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Angst zeigt Gesicht: Ein Leben unter asozialer Gewalt
Angst zeigt Gesicht: Ein Leben unter asozialer Gewalt
Angst zeigt Gesicht: Ein Leben unter asozialer Gewalt
Ebook542 pages9 hours

Angst zeigt Gesicht: Ein Leben unter asozialer Gewalt

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About this ebook

Anna lebt mit ihren Eltern und ihren beiden älteren Brüdern in Schweden. Als der Vater ein Jobangebot in Deutschland bekommt, beginnt eine jahrelange Odyssee. Von Großeltern und Freunden getrennt, müssen Anna und ihre Brüder ihr Leben in Armut und asozialen Verhältnissen verbringen. Die Alkoholexzesse der Eltern enden stets in unsagbarer häuslicher Gewalt, die der Entwicklung der Kinder so schadet, dass Anna eines Tages Opfer ihres eigenen Bruders wird …
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Kern
Release dateAug 6, 2012
ISBN9783944224022
Angst zeigt Gesicht: Ein Leben unter asozialer Gewalt

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    Angst zeigt Gesicht - Dorthe Ahlers

    Dorthe Ahlers

    ANGST

    zeigt Gesicht

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Impressum:

    © 2012 Verlag Kern

    ISBN 978-3-939-478-829

    ISBN E-Book: 9783944224022

    © Inhaltliche Rechte beim Autor

    Autorin: Dorthe Ahlers

    Herstellung: www.verlag-kern.de

    Lektorat: Manfred Enderle

    Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Inhalt

    Vorwort

    Angst zeigt Gesicht

    Vorwort

    Ich erzähle Euch eine Geschichte, eine wahre, aber grausame Geschichte. Warum ich sie erzähle? Es tut der Seele gut, all den Ballast, der darauf liegt, loszuwerden. Es ist nicht nur meine Geschichte, sondern unsere. Die Geschichte meines Bruders und meine eigene. Mein Bruder Sven hat seine Geschichte und ich, Annalena, habe meine Geschichte und zusammen haben wir dann unsere Geschichte. Wo soll ich anfangen zu erzählen? Am besten ganz von Anfang an, aber wo ist der Anfang, wo ist das Ende? Es ist schwer, aber wir zusammen werden es schaffen.

    Mein Bruder Sven ist 48 Jahre alt, ich, Annalena, bin 44 Jahre alt. Die vier Jahre, die Sven älter ist, sind heute nicht mehr spürbar, aber als wir Teenager waren, da waren die vier Jahre eine Menge mehr. Es kam mir aber auch immer zugute. Dazu später mehr. Unsere Geschichte beginnt in dem Alter, als unser Gehirn so weit entwickelt war, dass es denken konnte. Das heißt, als es anfing, sich die Dinge zu merken - nicht gleich zu verstehen, aber zu merken. Manchmal haben wir uns gewünscht, dass man das Gehirn ausschalten kann wie eine Lampe, denn dann wäre vieles leichter für uns gewesen. Heute sind wir froh, es geschafft zu haben, denn wir haben gelernt, damit zu leben und damit umzugehen. Jedoch haben wir dafür Hilfe in Anspruch genommen, professionelle Hilfe. Wir haben zusammen mit einer Therapeutin gelernt, wie man trotz der schlimmen Dinge das Leben wieder leben kann und wie man sogar wieder Freude und Glück empfinden und wieder lachen kann. Es war und ist ein harter, steiniger Weg, aber zusammen sind wir stark und wir werden es schaffen. Dann ist da noch eine weitere Geschichte, denn wir haben noch einen älteren Bruder, Christopher. Er ist 12 Jahre älter als ich und acht Jahre älter als Sven. Ja, auch Christopher hat eine grausame Geschichte zu erzählen und wir über ihn. Vielleicht ist es im Augenblick etwas verwirrend, aber das klärt sich im Laufe der Geschichte auf.

    Meine Erinnerung fängt schon sehr früh an, manchmal glaube ich, dass ich einfach viel zu früh alles mitbekam. Es geht um meine, um unsere Eltern. Sie haben unser Leben vorgelebt, das zum großen Teil beschissen war. Wir lebten damit, in dem Glauben, dass es normal sei und dass es anderswo genauso gelebt wurde. Dies war aber ein Irrtum, was wir mit den Jahren und dem Älterwerden begriffen. Das war auch eine sehr, sehr schmerzliche Erfahrung.

    Ich erinnere mich, meine Eltern hatten Besuch und es kam wieder Alkohol auf den Tisch. Mein Magen legte sich dabei immer quer, denn ich wusste, am Ende der Feier ging die Party richtig los. Meine Eltern konnten nämlich mit dem Alkohol überhaupt nicht umgehen, im Gegenteil. Meine Mutter, eine Dänin und mein Vater, ein Deutscher, passten überhaupt nicht zusammen, das meinten viele und wir bekamen es zu spüren.

    Unsere Mutter war von zuhause aus sehr frei und mein Vater sehr streng katholisch erzogen. Da knallte es schon von vornherein. Aber wie gesagt, ohne Alkohol funktionierte es.

    Bis zu meinem siebten Lebensjahr hatte ich mein Bett im elterlichen Schlafzimmer. Nur die Jungen teilten sich allein ein Zimmer. Für mich war es normal, bis ich das erste Mal verstand, was ich nicht verstand – das Verhältnis meiner Eltern. Sie hatten, wie gesagt, getrunken und das nicht zu wenig. Ich wurde wach, wie schon so oft, aber ich wusste nicht, warum ich wieder mitten in der Nacht wach wurde. Doch es fällt mir ein, mir war speiübel und ich musste einfach nur kotzen.

    Ich sprang aus dem Bett, ich war etwa vier Jahre alt und übergab mich, nee, ich kotzte mir die Seele aus dem Leib. Und warum? War‘s ein Virus? Nein, dieser Virus war kein normaler Virus, sondern der Virus Angst, Schmerz, Blut und Geschrei. Ja, meine Eltern hatten sich wieder ganz ordentlich geprügelt, beziehungsweise mein Vater hatte meine Mutter in Grund und Boden geprügelt. Ich schrie vor Angst, denn meine Mutter flog an mir vorbei, schreiend vor Schmerz und das Blut spritzte aus dem Mund und aus der Nase. Mein Vater hatte früher geboxt und wusste daher sehr wohl, wo er hinschlagen musste und wie hart.

    Sie lag schreiend und weinend vor Angst zusammengekrümmt in der Ecke. Ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen, nur noch, wie so oft, eine blutige, matschige Masse. Die Augen waren total verquollen und sie stöhnte vor Schmerz. Die Besucher halfen nicht, nein, sie flüchteten vor dem, was sie sahen.

    Ich war entsetzt, bettelte und flehte, sie mögen meiner Mama helfen. Aber vergebens. Mein Vater kam und schlug weiter auf sie ein und ich höre heute noch ihr Geschrei und das Krachen ihres Nasenbeines. Es war so grausam. Inzwischen waren Sven und Christopher auch da, weinten, schrien und brüllten meinen Vater an, er solle endlich aufhören, Mama zu schlagen. Christopher sprang unseren Vater von hinten an und boxte ihm in den Rücken.

    Nach einiger Zeit hörte mein Vater endlich auf und ließ von ihr ab. Sie sah furchtbar aus und weinte vor Schmerz, denn er hatte sie, als sie am Boden lag, auch noch getreten. Ihr Körper war übersät mit Schürfwunden, blauen Flecken und das Gesicht war völlig entstellt. Worum es dieses Mal ging, was wieder vorgefallen war, wusste niemand von uns.

    Wir halfen meiner Mutter auf und setzten sie in einen Sessel. Christopher war sofort mit einer Schüssel lauwarmen Wassers und einem Lappen da, um vorsichtig das Blut, das jetzt klebte, abzuwaschen. Mama stöhnte vor Schmerzen und wir weinten.

    Mein Vater hatte sich in der Zwischenzeit ins Bett gelegt und schlief. Wir waren entsetzt, aber auch froh, denn jetzt ließ er Mama erst mal wieder in Ruhe. Als wir unsere Mutter einigermaßen versorgt hatten, legten wir sie auf das Sofa, damit sie wenigstens ihre Ruhe hatte, denn wirklich schlafen konnte sie nicht. Christopher legte sich auf eine Luftmatratze neben dem Sofa, damit sie nicht alleine war. Ich ging zu Sven und schlief bei ihm, sofern man von Schlaf sprechen konnte. Irgendwann kamen wir zur Ruhe und der Schlaf übermannte uns.

    Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich Sven und sofort fiel mir alles wieder ein. Ich weckte Sven und wir gingen sofort zu unserer Mutter ins Wohnzimmer. Mama und Christopher waren schon wach und sprachen leise. Als wir reinkamen und unsere Mutter sahen, mit dem total verquollenen und völlig blutunterlaufenen Gesicht, fingen wir sofort zu weinen an.

    Sie sagte: „Weint nicht, es sieht schlimmer aus, als es ist. Aber das glaubten wir nicht, denn man sah ihr an, dass jede Bewegung sie schmerzte. Dann fragte sie: „Schläft euer Vater noch? Wir sagten nur: „Das wissen wir nicht, keiner traut sich allein ins Schlafzimmer hinein. Dann gingen wir alle zusammen hin, um nachzusehen. Als wir die Tür öffneten, sahen wir, dass mein Vater gerade aufgestanden war. Er sah uns mit großen und entsetzten Augen an. „Oh mein Gott, sagte er, „was ist passiert, war ich das etwa?"

    Als wir alle weinten und ihm gemeinsam sagten, dass er ein großes Schwein sei, fing auch er zu weinen an. Meine Mutter sagte nur: „Ja, Rudi, wieder einmal." Sie schickte uns raus und sagte, sie wolle mit unserem Vater alleine sprechen. Nach etwa zehn Minuten kamen sie beide zu uns ins Wohnzimmer, setzten sich und erzählten uns wieder einmal, dass so etwas nie wieder passieren würde, es wäre wirklich das letzte Mal gewesen und wir sollten keine Angst mehr haben.

    Wir wollten es so gerne glauben, doch zu oft und immer wieder war es eine Farce, eine Lüge, das wussten wir, wir spürten es förmlich körperlich. Aber eines wussten wir sicher, für circa 2-3 Monate war Ruhe, wenn wir Glück hatten. Vier Wochen waren auf jeden Fall sicher, denn so lange dauerte es etwa, bis unsere Mutter sich wieder draußen sehen lassen konnte.

    Nun kam wieder unser Einsatz, der daraus bestand, den Leuten draußen die tollsten Geschichten zu erzählen. Man muss sich wundern, was einem da alles so einfällt. Unsere Geschichten waren zum Teil haarsträubend, aber wir dachten, immer glaubwürdig. Als wir alt genug waren, wurden wir eines Besseren belehrt.

    Meine Geschichte bestand immer aus dem Teil – meine Mutter sei gestürzt, die Treppen oder über eine Stufe oder Sonstiges. Heute weiß ich sogar, dass ich meine Geschichten selber glaubte. Ich meine wohl, es hängt damit zusammen, dass ich sehr glaubwürdig sein wollte. Es war ja wichtig, nicht durchschaut zu werden, denn das wäre fatal für uns gewesen und auch völlig peinlich. Die Peinlichkeit, die schon da war, durch das Wissen der Leute von draußen, war uns zu dem Zeitpunkt zum Glück ja nicht bekannt.

    Erst mit dem Älterwerden kam auch hier die Erkenntnis dazu. So vergingen die nächsten Wochen ohne Zwischenfälle. Es war Ruhe und wir waren sehr froh darüber, obwohl – richtig entspannen konnten wir nie, denn die Angst steckte tief in unseren Knochen. Unserer Mutter ging es nun auch wieder besser und es war nichts mehr zu sehen. Die Wunden waren gut verheilt und hatten im Gesicht zum Glück keine Narben hinterlassen. Auf ihrem Körper und in ihrer Seele sah es da ganz anders aus.

    Wir verbrachten jetzt auch wieder die Wochenenden auf dem Schiff, das heißt, wir fuhren immer mit der Fähre von Schweden nach Dänemark und das dauerte eineinhalb Stunden. Wir Kinder liebten es, auf dem Schiff und auf dem Wasser zu sein und vor allem, dass wir immer zu unseren Großeltern fuhren, die in Dänemark lebten. Dort fühlten wir uns sehr wohl, vor allem aber sicher und geborgen.

    Das Jahr ging dem Ende zu und der erste Schnee fiel. Wir waren mit den Nachbarkindern draußen vor dem Haus und spielten, als die ersten Schneeflocken fielen. Wir freuten uns alle riesig, denn nun war Weihnachten nicht mehr so weit. Unsere Eltern und Nachbarn kamen auch alle heraus und freuten sich mit uns, das machten sie immer so und uns Kindern gefiel es.

    Weihnachten war für uns Kinder die allerschönste Zeit im Jahr, nicht wegen der Geschenke, wie bei den anderen Kindern, sondern weil wir dann immer Ruhe hatten. Das heißt, meine Eltern tranken keinen Alkohol, es wurde nicht gefeiert, sondern sie gaben uns in dieser Zeit Ruhe und Geborgenheit. Ja, zur Weihnachtszeit waren wir eine Bilderbuchfamilie. Es roch jeden Tag so wunderbar, denn es wurde Wochen vorher gebacken - Kekse, Kuchen, Brote – und die Kinder halfen mit und steckten bis an die Schultern im Teig. Auch unsere Nachbarn waren dabei und wir alle zusammen waren froh und glücklich, sangen Lieder und lachten.

    Diese Zeit hüten wir heute noch genauso. Wir erinnern uns gerne daran, an die Gerüche, an all die Menschen, die dabei waren und an all den Lichterglanz, der im Hause herrschte. Abends wurden dann Geschichten vorgelesen oder wir hockten alle vor dem Radio und hörten Hörspielgeschichten. Sven und ich saßen immer beieinander, denn wir brauchten uns und unsere Nähe immer sehr. Das gab uns eine gewisse Sicherheit, die lange Jahre so blieb.

    Wir bastelten auch immer sehr viel und die Geschenke packten wir dann auch selber ein. Ich erinnere mich, dass wir einen Wachsstift hatten, der wurde über der Kerze warmgemacht, und als er weich wurde, drückten wir ihn an die Enden, die das Paket dann verschlossen. Wir fühlten uns wie Könige, nur dass wir keinen Siegelring hatten, den wir da rein drücken konnten. Auch dieser Geruch von dem warmen Wachs hängt uns zu Weihnachten in der Nase.

    Sven war immer offen und sehr neugierig und immer wieder fand er heraus, wo die Geschenke versteckt waren und er zeigte es mir. Ich war dann immer sehr wütend auf ihn, da ich es nicht wissen wollte und die Vorfreude somit immer einen bitteren Beigeschmack hatte. Aber er lachte nur über mich und machte ordentlich Faxen und so war ich schnell wieder gut drauf und lachte mit ihm. Er konnte mich immer sehr schnell zum Lachen bringen und auch heute noch kann er das sehr gut. Er ist unser Familienkasper und heute bin ich froh, dass er so ist, wie er ist, denn das hat mir all die Jahre sehr gut geholfen.

    Wir feierten Heiligabend immer mit der ganzen Familie und unsere Großeltern waren auch dabei. Wir hatten eine sehr große Wohnung und somit auch Platz für einen riesig großen Tannenbaum. Unser Großvater spielte Mundharmonika und zusammen sangen wir Weihnachtslieder und tanzten um den Baum herum. Diese Erinnerungen sind uns bis heute als äußerst positiv geblieben. In der Vorweihnachtszeit durften wir auch als Lucia-Kinder mitgehen. Wir waren in weiße lange Gewänder gekleidet und hatten einen Kranz mit Kerzen auf dem Kopf, den wir mit aller Freude und Stolz trugen. Monate vorher übten wir mit anderen Kindern, wie man richtig als Lucia geht. Es hat immer sehr viel Spaß gemacht, auch die anderen Kinder waren mit Begeisterung dabei. Es gab immer viel zu lachen.

    Dann näherte sich das nächste Fest, es ging auf Silvester zu. Auch Silvester wurde bei uns kein Alkohol getrunken und wir feierten fröhlich und ausgelassen ohne Angst. Wir wünschten uns, es würde immer so sein.

    Es waren einige Wochen ins Land gegangen, und ich wurde nachts wach. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was los war, nur dass es bei meinen Eltern wieder losging. Ich hörte nur, wie Mama weinte und sagte: „Sei doch leise, die Kleine wird wach. Danach hörte ich noch das Wort „Ficken – sorry für den Ausdruck, aber dieses Wort fiel und ich verstand nicht, was es bedeutete. Ich hielt mir die Ohren zu und weinte leise in mein Kissen, als es furchtbar laut wurde.

    Mein Vater schrie und brüllte und es klatschte nur so. „Du Hure, du Sau, ich werde dir helfen, mit anderen Männern zu ficken und mich nicht ran lassen." Meine Mutter sprang aus dem Bett und flüchtete weinend auf den Flur. Die Jungs waren auch wachgeworden und holten mich aus dem Bett in ihr Zimmer.

    Erst Jahre später erfuhr ich, was in dieser Nacht geschah. Mein Vater wollte mit aller Gewalt mit meiner Mutter schlafen, doch sie wollte nicht, aus Angst, wieder schwanger zu werden, denn sie musste ja mit arbeiten und hätte kein weiteres Kind bekommen wollen, da die anderen Geburten auch nicht gerade leicht gewesen waren. Es war Winter und schweinekalt, da öffnete mein Vater das Schlafzimmerfenster und zwang unsere Mutter, nachdem er sie vom Flur an den Haaren dorthin gezogen hatte, sich nackt auf die Fensterbank zu setzen. Dann holte er Milch aus dem Kühlschrank und übergoss sie mit den Worten: „Wenn du keine Kinder mehr willst, dann brauche ich die Milch ja auch nicht aufzuheben." Meine Mutter saß zitternd vor Kälte und vor Angst da und rührte sich nicht. Sie weinte nur leise vor sich hin.

    Ich bin meinen Brüdern sehr dankbar, dass ich das nicht mit ansehen musste. Nach einiger Zeit hatten meine Brüder unseren Vater endlich zur Vernunft gebracht und er ließ unsere Mutter wieder rein. Dieses sadistische Verhalten traute meinem Vater niemand zu. Ich war immer schwer verliebt und stolz auf meinen Vater gewesen, bis ich alt genug war, zu verstehen.

    Meine Brüder bezogen oft Prügel, die nicht zu verstehen waren und der Hass auf unsere Eltern wuchs mit den Jahren. Wir haben so all die Jahre gelernt, dass Sex und Liebe etwas ganz Schreckliches sind und können heute zum Teil auch noch nicht damit umgehen. Sven ging damals noch zur Schule, wie auch Christopher, und beide hatten dadurch am Tag wenigstens andere Gedanken im Kopf – Gedanken, die einem Kind zustanden, nämlich kindliche und freundliche Gedanken.

    In Schweden hat man ja die Ganztagsschule und auch Sven und Christopher waren von morgens um 8:00 Uhr bis nachmittags um 16:00 Uhr dort. Sie hatten Unterrichtsstunden mit Pausen, und wenn die Schulstunden zu Ende waren, gab es Mittagessen. Danach wurden unter Aufsicht der Lehrer die Hausaufgaben gemacht. Wenn man das alles fertig hatte, konnte man die restliche Zeit auf dem Schulhof spielen, Fußball oder worauf man gerade Lust hatte.

    Im Winter war es besonders klasse, da spritzte der Hausmeister Wasser auf den Sportplatz und verschaffte den Kindern eine richtige Schlittschuh- und Eishockeybahn. Wir haben als Kinder sehr viel Sport gemacht, im Sommer Leichtathletik und vieles mehr und im Winter sind wir Schlittschuh gelaufen, haben Eishockey gespielt, mit richtiger Ausrüstung.

    Ski gelaufen sind wir auch, das haben wir alles sehr früh gelernt, da man ja auch die Winter danach hatte. Im Sommer waren wir sehr viel schwimmen, das haben wir auch sehr früh gelernt, da wir immer von Wasser umgeben waren. Unsere Eltern wollten nicht, dass uns in dieser Hinsicht etwas passierte.

    Es machte uns sehr viel Spaß. Wir hatten auch alle unsere Fahrräder, mit denen wir täglich unterwegs waren. Ja, in der Hinsicht ging es uns gut. Wir hatten sehr viele Freunde, mit denen wir immer gerne unsere Zeit verbrachten. Zudem hatte jeder von uns ein Musikinstrument, das wir auch spielen konnten.

    Christopher war begeisterter Schlagzeuger und Sven spielte Saxofon. Ich hatte mich für ein Klavier entschieden und war überglücklich, auch eines zu besitzen. Ich nahm Klavierunterricht und lernte mit Begeisterung und Freude. Zum Klavierspielen kam ich durch Bekannte meiner Eltern, die auf einem Schiff auftraten, mit dem wir an den Wochenenden von Schweden nach Dänemark fuhren. Die Band bestand aus fünf Leuten – vier Männer und eine Frau. Die Frau trat als Sängerin auf und die Männer spielten ihre Instrumente. Einer der Männer spielte Klavier.

    Da sie oft bei meinen Eltern zu Besuch waren, machten sie natürlich auch bei uns Musik. Der Mann am Klavier, wie ich ihn immer nannte, hatte erkannt, dass ich wohl sehr musikalisch war und auch sehr viel Spaß hatte, zu musizieren, vor allem am Klavier. Er nahm mich auf seinen Schoß und wir spielten zusammen ein Duett.

    Es war so faszinierend für mich und dann hatte ich dieses überaus geliebte Tasteninstrument bekommen. Ich konnte mich dabei in eine ganz andere Welt flüchten, eine Welt, die nicht existierte, in der ich aber unendlich glücklich war, weil es dort nur diese wunderschönen Klänge gab, keine Prügeleien meiner Eltern oder sonst etwas Schlimmes.

    Hier gab es nur Frieden und helle leuchtende Farben und Glücklichsein. Sven und ich machten uns oft auf zu solchen Reisen und wir waren dann ganz enttäuscht und erschrocken, wenn wir ganz plötzlich laut und heftig angebrüllt wurden und wir wieder zu hören bekamen, dass wir dauernd träumten. Es tat immer sehr weh, aber wir beiden hielten zusammen, und wenn wir alleine waren, träumten wir wieder von den schönen Dingen.

    Meine Eltern waren ja beide berufstätig, und da ich erst vier Jahre alt war, hatte ich eine Tagesmutter, bei der ich den ganzen Tag war. Sie war eine ältere, nette Dame, die verwitwet war und deren Mann früher als Kapitän zur See fuhr. Da sie kinderlos geblieben waren, konnte sie die Welt mit ihrem Mann zusammen bereisen und hatte dadurch auch immer viele tolle Geschichten zu erzählen. Das gefiel mir und sie gab mir stets das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Es war sehr schön, dieses Gefühl zu haben.

    Morgens trank sie ihren Kaffee von der Untertasse. Sie goss den Kaffee von der Tasse auf den Teller, nahm ein Stück Würfelzucker in den Mund und schlürfte den Kaffee dazu. Auch ich durfte es probieren und der schmeckte mir und es machte mir sehr viel Spaß, denn ich kam mir so erwachsen vor.

    Was ich nie ertragen konnte, war, wenn sie mich in die Arme nahm und mir über den Kopf streichelte. Ich riss mich dann immer los, versteckte mich, weil ich in Panik geriet und Angst bekam. Ich habe gelernt, dass Liebe nur mit Gewalt zu tun hatte und darauf konnte ich gut verzichten.

    Ich wollte keine Liebe, denn Liebe und Zuneigung bedeuteten auch Schmerz, Verletzlichkeit und Enttäuschung. Darauf konnte ich verzichten. Genauso ging es Sven, der so reagierte wie ich. Die Leute sahen uns oft entsetzt an, denn so eine Reaktion erwartete ja wohl niemand. Da Christopher der ältere von uns war, kam keiner mehr auf die Idee, ihn zu tätscheln oder Ähnliches. Er hatte in dieser Hinsicht seine Ruhe.

    Es war wieder einige Zeit vergangen und wir spürten, dass bald etwas Schlimmes passieren würde. Man hat es im Gefühl, so wie ich heute sage, ein Hund spürt, wenn sein Herrchen wieder nachhause kommt. Meine Großeltern wussten nichts davon, aber ich meine, dass sie etwas ahnten, denn die Zeiten zwischen den Besuchen waren sonst regelmäßig und dann auf einmal total unregelmäßig. Da meine Tante auch in Schweden lebte, ganz in unserer Nähe, kam sie auch mal unverhofft vorbei und bekam dann mit, was los war. Sie war die Schwester meiner Mutter, die ältere, aber die beiden verstanden sich nicht wirklich gut. Wenn sie länger als eine Stunde zusammen waren, dann krachte es und meine Mutter warf sie raus. Sie konnten ohne einander nicht und zusammen schon gar nicht. Meine Tante hatte meinen Großeltern sicher erzählt, was abgelaufen war. Sie haben nie darüber geredet, wenn wir dabei waren, aber ich glaube, sie taten es, wenn sie mit meiner Mutter oder mit beiden Elternteilen zusammen waren.

    Es war wieder mal eines dieser Superwochenenden, wo die Party richtig losging. Wieder wurde Besuch eingeladen und nicht nur der, nein auch der Alkohol bekam Einlass. Wir verzogen uns schon, bevor es richtig mit der Feier los ging, aber wie schon mal gesagt, der Körper spürt förmlich, wann etwas passiert. Die Jungs gingen in ihr Zimmer und ich ins Schlafzimmer meiner Eltern, wo ja leider, muss ich heute sagen, mein Bett stand.

    Irgendwann war ich eingeschlafen. Ich hatte zwar versucht, wach zu bleiben, denn man musste immer wieder auf der Hut sein, um rechtzeitig aus der gefährlichen Zone zu verschwinden. Ich wurde wach, sofort klopfte mir das Herz hinauf in den Hals und ich bekam wieder diese Übelkeit. Im Flur war so ein Lärm und Geschrei, dass ich die totale Angst bekam, denn ich wusste, nun war es wieder so weit.

    Als ich aus dem Bett kroch, fror ich gewaltig, aber nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Ich öffnete die Tür und sofort war Sven bei mir und sagte: „Bleib da drinnen, komm nicht raus und ziehe auf jeden Fall Hausschuhe an." Ich war wie in Trance und tat, was er sagte. Ich bekam, zum Glück muss ich heute sagen und Gott sei Dank, nur das Ende mit von dem, was vorgefallen war. Das war widerlich und machte mir große Angst.

    Ich hörte meinem Vater rufen: „Du Hure, du Drecksau, ich werde dir zeigen, mit anderen Männern rumzuhuren. Was das bedeutete, wusste ich damals nicht, aber ich ahnte, dass es nur etwas Schreckliches sein konnte. Meine Mutter weinte und flehte: „Lass mich jetzt bitte aufhören, ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus und ich blute wie verrückt. Daraufhin öffnete ich die Tür und was ich zu sehen bekam, ließ mir den Atem gefrieren.

    So etwas Perverses hatte ich noch nie gesehen. Meine Mutter lief barfuß den Flur entlang, aber nicht auf dem blanken Boden, sondern auf Glasscherben, die dort in Mengen lagen. Meine Brüder standen an die Wand gelehnt und mussten, wie auch ich, hilflos zusehen.

    Wir weinten und ich schrie, denn wann immer ich Blut sah, stieg in mir die Angst bis zum Halse hoch.

    Mein Vater sah mich an und sagte zu meiner Mutter: „Verschwinde, hau ab! Sie lief, wenn man von Laufen überhaupt sprechen konnte. Sie humpelte von einem Bein auf das andere und ihr Gesicht war schmerzverzerrt und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie ging ins Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne und legte sich hinein. Nun sah man erst das ganze Ausmaß an den Fußsohlen. „Es brennt wie Feuer, hörte ich sie zu Christopher sagen und weinte wieder.

    Wie ich später erfuhr, hatte sie meinen Vater an diesem Abend wohl mit einem anderen Mann betrogen und mein Vater hatte sie dabei erwischt. Den Kerl hatte er verprügelt und aus der Wohnung geschmissen und hatte sich dann anschließend meine Mutter vorgeknöpft. Er hatte sie schon verprügelt, aber das war wohl nicht genug. Er hatte die Gläser aus dem Schrank geholt und sie auf den Boden geschmissen und die Scherben verteilt. Dadurch wurde ich wohl wach. Dann verteilte er die Scherben und zwang sie zur Strafe, barfuß darüber zu laufen. Wie man auf solche Gedanken kommen kann, ist nicht nachzuvollziehen. Kein gesunder Verstand kann das so hinnehmen. Mein Vater verschwand, wir hörten die Tür klappen.

    Wir waren jedes Mal wieder entsetzt, weil er einfach verschwand, aber andererseits auch froh, dann hatten wir Ruhe. Meine Mutter lag immer noch in der Wanne und weinte. Wir ließen sie für einige Zeit alleine, denn wir mussten ja nun aufräumen. Zuerst fegten wir all die Scherben zusammen und danach wischten wir das ganze Blut vom Boden weg.

    Als wir damit fertig waren, kam unsere Mutter aus dem Bad. Sie hatte sich die Füße, die nun zum Glück nicht mehr bluteten, verbunden. Wir räumten auch das Wohnzimmer und die Küche auf, denn es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Als wir alles fertig hatten, setzten wir uns zu unserer Mutter auf das Sofa. Keiner sagte etwas, wir weinten nur still vor uns hin. Nach einiger Zeit fragte sie: „Ist Euer Vater wieder weg? „Ja, sagten wir, „er ist schon lange weg." Das war kein schönes Gefühl, wenn keiner wusste, was mein Vater vorhatte oder wo er zu diesem Zeitpunkt war. Wir wussten nur, dass es gefährlich sein konnte.

    Wir hatten uns auch dieses Mal nicht geirrt. Unser Vater kam gegen Abend heim. Er war sturzbetrunken und brüllte schon im Treppenhaus so laut herum, dass wir zusammenkrochen. Wir hatten eine Scheißangst und das zu Recht. Er kam ins Wohnzimmer und wollte auf uns alle einschlagen. Meine Mutter schrie nur: „Raus hier, raus hier."

    Wir schnappten, was wir kriegen konnten – Jacken, Tasche, Schlüssel – und rannten los. Auch als wir auf die Straße kamen, liefen wir eine ganze Weile. Meiner Mutter taten die Füße so weh, dass sie weinte. Wir hielten ein Taxi an und fuhren zu Freunden, einem Ehepaar, das kinderlos war.

    Dort wurden wir dann erst einmal versorgt und konnten mal wieder eine Nacht in Ruhe schlafen. Die Freunde meiner Eltern waren entsetzt, als sie uns sahen. Sie kannten sich schon sehr lange und hatten auch schon einiges mitgemacht, aber jedes Mal setzte es dem Ganzen noch eine größere Krone der Empörung und Wut auf. Sie versuchten, unserer Mutter klarzumachen, dass sie sich von unserem Vater trennen musste, schon alleine, damit das Ganze nicht mal tödlich für einen von beiden ausgeht und auch wegen uns Kindern. Ich hörte, wie sie sagte, dieses Mal würde sie gehen und es würde kein Zurück mehr geben. Ja, sie war total davon überzeugt, dass sie sich von unserem Vater trennen würde.

    Aber auch das hatten wir schon allzu oft gehört und konnten und wollten es nicht mehr glauben. Wir wurden ja auch älter und nicht dümmer. Nun wurden wir zwei jüngsten erst mal ins Bett gesteckt, nachdem wir gemeinsam zu Abend gegessen hatten. Wir waren froh, denn die letzte Nacht hatte uns ja wieder Einiges abverlangt.

    Dieses Mal konnten wir uns aber für die Menschheit da draußen eine andere tolle, aber glaubwürdige Geschichte einfallen lassen, da meine Mutter dieses Mal nichts im Gesicht abbekommen hatte, sondern am Körper, der von der Kleidung bedeckt war und an den Füßen.

    Am nächsten Morgen saßen wir alle zusammen am Tisch und besprachen, welche Ausrede man dieses Mal nehmen würde. Da sie von allen gleich erzählt werden musste, lernten wir wie Schauspieler, die ihren Text übten und wir lernten schnell. Da unsere Mutter humpelte, leuchtete es allen ein, sie sei dieses Mal wirklich gestürzt.

    Die Freunde meiner Eltern brachten uns am nächsten Tag nachhause, da sie mit meinem Vater sprechen wollten. Als wir ankamen, war er schon auf, aber stinkesauer. Die Laune, die er hatte, verhieß nichts Gutes, obwohl er nüchtern war. Dieses Mal fühlte er sich im Recht, weil er unsere Mutter in flagranti erwischt hatte. Es gab ein stundenlanges Gespräch zwischen den Erwachsenen mit dem Resultat – ab sofort heile Welt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich darüber kaputtlachen. Wir wurden dann dazu gerufen, um zu hören, was die großen den Kleinen zu sagen hatten – es war das letzte Mal, verzeiht mir, es kommt nie wieder vor, der verfluchte Alkohol, blablablablabla.

    Auch unsere Mutter bat uns um Verzeihung für das, was sie getan hatte, denn schließlich war sie ja der Anlass dafür gewesen. Aber egal, was sie getan hatte, Papa hatte kein Recht, immer wieder so schlimme Dinge zu tun. Ich erinnere mich vage, dass die Freunde meiner Eltern völlig entsetzt waren über die Einigkeit und Aussage meiner Mutter. Aber wer war nicht entsetzt und konnte es so hinnehmen – niemand, der bei klarem Verstand war.

    Die Freunde meiner Eltern verabschiedeten sich von uns allen und fuhren dann nachhause mit den Worten: „Ihr solltet in Zukunft vorher überlegen, bevor ihr wieder zum Alkohol greift. In dem Augenblick waren unsere Eltern sich wieder mal einig – das war wieder das wirklich allerletzte Mal, niemals wieder sollte so etwas passieren und niemals sollten die Kinder so etwas zu sehen bekommen. Was wir fühlten und dachten? „Na ja, bis zur nächsten Entgleisung.

    Es vergingen nun, wie immer und jedes Mal, wieder einige Wochen, in denen Ruhe war. Wir waren mit dieser Situation ganz zufrieden und auch, wie man sich vorstellen kann, sehr glücklich. Wir waren ja nun auch um einiges älter und auch (viel zu früh) reifer geworden. Ich war nun schon fast sechs Jahre alt und sollte im Sommer eingeschult werden, worauf ich sehr stolz war und mich sehr freute. Sven war schon in der vierten Klasse und Christopher hatte eine Lehrstelle bekommen in einem Hotel in der Küche.

    Er war sehr stolz und freute sich und war am Anfang sehr fleißig und zuverlässig. Es muss Anfang Januar gewesen sein, als wir wieder mal mit dem Schiff zu den Großeltern gefahren sind. Wir hatten wieder einen wunderschönen Tag und hofften und beteten, dass er auch so ausklingen möge.

    Meine Eltern hatten auf der Heimfahrt einige deutsche Monteure kennen gelernt, mit denen sie dann auch ordentlich feierten. Wir bekamen es wieder mit der Angst und versuchten, unseren Eltern zu sagen – nein, zu bitten – nicht zu trinken und nicht zu streiten. Sie lachten und sagten nur: „Nein, keine Sorge. Es ist alles gut und wir werden nicht wieder streiten."

    Diese deutschen Monteure hatten mit ihrem Gerede unsere Eltern schnell eingelullt und tranken fleißig. Wir hörten nur so ein paar Bruchstücke wie „Deutschland und „Arbeit. Damals konnten wir nichts damit anfangen, da wir kein Deutsch verstehen oder sprechen konnten, auch unsere Mutter nicht. Nur mein Vater verstand alles und übersetzte es unserer Mutter. Wir hatten das Gefühl, dass er ihr etwas ganz Tolles erzählt hatte, denn sie machte ein dermaßen glückliches und fröhliches Gesicht, dass wir uns einfach nur freuten, denn wir dachten nun wirklich, der Tag würde endlich mal ohne Zoff ausklingen.

    Als unser Schiff anlegte, luden unsere Eltern die Monteure zu uns nachhause ein und wir waren entsetzt, denn so fing es ja meistens an, mit allem.

    Als wir dann zuhause waren, wurden wir an den Gesprächen beteiligt – aber nicht, um irgendetwas mit zu entscheiden, sondern um die fertige und beschlossene Story zu hören. Die Monteure hatten meinem Vater gesagt, dass Leute wie er händeringend in Deutschland gesucht würden und auch in der Firma, in der sie arbeiteten. Er würde sehr viel Geld verdienen können, bekäme sofort eine tolle Wohnung und vieles mehr. „Und Kinder, was sagt ihr dazu?", fragte unser Vater.

    Wir fingen an zu weinen und bekamen eine Riesenportion Angst. „Papa hat doch hier so eine gute Arbeit und wir können sogar jeden Tag hingehen und ihn besuchen." Unser Vater hatte zu der Zeit eine gute Stellung im Hafen bei einer großen Firma, wo er sich wohlfühlte, gutes Geld verdiente und super mit allen Kollegen auskam. Also wozu das alles aufgeben? Um irgendwo in der Fremde, wo wir nicht hin wollten, neu anzufangen? Außerdem hatten wir eine superschöne und große Eigentumswohnung, das war doch unser Zuhause und nicht irgend so eine blöde neue Wohnung in Deutschland.

    Meine Mutter hatte einen tollen Job in einem der größten Hotels unserer Stadt, wo auch Christopher gerade eine Lehrstelle bekommen hatte. Alles war auch gut so, warum alles kaputt machen und stehen und liegen lassen? Wir verstanden die Welt nicht mehr. Die Trauer, die Angst, alles wühlte in uns. Sogar Christopher weinte wie verrückt mit uns zusammen. Wenn wir drei zu dem Zeitpunkt gewusst hätten, wo wir landen und was alles auf uns zukommen würde – ich glaube, wir wären weggelaufen oder Christopher und Sven hätten sich etwas angetan. Ich war noch zu klein, um das ganze Ausmaß zu erkennen.

    Ich wollte aber auch nicht fort. Weg von allen Menschen, die mir wertvoll waren – Tante, Onkel, Cousinen, alle unsere Freunde, meine Musikschule, alles, was mir wichtig war. Die Angst wuchs und ließ uns in eine Panikstimmung gleiten, die wir weder verstehen, noch bewältigen konnten. Was sollen wir denn in Deutschland?

    „Wir können kein Deutsch und kennen dort niemanden, riefen wir alle drei aufgeregt durcheinander, aber hörte uns jemand zu? Nein, die lachten und sagten: „Das lernt Ihr dann doch alles.

    Die Ereignisse an diesem Abend überschlugen sich. „Kann ich mein Klavier mitnehmen und bekomme ich in Deutschland Unterricht?, fragte ich. Das war so wichtig für mich und man sagte mir: „Aber natürlich, Kind. Alles, was du willst. Aber mein Inneres bebte und ließ mich zittern, und ich spürte schon damals all die Lügen. Die Jungs hatten auch viele Fragen und Christopher wollte ja weiter lernen und auch Musik machen und auch sie bekamen das Gleiche zu hören.

    Aber wir wollten doch nicht weg aus der geliebten Heimat, warum auch, wir hatten doch alles – Sven die Schule, wo ich bald mit ihm zusammen hingehen würde und ich mich schon darauf freute, unsere ganzen Spielsachen – alles ging uns durch den Kopf, aber es nutzte uns nichts, denn die Großen hatten es schon beschlossen.

    An diesem Abend gingen ich und auch die Jungs völlig zerknittert und aufgelöst zu Bett. Wir quatschten noch eine Weile und dann ging ich in mein Bett. Ich hatte meinen Teddy wie immer mit dabei. Ihm, meinem Nalle, wie ich ihn nannte, erzählte ich die ganze Misere und auch Nalle war unglücklich über diesen Entschluss. Ich weinte mich in den Schlaf, denn ich hatte wieder große Angst vor dem, was alles auf uns zukommen würde. Irgendwann schlief ich ein.

    Dann wurde ich plötzlich wach, schoss aus dem Bett, rannte auf dem Flur und kotzte wieder, dass man meinen könnte, alle Organe kämen mit raus. Dieses Mal waren es nicht die Eltern, die sich prügelten – nein, dieses Mal bekam Christopher von meinen Eltern Prügel, dass ich dachte, das überlebt er nicht. Sven und ich schrien vor Angst und Christopher wurde immer stiller. Er ließ es nicht zu, dass man ihm den Schmerz, der ihm zugefügt wurde, ansah. Wir wussten nicht, was passiert war, hörten nur, wie die Monteure immer redeten und meine Eltern zur Vernunft und Ruhe bringen wollten. Als sie es endlich geschafft hatten, schickten sie Christopher ins Kinderzimmer und sagten, er solle sich nicht ohne Erlaubnis rauswagen.

    Christopher ging mit gesenktem Kopf an uns vorbei und wir sahen seine Tränen. Das tat uns so furchtbar leid. Wir fragten unsere Eltern, warum sie ihn so verprügelt hatten und bekamen zu hören: „Hoffentlich habt Ihr gut hingeguckt, denn diese Strafe bekommt man, wenn man anderen Leuten Geld stiehlt." Ja, Christopher hatte geklaut und wurde erwischt. Die Monteure fanden es nicht so tragisch, aber meine Eltern verloren wieder einmal die Kontrolle. Es war so furchtbar, Christopher hatte einen Hilferuf ausgesandt, aber nicht damit gerechnet, dass unsere Eltern so ausrasten würden. Wir wollten doch nur, wie Christopher auch, zuhause bleiben, wo wir hingehörten.

    So verging dann die Zeit und der Umzug stand vor der Tür. Als es so weit war, Abschied von allen lieben Menschen und der gewohnten Umgebung zu nehmen, das war einfach nur schrecklich. Wir weinten alle und klammerten uns an die Menschen, die wir liebten und nicht verlassen wollten.

    Es war so furchtbar und wir hatten uns in dem Moment, wenn auch unbewusst, geschworen: „So etwas tun wir, wenn wir selber einmal Kinder haben, nicht. Erwachsene wissen einfach nicht, was man Kindern damit antut. Die Großen sehen es nur aus ihrer Sicht, mit den Worten: „Das sind Kinder, die gewöhnen sich schnell um und lernen schnell mit der Situation fertigzuwerden.

    Nur weil die Erwachsenen das schaffen, müssen das die Kinder nicht. Das sind zwei verschiedene Ansichten, die man in keiner Weise vergleichen kann. Wenn ich heute mit Leuten spreche, die irgendwo anders hinziehen wollen, frage ich immer, ob die Kinder das auch wollen und sich freuen. Wenn ich dann dieselben Worte höre wie wir damals, platzt mir der Kragen und ich sage es den Leuten dann auch, was mit den Kinderseelen passieren kann. Viele sind dann erstaunt, weil sie mich so nicht kennen und sprechen mit ihren Kindern und deren Ängsten. Viele waren entsetzt über das, was die Kinder zu sagen hatten.

    Also, Ihr Großen, denkt erst nach, sprecht mit Euren Kindern und handelt dann bitte erst.

    Aber es nutzte uns nichts, wir gingen. Als wir im Zug Richtung Deutschland saßen, waren wir sehr still, denn unsere Angst und die Verzweiflung waren einfach zu groß. Dann kamen wir auf das Schiff und unserer Heimat entfernte sich immer mehr. Danach hatten wir einen Zwischenstopp in Hamburg und meine Mutter sagte: „Mensch, lasst uns hierbleiben, es gefällt mir. Aber mein Vater sagte: „Nein, ich habe in Braunschweig zugesagt und da fahren wir auch hin. Wir waren traurig, denn Hamburg erinnerte uns ein wenig an unser Zuhause in Schweden, so mit Hafen und so. Aber nichts, unser Vater blieb dabei und wir fuhren nach Braunschweig.

    Es war Juni 1961, als wir dort ankamen. Wir waren traurig und entsetzt. Die Stadt empfanden wir als alt, schmutzig und einfach nur furchtbar. Dann kam die Hiobsbotschaft – die Wohnung, die wir sofort bekommen sollten, gab es noch gar nicht. Das war ein Schlag ins Gesicht. Da unsere Eltern in Schweden alles verkauft hatten, war ein gutes Startkapital vorhanden, um neu anfangen zu können. Das heißt Einrichtung und so weiter. Und ich glaubte zu der Zeit noch, dass ich ein neues Klavier bekäme, aber welch ein Irrglauben, genau wie mit der Wohnung, April, April. Wir kamen erst mal in einem Hotel unter.

    Ein Zimmer für uns alle, das war sehr hart. Man fühlte sich eingezwängt und irgendwie komplett abgeschoben. Es war einfach die Hölle. Nun saßen wir dort, fünf Personen, ein Zimmer. Mein Vater hatte sich in seiner neuen Firma vorgestellt und wurde zu unserem Erstaunen auf Montage geschickt und das nach Schweden. Wir wollten mit, nicht hierbleiben, einfach heraus und nachhause, aber das wurde nichts. Unser Vater fuhr auf Montage und wir saßen alleine mit unserer Mutter in einem fremden Land, der Sprache nicht mächtig, allein und verlassen da. Sechs lange Wochen sollten wir so hausen. Es war widerlich. Abends fühlt unsere Mutter sich wohl sehr alleine, denn sie ging nun immer weg. Wir bekamen oft ein Eis im Becher und wurden dann um 18:00 Uhr eingeschlossen.

    Es war noch hell draußen und warm und aus dem Fenster sahen wir Kinder auf den Straßen spielen. Wir waren traurig und weinten viel, denn es war niemand da, mit dem wir reden konnten, außer uns selber. Es war wie im Gefängnis, eingeschlossen und allein gelassen.

    Wenn wir uns bei unserer Mutter beschwerten und weinten, gab es keine Gespräche, sondern nur Stress, sie brüllte uns an und drohte uns mit Schlägen. Schnell waren somit auch die Ersparnisse meiner Eltern verbraucht, meine Mutter hatte wohl sehr gut gelebt.

    Nach sechs Wochen bekamen wir immer noch keine Wohnung, sondern wurden mit den Worten „vorübergehend in einer ehemaligen Militärkaserne untergebracht. „Oh, mein Gott, dachten wir nur, „das kann doch nicht wahr sein."

    So etwas Schreckliches wollten wir nicht erleben und mussten es doch. So etwas wünscht man niemandem, nicht mal dem ärgsten Feind und schon gar nicht seinen Kindern. Wir hatten doch ein wunderbares Heim mit allem, was man sich wünschen konnte. Wir bekamen zwei Zimmer mit einem Ofen darin und einem Waschbecken. Die Toiletten waren auf dem Flur, gegenüber unseren Zimmern. Das war so furchtbar, denn so etwas kannten wir bisher noch nicht.

    In der Kaserne lebten verschiedene Menschen – Russen, Polen, Zigeuner, Deutsche und auch Italiener. Man kann sich nicht vorstellen, was da immer los war. Schlimmer kann kein Horrorfilm sein, was wir in natura erlebten. Jeden Tag etwas Neues, aber so schlimm, dass wir heute noch Albträume davon haben.

    Da unser Vater meist nur kurz da war, um zu sehen, wo wir geblieben sind, waren wir wieder auf uns allein gestellt. Die Sprache konnten wir auch immer noch nicht, denn so lange waren wir noch nicht in Deutschland und es kümmerte sich auch niemand um uns. Wir kannten ja auch niemanden und ein Telefon hatten wir auch nicht mehr.

    Es war zum Kotzen. Zum Tagesablauf kamen aber noch andere Dinge dazu, Gewaltexzesse und Vergewaltigungen. Was wir dort zu sehen bekamen und miterlebten, kann sich ein normaler Mensch gar nicht vorstellen. Unsere Mutter hatte einige Gelegenheitsjobs. Die erste Zeit arbeitete sie meistens bei einem Bauern. Sie wurde, wie auch andere Frauen, in der Früh vom Bauern mit dem Traktor und Anhänger abgeholt und auf das Feld gefahren, wo sie alle ihre Arbeit verrichteten.

    Da Sven noch Ferien hatte und meine Einschulung ja auch erst bevorstand, hatten wir den ganzen Tag Zeit, um uns herumzutreiben. Christopher hatte Arbeit gefunden, der er auch erstmals nachging. Wir hatten ja keine andere Wahl, als herumzustreunen.

    Einige Zeit später lernten wir auf dem gleichen Flur in der Kaserne eine Familie kennen, die auch drei Kinder hatte. Der Älteste war Tim, so alt wie Christopher, Eva war so alt wie Sven und Jürgen so alt wie ich. Obwohl wir uns nur mit Händen und Füßen verständigen konnten, klappte es einigermaßen. Sven, Eva, Jürgen und ich liefen immer die Flure auf und ab, die in den Kasernen ja ellenlang sind.

    Wir turnten an den Treppengeländern herum und erkundeten alles, bis runter in die Kellerräume. Es war alles so dunkel, dreckig und stinkig, dass ich nur noch raus wollte. Aber das ging so schnell nicht, denn wir hatten uns in den ganzen Kellerräumen, die da waren, verlaufen. Ich hatte furchtbare Angst.

    Dann kam ich in einen Raum, der ein ziemlich großes Fenster hatte und man einigermaßen Licht hatte und ich schrie entsetzt laut auf und konnte nicht aufhören zu schreien. Die anderen Drei kamen zu mir gelaufen und fragten, was denn passiert sei und ich konnte nur mit den Fingern in die Richtung zeigen auf das, was ich sah. Die drei schrien genauso entsetzt wie ich, denn das, was wir dort sahen, trieb uns fast in den Wahnsinn. Irgendjemand hatte sechs Katzen getötet und sie am Schwanz auf eine Wäscheleine gehängt. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Es war grauenvoll und wir vier weinten zusammen und liefen schnell fort. Wir nahmen uns alle an den Händen und suchten den Ausgang, den wir dann endlich auch fanden. Dort setzten wir uns auf den Rasen und weinten alle eine Weile.

    Als wir uns endlich beruhigt hatten, wollte ich nachhause, damit meine ich unsere „gemütliche Zwei-Zimmer-Kaschemme, die nun mal unser Heim war. Unsere Mutter war gerade vom Feld heimgekommen und sah unsere verweinten Gesichter. „Was ist denn passiert?, fragte sie uns. Wir erzählten, was wir erlebt hatten und sie versuchte, uns zu trösten, so gut es ging, aber man spürte, dass sie von der Feldarbeit völlig kaputt war und zudem noch einen schrecklichen Sonnenbrand auf dem Rücken hatte.

    Sie hatte uns etwas zu essen gemacht und legte sich dann auf das Sofa, um sich auszuruhen, denn sie war schon um 4:30 Uhr in der Früh abgeholt worden. Sven und ich aßen dann schnell und wollten wieder raus, denn wir waren es gewohnt, immer draußen zu sein und hier war es draußen allemal besser, als drinnen. Wir aßen in unserer Schlafküche.

    Wenn man in das erste Zimmer kam, musste man rechts in das zweite Zimmer gehen. An der rechten Seite war ein Vorhang, dahinter war das Waschbecken, dort standen der Staubsauger und ein Plastikeimer. Der Eimer diente dazu, dass man in der Nacht sein kleines Geschäft machen konnte, denn nachts raus über den Flur und dort auf die Toilette zu gehen, wäre nie etwas geworden, eher wäre ich vor Angst gestorben.

    An der Querwand stand ein alter Ofen und es gab eine Nische, wo man die Kohlen lagern konnte. So etwas kannten wir auch nicht, denn daheim in Schweden hatten wir eine Zentralheizung. Dann stand da ein Bett, an der gleichen Wand wie der Ofen, in dem Christopher schlief. An der linken Wand stand ein Klappsofa, auf dem Sven und ich schlafen mussten. Zwischen Bett und Sofa war ein Fenster, davor stand ein Tisch, den man ausziehen konnte und darin befanden sich zwei Emaille-Schüsseln, in denen man den Abwasch machen konnte. Es war alles so primitiv, dass wir heute manchmal unsere Witze darüber machen.

    Was ich fast vergessen hätte – zwischen Ofen und Bett an der gleichen Wand – hatten wir noch einen Küchenschrank, ein Oberteil und ein Unterteil mit herausziehbaren Fächern für Zucker, Mehl und Salz. Zu dem Tisch gehörten noch drei oder vier Stühle. Im Wohnschlafzimmer stand an der rechten Wand ein Wohnzimmerschrank.

    Dann kam der Fernseher daneben, und in der Mitte, wie auch nebenan, war ein Fenster, vor dem stand ein Sofa mit schräger Kopfstütze. Man konnte ohne Kissen darauf schlafen. Dieses Sofa war gelb und hatte schwarze Punkte und wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. An der linken Wand standen ein Klappsofa und davor ein Wohnzimmertisch und ein Sessel.

    Auf dem Sofa schliefen meine Eltern. Ja, das war wirklich nicht so prickelnd. Wir hatten auch eine Hündin, die wir Susi nannten. Als diese trächtig wurde, hatten wir sechs oder acht Welpen. Wir hatten ihr eine Kiste gebaut und Decken hineingelegt, damit sie in Ruhe ihre Jungen zur Welt bringen konnte. Eines Abends war es dann soweit und ein Welpe nach dem anderen erblickte das Licht der Welt. Es klappte alles perfekt, Susi hatte die Ruhe weg und das war gut so. Als die Welpen dann alt genug

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