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Kinderspiel
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Kinderspiel

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Gotha, der 83-jährige Artur Semring wird mit eingeschlagenen Schädel in seiner Küche aufgefunden. Der Tote ist schlimm zugerichtet; weist Stichwunden und Würgemale auf. Hauptkommissarin Beate Maiwald und ihr Kollege Klaus Hubertson ermitteln im engsten Beziehungsumfeld des Rentners. Überraschend schnell gesteht die jüngste Tochter des Toten, Henriette, die Tat ohne Umschweife. Die Gothaer Kommissare glauben nicht an die Schuld der Frau. Auf der Suche nach der Wahrheit entwirren sie das Psychogramm einer kranken Familie, die ihre dunklen Geheimnisse über Jahrzehnte hütete. Bis letztlich die Katastrophe ihren Lauf nahm.
LanguageDeutsch
Release dateMar 31, 2011
ISBN9783954520176
Kinderspiel

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    Kinderspiel - Ursula M. Muhr

    19

    Kapitel 1

    »Hier ist es«, sagte Klaus Hubertson zu Hauptkommissarin Beate Maiwald und blieb vor einem alten Haus in der Querstraße in Gothas Innenstadt stehen. Er schaute noch einmal in die Unterlagen, die er vom Kriminaldauerdienst erhalten hatte, dann beugte er sich zur Klingeltafel hinunter. »Scheint ganz oben zu sein, die Wohnung unterm Dach. Henriette Meerbarth.« Er hob die Hand und wollte den Finger auf den Klingelknopf legen, aber dann zögerte er doch. »Sagst du es ihr?«, fragte er und blinzelte in die Sonne. Es war früh am Morgen, noch war die Luft frisch, aber es würde ein heißer Tag werden. Nach dem kalten und nassen Mai wurde es auch Zeit, dass es endlich ein bisschen wärmer wurde.

    Beate Maiwald lächelte abwesend. In Gedanken war sie schon bei der bevorstehenden Aufgabe. »Klar. Das kann ich dir doch noch gar nicht zumuten, oder? Du kannst ruhig läuten, ich pass schon auf dich auf.«

    In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein junger Mann kam heraus. Hubertson grüßte ihn knapp, hinderte die Haustür am Zufallen und trat in den Flur. Einen Moment sah es so aus, als wollte der andere ihn fragen, mit welchem Recht er um diese Tageszeit in das Haus eindrang, aber dann überlegte er es sich doch anders und verschwand mit langen Schritten in Richtung Siebleber Straße.

    Hubertson hielt Beate die Tür auf. Er ärgerte sich, dass er diese Frage gestellt hatte. Natürlich riss er sich nicht darum, Angehörigen die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds zu überbringen. Kein Polizist gewöhnte sich jemals daran, auch nach langen Dienstjahren nicht. Doch so grün hinter den Ohren, wie Beate es mit herablassendem Spott andeutete, war er wirklich nicht. Es wurmte ihn, dass sie ihn ihren Erfahrungsvorsprung spüren ließ. In solchen Momenten hatte er immer das Wort »Besser-Wessi« auf der Zunge, obwohl er sich in dieser Hinsicht über seine Chefin wirklich nicht beklagen konnte. Sie war vor gut fünfzehn Jahren aus Regensburg nach Gotha gekommen, eigentlich nur für zwei Jahre, aber dann hatte sie sich in die schöne alte Stadt verliebt und war geblieben. Manchmal fand er ihren Eifer, sich möglichst perfekt anzupassen, schon fast ein bisschen übertrieben.

    »Sagen wir einfach: Ladies first«, knurrte er. Er deutete eine ironische Verbeugung an. »Außerdem bringen einen solche Erfahrungen aus dem seelischen Gleichgewicht. Das stört beim Poppen.«

    Beate Maiwald sagte nichts, sondern warf ihm nur einen irritierten Blick zu, den er aber nicht registrierte. Also trat sie mit einem Achselzucken ein. Als erstes fiel ihr der unangenehme Geruch auf. Irgendein scharfes Reinigungsmittel, Frittierfett und die typische Ausdünstung eines feuchten Kellers kämpften um die Vorherrschaft. Sie rümpfte die Nase und sah sich um.

    Es war das alte Dilemma mit den malerischen, jahrhundertealten Gebäuden. Von außen sahen sie – soweit sie frisch renoviert waren – wirklich charmant aus. Aber drinnen waren sie manchmal recht kompliziert zu bewohnen. In diesem engen und steilen Treppenhaus ein größeres Möbelstück in die oberen Stockwerke zu schaffen, das war eine echte Herausforderung. Durch die schmalen Fenster fiel nur wenig Licht, so dass Beate trotz des strahlenden Sonnenscheins nach dem Lichtschalter suchte.

    Trotzdem fand sie es immer verlockend, in so einem Haus zu leben, auch wenn die Dübel nicht in der Wand hielten, die Installationen abenteuerlich waren und Stromkabel an Stellen verliefen, wo man sie nie und nimmer vermuten würde. Sie hatte so ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Als sie kurz nach der Wende in die Residenzstadt versetzt worden war, hatte sie das Vergnügen gehabt, in so einem Denkmal zu wohnen. Inzwischen hatte sie sich eine moderne Eigentumswohnung unterhalb des Schlosses gekauft, aber manchmal bedauerte sie es doch, sich nicht auf die Renovierung eines solchen alten Schmuckstücks eingelassen zu haben. Es war eben doch etwas ganz Besonderes.

    Hubertson dagegen stand auf dem Standpunkt: Lieber Plattenbau als Denkmalschutz. Beate hatte manchmal den Verdacht, dass er sie damit nur provozieren wollte. Vor allem, wenn sie darüber räsonierte, dass es unverantwortlich wäre, die schönen alten Häuser einfach abzureißen. Typisch Wessi! Als ob wir nicht auch so schon Sorgen genug hätten!, brummte er dann vor sich hin.

    Sie machten sich an den Aufstieg, die ausgetretenen Stufen knarrten bei jedem Schritt. Beate wandte sich wieder ihrem jungen Kollegen zu und kam jetzt doch auf seine Äußerung von vorhin zurück.

    »Wieso eigentlich poppen? Kannst du mir mal verraten, wer sich solche Wörter ausdenkt?«

    Hubertson zog die Augenbrauen hoch. »Du hast vielleicht Sorgen! Also ich wars jedenfalls nicht, falls du das meinst. Es gehört eigentlich zum allgemeinen Sprachschatz. Allerdings nicht unbedingt in deiner Altersklasse«, antwortete er.

    »Das wäre ja auch noch schöner. Weißt du, mein Lieber, ich verstehe schon, dass jede Generation etwas Neues finden muss. Die Schmuddelwörter der Elterngeneration sind einfach abgegriffen. Aber poppen? Ich bitte dich, da vergeht einem doch alles.«

    Hubertson zuckte die Achseln. Er hatte noch nie über das Wort als solches nachgedacht. Alle sagten es, zumindest alle jungen. Und die alten, brauchten die überhaupt noch ein Wort dafür? Na ja, vielleicht wenn sie sich ihren Erinnerungen hingaben. Immerhin hatten sie ja wohl eine Vergangenheit. Es war ihnen zumindest zu wünschen. Im Übrigen fand er nichts an dem Begriff poppen auszusetzen. An der Tätigkeit als solches übrigens auch nicht.

    In Beates Vorstellung aber erzeugte dieses Wort Bilder eines mechanischen Vollzugs, hastig und roboterhaft. Völlig unerotisch. Es passte einfach nicht. Und hierher, in diesen uralten Treppenaufgang, passte es schon gar nicht.

    Die nächste Frage, die sie sich während ihres Aufstiegs stellte, war, warum Hubertson diese Bemerkung überhaupt für notwendig hielt. Entweder, dachte sie, ist er naiv genug zu glauben, dass es einem irgendwann wirklich nichts mehr ausmacht, solche Nachrichten zu überbringen. Diesen Zahn sollte ich ihm möglichst bald ziehen. Oder er will durchblicken lassen, dass es bei mir nichts mehr gibt, wobei man mich stören könnte, rein poppungstechnisch.

    Sie befürchtete, dass sie mit ihrer zweiten Vermutung richtig lag. Das ärgerte sie. Sicher, sie war nicht mehr jung, im September vor drei Jahren hatte sie ihren Fünfzigsten gefeiert. Heimlich, im Urlaub auf Naxos. Nur der betagte Besitzer des kleinen Hotels, in dem sie wohnte, hatte auf dem Anmeldeformular das Datum registriert und darauf bestanden, mit ihr anzustoßen. Von seinem wortreichen Toast auf ihr Wohl, den er mit leuchtenden Augen deklamierte, hatte sie nichts verstanden. Aber viel Phantasie brauchte es ja nicht, um den Inhalt solcher Glückwünsche zu erfassen, egal in welcher Sprache sie vorgebracht wurden. Die Peinlichkeit von ›Auf das zweite halbe Jahrhundert!‹ blieb ihr auf Griechisch zumindest erspart.

    Was sie allerdings sehr wohl verstanden hatte, war dass der alte Herr immer noch nicht zu alt war, um ihr schöne Augen zu machen. Es fiel ihr schwer, darüber zu lachen. Sie fand einfach, dass sie mit fünfzig noch nicht in seiner Altersklasse spielte. Nach dem dritten Glas Rotwein gelang es ihr dann doch. Das Lachen, wohlgemerkt, nicht das Mitspielen.

    Die Einschätzung ihres jungen Kollegen dagegen fand sie nicht wirklich lustig. Wieso warf er sie eigentlich so mir nichts, dir nichts zum alten Eisen? Sie sah gut aus, war schlank, fast zierlich, nicht allzu groß, sportlich. Sie trieb zwar keinen allzu großen Aufwand mit sich, trug die blonden Haare kurz geschnitten, schminkte sich nur im Notfall und lief meistens in Jeans herum. Trotzdem war sie im Allgemeinen mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden, allerdings hatte übergroße Eitelkeit noch nie zu ihren Fehlern gezählt. Und dreiundfünfzig, verdammt nochmal, das war doch kein Alter! Aber das würde Hubertson erst dann begreifen, wenn er selbst so weit war.

    Sie waren jetzt im ausgebauten Dachgeschoss des Hauses angelangt. Durch ein nachträglich eingesetztes Oberlicht schien die Morgensonne herein, alles war hier blitzsauber und üppige Topfpflanzen verliehen dem Treppenabsatz den Charme eines Wintergartens. So ließ es sich durchaus wohnen in alten Gemäuern, dachte Beate und blieb vor der Wohnungstür stehen. Sie sah Hubertson nachdenklich an.

    »Kleine Atempause?«, sagte der Jüngere gönnerhaft. Beate runzelte die Stirn. »Mache ich auf dich den Eindruck einer alten Frau?«, fragte sie gereizt zurück. Hubertson lachte versöhnlich. »Nein, ganz und gar nicht. Ich bin sicher, du könntest hier mühelos heraufjoggen und dabei auch noch telefonieren, den nächsten Termin in deinen Palm eintragen und konzertreif Flügelhorn spielen. Ich weiß doch, du bist multitaskingfähig und unschlagbar fit für dein Alter.«

    Für mein Alter, dachte Beate verärgert. Schon wieder musste er sie mit der Nase darauf stoßen! Das hättest du dir ruhig sparen können, Hubsi, ich bin fit, ganz schlicht und ergreifend. Mit meinem Alter hat das nichts zu tun. Und was Multitasking angeht, da musst du jedenfalls noch allerhand lernen.

    Draußen fuhr mit heulender Sirene ein Krankenwagen vor. Beate sagte zu Hubertson gewandt: »Wenn ich dich richtig verstehe, dann willst du andeuten, dass sich meine Freizeitbeschäftigungen aufs Kegeln und Strümpfestricken beschränken sollten, stimmts? Hubsi, du hast wirklich keine Ahnung.«

    »Was hast du gesagt? Ich versteh kein Wort!«, rief Hubertson über den Lärm des Krankenwagens. Der schien immer noch vor dem Haus zu stehen und für einen kurzen Moment hatte Beate die Befürchtung, dass er möglicherweise dasselbe Ziel hatte wie sie. Sie lauschte, spürte ihr Herz klopfen und erst als der Lärm sich doch entfernte, winkte sie ab, ohne ihre Bemerkung zu wiederholen. Hubertson zuckte wieder mal die Schultern.

    Im Grunde konnte Beate ihren jungen Mitarbeiter verstehen und in einer weniger angespannten Situation hätte sie ihm die Bemerkung sicher nicht übel genommen. Er war noch keine dreißig, für ihn waren Frauen über fünfzig geschlechtslose Wesen. Das war Beate in diesem Alter nicht anders ergangen, sie erinnerte sich nur zu deutlich. Außerdem, sie gab sich innerlich einen Ruck, konnte es ihr schlicht egal sein, was Hubertson von ihr dachte. Er war ihrem Team vor kurzem zugeteilt worden und sie arbeiteten, soweit sich das bis jetzt sagen ließ, recht gut zusammen. Mehr konnte man nicht erwarten und mehr brauchte es auch nicht.

    Sie wandte sich wieder der Tür von Henriette Meerbarths Wohnung zu und legte entschlossen den Finger auf den Klingelknopf.

    »Hoffentlich ist sie schon auf«, murmelte sie. Sie hasste es, ungewaschenen und verschlafenen Menschen gegenüber zu sitzen und ihnen schlechte, oder wie in diesem Fall, katastrophale Nachrichten zu überbringen. Leider brachte ihr Beruf genau das immer wieder mit sich.

    Wenige Augenblicke später öffnete eine Frau. Sie war groß, mit einer ausgesprochen weiblichen Figur, die sie in einer langen, weiten Bluse zu verbergen suchte. Ihr Haar war bereits komplett ergraut, obwohl sie nach Beates Schätzung nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Sie sah müde aus, als hätte sie seit längerer Zeit nicht mehr richtig geschlafen, aber die feuchten Haarspitzen verrieten, dass sie bereits geduscht hatte. Außerdem hatte sie schon die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt. Sie hielt sie in der Hand, zusammengefaltet und offensichtlich noch ungelesen. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Beate, dass es keinesfalls die aktuelle Ausgabe war. Das Titelbild zeigte die ›Urknall-Maschine‹ bei Genf. Lieber Himmel, wie lang war das her, dass diese Geschichte durch die Medien ging? Doch mindestens ein halbes Jahr oder länger. Beate erinnerte sich, damals ratlos den zugehörigen Artikel überflogen zu haben, während gleichzeitig im Radio ein ausgesprochen sympathischer Physiker davon sprach, dass das physikalische Nichts instabil sei. Beate konnte mit der Instabilität des physikalischen Nichts absolut nichts anfangen, auch wenn sie die Formulierung – unabhängig von ihrer Bedeutung – sehr apart fand. Sie wusste nur mit ziemlicher Sicherheit, dass die Psyche mancher Zeitgenossen ausgesprochen instabil war, während ihre geistigen Kapazitäten dem physikalischen Nichts bisweilen sehr nahe kamen. Damals genügte ihr diese Erkenntnis, sie wollte sich später darum kümmern, auch den Urknall-Versuch irgendwie zu verstehen. Aber natürlich hatte sie das vergessen, sobald die Riesenmaschine wieder aus den Schlagzeilen heraus war.

    Beate stellte sich und Hubertson vor, zeigte ihren Dienstausweis und fragte, ob sie hereinkommen könnten. Henriette Meerbarth nickte nur und führte sie schweigend in eine geräumige Wohnküche. Trotz der schrägen Wände wirkte der Raum großzügig, Dachgauben sorgten für viel Licht und der Blick auf die alten Dächer von Gothas Innenstadt war bezaubernd. Vor allem aber war er – das fand Beate besonders angenehm – nicht durch dicke Gardinen verhängt. Auch hier standen überall Topfpflanzen, darunter einige reich blühende Orchideen. Frau Meerbarth schien einen grünen Daumen zu haben. Im Übrigen war die Wohnung recht sparsam eingerichtet, fast spartanisch, mit einfachen und ziemlich abgenutzten Möbeln. Auf einem Küchenstuhl stand ein Karton, auf dem Esstisch ein altes, handbemaltes Kaffeeservice. Offensichtlich war die Frau gerade damit beschäftigt gewesen, es zu verpacken. Jetzt war auch klar, was sie mit der alten Zeitung vorgehabt hatte.

    »Sind Sie die Tochter von Artur Semring?«, fragte Beate Maiwald. Henriette Meerbarth bestätigte das.

    »Wir haben leider sehr schlechte Nachrichten für Sie, Frau Meerbarth«, sprach Beate weiter. »Möchten Sie sich nicht lieber setzen?«

    Die Frau schüttelte den Kopf. Sie starrte die Kommissarin an, dann wanderte ihr Blick ausdruckslos zu Hubertson.

    Beate hatte die Befürchtung, dass sie gleich umkippen würde, wenn sie mit der schlimmen Neuigkeit konfrontiert wurde, die sie ihr überbringen musste. Aber sie hatte sich getäuscht. Nachdem Beate Maiwald ihr gesagt hatte, dass ihr Vater tot war, ermordet, antwortete Henriette Meerbarth schlicht: »Ja, ich weiß. Das war ich. Ich habe Sie schon früher erwartet.«

    Dabei sah sie an Beate vorbei an die Wand und vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Sie hielt noch immer die Zeitung fest, als wollte sie das Blatt gleich aufschlagen und lesen. Aber plötzlich glitt es ihr aus den Händen, flatterte zu Boden und lag vor ihren Füßen, ein unordentlicher Blätterhaufen, die Flügel ausgebreitet wie ein toter Vogel.

    Kommissarin Maiwalds erster Impuls war: Das glaube ich nicht. Sie hätte nicht sagen können warum, aber sie dachte mehrmals hintereinander: Nie und nimmer. Ihr zweiter Gedanke war: Warum hebt Hubertson eigentlich die Zeitung nicht auf? Diese jungen Schnösel haben wirklich keine Manieren mehr heutzutage.

    Die Frau ignorierte die Zeitung genauso wie Hubertson. Sie wirkte ruhig, etwas abwesend zwar, aber keineswegs verwirrt, überspannt oder unzurechnungsfähig. Sie schien allerdings auch nicht schockiert zu sein; die Kommissarin meinte nur, ein kurzes Erschrecken wahrgenommen zu haben. Konnte es wirklich sein, dass Henriette Meerbarth bereits wusste, dass ihr Vater ermordet worden war? Erstochen. Erwürgt. Und erschlagen.

    Dieser Mörder – die Kommissarin hatte beim Anblick der schlimm zugerichteten Leiche spontan ausgeschlossen, dass es eine Frau gewesen sein könnte – war außer sich gewesen vor Wut. Eine Wut, die sich über viele Jahre angesammelt hatte wie schmutziges Wasser in einem Becken und sich dann in einem verzweifelten Gewaltakt entladen hatte. Ein Dammbruch lang aufgestauter Gefühle.

    »Überlegen Sie genau, was Sie sagen, Frau Meerbarth«, antwortete Kommissarin Maiwald. Dann fügte sie die Belehrung an, die in dieser Situation unabdingbar war. Dass sie nichts aussagen musste, dass sie ein Recht auf einen Anwalt hätte und so weiter. Wie oft hatte sie diese Sätze in

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