlichen Praxis gehen mehrheitlich dahin, dass ein tatsächliches Agieren der nach dem PsychKHG originär zuständigen UB nämlich eher selten vorkommt.⁵, ⁶ Es gibt aber UB in Baden-Württemberg, die hier zeitnah agieren.
Leider hat sich vielerorts noch wenig geändert, obwohl das PsychKHG redaktionell einen „guten Weg" eingeschlagen hat.
Die Erfahrungen zeigen, dass nach wie vor größere Unsicherheiten im Umgang mit der darzustellenden Rechtsmaterie vorhanden sind, und dies nicht nur bei der Polizei. Dies führt leider zu unnötig verkomplizierten Verfahren und auch zu unnötigen Belastungen für alle Beteiligte.
Das nachfolgende Beispiel (aus einem Beschrieb eines Polizeibeamten), das das gutgemeinte Zusammenwirken von vielen Akteuren beschreibt, soll noch einmal bewusst machen, wie wichtig Rechts- und Handlungssicherheit für alle Beteiligte ist:
Der Beschuldigte L hatte zum wiederholten Mal trotz bestehenden Hausverbots dort die Mitarbeiter belästigt und Geld gefordert. Als die Polizei eintraf, um das Hausverbot durchzusetzen, wurden die Beamten beleidigt. Darüber hinaus drohte der Beschuldigte Widerstand an. Er befand sich offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand. Daher wurde er in Gewahrsam genommen und mit dem Ziel der Unterbringung zunächst bei der Dienststelle sistiert und wurde das Gesundheitsamt informiert. Frau Dr. R (Gesundheitsamt) teilte mit, dass sie sich um den entsprechenden Auftrag der unteren Verwaltungsbehörde LRA X kümmern würde. Da sich der Termin zur Untersuchung verzögerte, wurde eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam herbeigeführt. Richter S, AG X, bestätigte den Gewahrsam zum Zwecke der Unterbringung. Der Beschuldigte wurde zum Gesundheitsamt verbracht und dort von Frau Dr. R untersucht. Während der Untersuchung wurde die Ärztin vom Beschuldigten massiv beleidigt und angegriffen. Allerdings konnte der Angriff durch die Polizeibeamten abgewehrt werden, indem der Beschuldigte zu Boden gebracht wurde. Letztendlich übergab Frau Dr. R einen Untersuchungsbericht, in dem sie „erhebliche Fremdgefährdung" attestierte. Sie empfahl die Begutachtung durch einen Arzt der psychiatrischen Einrichtung. Also wurde eine Streife mit dem Beschuldigen zur Psychiatrischen Abteilung des Krankenhaus Y entsandt. Während der Anfahrt rief Frau Dr. R an und teilt den Polizeibeamten mit, dass der zuständige Aufnahmearzt Dr. D in Y den Beschuldigten nicht aufnehmen werde. Sie habe mit ihm gesprochen; der Beschuldigte sei ihm zu gefährlich, dies könne er mit seinem Personal nicht leisten und überhaupt nehme er keine Straftäter auf; dafür seien die forensischen Psychiatrien zuständig.