Die kulturelle Unterscheidung: Elemente einer Philosophie des Kulturellen
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Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug
Wolfgang Fritz Haug
Die kulturelle Unterscheidung
Elemente einer
Philosophie des Kulturellen
Argument
Berliner Beiträge zur kritischen Theorie
Band 12
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© InkriT 2011; © für diese Ausgabe Argument Verlag 2011
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Lektorat: Jan Loheit
Umschlag und Satz: Martin Grundmann
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 9783867549400
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Feldbesichtigung vorweg
Erstes Kapitel
Kulturtheorien ohne Kulturbegriff
1. Ein erster Blick auf aktuelle Kulturauffassungen
2. Ist ›Kultur‹ nichts als ein ›Diskurs‹?
3. Die ›Kulturelle Wende‹ als Abwendung von der Philosophie
4. Kulturdiskurse zwischen Begriffsnot und Kompromisszwang
5. Wandlungen der Kulturauffassung im ›Postfordismus‹
Zweites Kapitel
Was ist kulturell an der Kultur
1. Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«
2. Kultur-Kategorie vs. Kultur-Begriff
3. Bourdieus Analyse der kulturellen Distinktion
4. Versuch eines praxisphilosophischen Neubeginns
5. Quellform der Kultur
6. Ambivalenz des Kulturellen
7. Valenzen des Schönen
8. Exkurs: Holbeins Kaufmannsportrait von 1532 – Kulturelle Unterscheidung oder Distinktionskultur?
Drittes Kapitel
Materielle Kultur. Eine Problemskizze
1. Die geschichtsmaterialistische Herausforderung
2. Kultur und Kulturen
3. Das Materielle der Kultur
4. Ausgrabungsfund und archäologische Ergänzung
5. Gegenständliche Kultur
6. Konsumkultur der Warenwelt
Viertes Kapitel
Standpunkt und Perspektive materialistischer Kulturtheorie
1. »Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet«
2. Die Frage nach der Spezifik des Kulturellen
3. Lösungsversuch »von den Lebenszwecken her«
4. Instrumentalisierung des Antiinstrumentellen?
5. Überlagerung der Debatte durch die blockierte Diskussion des ›Realsozialismus‹
6. Die Frage nach »erfülltem Leben« in der Arbeit
7. Exkurs: Zum Kulturbegriff des DDR-Lehrbuchs über Historischen Materialismus von 1976
Fünftes Kapitel
Die kulturelle Unterscheidung Zur Diskussion über Kultur und Kulturdefinitionen
1. Vorbemerkung
2. Um welches Schweigen wird herumgeredet?
3. Macht und Schonung
4. Massenkultur
5. Das Paradies des Kolumbus und seine Verwandlung
6. Europa und die »kulturelle Ausnahme«
7. Die kulturelle Unterscheidung
Sechstes Kapitel
Gramsci und die Politik des Kulturellen
1. Das Schweigen zu Gramscis fünfzigstem Todestag
2. Zutritt nur für Übersetzer
3. Società civile und Hegemoniefrage
4. Der Kampf für eine neue Kultur oder Lebensweise
5. Politik des Kulturellen
6. Kultur, die Achse Intellektuelle-Volk und der geschichtliche Block122
7. Elemente der »geistigen Situation der Zeit«
8. Lässt Gramsci sich in die neuen Verhältnisse übersetzen?
Siebtes Kapitel
Entfremdete Handlungsfähigkeit
1. Fitness-Kulte in der Gegenwart
2. Sozialdarwinismus + Syphilisparadigma = Rassenhygiene
3. Selbst-Psychiatrisierung im Alltag
4. Fordistische Selbstnormalisierung und faschistische Subjektmobilisierung
5. Und heute?
Achtes Kapitel
Schicksale der kulturellen Unterscheidung
1. Der Kultur-Effekt der Warenästhetik
2. Widersprüche des kindlichen Konsumismus
3. Jugendliche Subkulturen und Warenästhetik: eine Verfolgungsjagd
4. »Spaß am Widerstand«: die Willis-Lads
5. Nach dem Spaß: Ende des Aufbegehrens im Rahmen der Herrschaft
6. Exkurs (1): Herrschende Kultur, betriebliche Gegenkultur und Stil
7. Exkurs (2): »Kulturwaren« bei Willis
8. Exkurs (3): »Kulturelle Ökonomie«, »Popularkultur« und »Fan-Kultur« bei Fiske
8.1 Ökonomie
8.2 Fan-Kultur als Form von Popularkultur
Neuntes Kapitel
Jeanskultur oder Das Tauziehen zwischen Jugendkulturen, Warenästhetik und Ideologie
1. Jeans als das bürgerlich »Revolutionäre« der Befreiung vom Nazismus
2. Grundlagentheoretisches Intermezzo
2.1 Gegensätze im Reich der ›Werte‹
2.2 Ideologische vs. warenästhetische Subjekt-Wirkungen
3. Ästhetik der Monopolware am Beispiel der Jeans
4. Exkurs: Mord in Jeans
5. Hin- und herwogende Kompromissbildungen
6. Eine para-ideologische Macht
7. Eine ›ausfransende‹ Geschichte
8. Epilog: Wranglers »Wir sind Tiere«
Anhang
Zur Diskussion über die Kultur der Arbeiterklasse
1. Unterscheidung von soziologischem und sozialistischem Kulturbegriff
2. Die Unterscheidung von »Kultur« und »Ideologie«
3. Vorläufige Thesen
Das Volksuni-Konzept
1. Vorwort
2. Gründungsmanifest der 1. West-Berliner Volksuniversität 1980
3. Aus der Geschichte lernen heißt leben lernen (1981)
4. Zum Programm der 3. Westberliner Volksuni (1982)
5. Erinnerung ans Problem einer Volksuniversität Geleitwort zum Programm der 1. Hamburger Volksuni 1983216
6. Nach rechts sehen, links abbiegen! Zur 6. Westberliner Volksuni (1985)
7. Zur Auseinandersetzung um die Göttinger Volksuni (1985)
8. Die neue Volksuni (1990)
9. Drüber & drunter in Deutschland. Zur 13. Berliner Volksuni 1992
10. Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe. S.O.S. Zivilgesellschaft. Zur 14. Berliner Volksuniversität 1993
11. Einladendes zur 15. Berliner Volksuni – an die Linke gerichtet (1994)
12. Zur Eröffnung der »1. Volxuni« des Social Forum Tübingen-Reutlingen (2002)
Sozialistische Volkskultur
Biermanns Volksuni-Konzert von 1980
Fußnoten
Drucknachweise
Siglen
Literaturverzeichnis
Namensregister
Sachregister
Weitere Schriften von W.F. Haug
Feldbesichtigung vorweg
I.
Auf Schritt und Tritt gibt es
zwei historische Notwendigkeiten,
die zueinander in Widerstreit geraten.
Rosa Luxemburg
Es könnte kaum widersprüchlicher zugehen: Kultur gleicht einem Betriebssystem, auf dem alle widerstreitenden Programme der Gesellschaft laufen; zugleich ist dieses Grundlegende dem Kommerz, der es voraussetzt, um den Preis abgemietet, diesem als etwas gefügig zu sein, das abwechselnd Vergnügen zu bereiten oder Würde vorzutäuschen hat. Bei alledem verkörpert ›Kultur‹ einen Anspruch auf Sinn und Erfüllung, der dem Kapital die Herrschaft streitig machen kann. Alle sozialen Emanzipations- oder Befreiungsbewegungen waren und sind zugleich Kulturbewegungen. So zuletzt die weltweite Bewegung, die unter den Losungen »Die Welt ist keine Ware« und »Eine andere Welt ist möglich« aufgetreten ist. Die Achtundsechziger und die neue Frauenbewegung haben regelrecht kulturrevolutionär gewirkt.
Kultur in diesem dritten Sinn existiert nur, solange sie widersteht. Freilich ist damit die Widerspruchsgeschichte, die wir Dialektik nennen, noch nicht zu Ende. Widerstand als solcher ist weder gegen den Umschlag ins Rückwärtsgewandte oder sogar Reaktionäre gefeit noch dagegen, hinterrücks vereinnahmt zu werden, wie es »kaum ein Produkt gibt, das nicht mit Guevaras Konterfei vermarktet« werden konnte (KdW, 348).
Dass solche Widersprüchlichkeit nicht von heute datiert, zeigt eine Bemerkung Johann Gottfried Herders, der als Vater des »modernen Kulturbegriffs« gilt (Perpeet 1976, 1309), in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784. In der Vorrede spricht er distanziert von dem, »was wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten […]. Nichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert?« Damit ist das Stichwort der »Kultivierung« gefallen, in der sich gut bürgerlich aller Fortschritt zur »Humanität« zusammenzieht. Herder sieht die Triebkraft auf diesem Weg, nicht jedoch den in ihr wohnenden Widerspruch¹. Die »Schlussanmerkung« zum 20. Buch beginnt mit der Frage: »Wie kam also Europa zu seiner Kultur und zu dem Range, der ihm damit vor andern Völkern gebühret?« Sie mündet in die Antwort, dass »die neue Kultur Europas […] nur eine Kultur der Menschen wie sie waren und sein wollten« sein konnte, »eine Kultur durch Betriebsamkeit, Wissenschaft und Künste«. – Inzwischen hat die kapitalistische »Betriebsweise« (Marx) der Kultur das bürgerliche Projekt längst ihren Marketingabteilungen zugeordnet. Wenn zur Zeit der Französischen Revolution noch das Kapital als Allegorie der Kultur diente, so dient heute die Kultur dem Kapital als allegorisches Material.
Dieser Umschlag der Kräfteverhältnisse widerfuhr dem bürgerlichen Kulturprojekt nicht von ungefähr. Die Kraft, die die Kultur sich unterworfen hat, ist keine andere als diejenige, die sie zur obersten Kategorie des bürgerlichen Selbstverständnisses erhoben hatte. Die bürgerliche Gesellschaft ist die erste in der Geschichte, die ihr Wesen als ›Kultur‹ ausgesprochen hat. Wie alle anderen frühen Hochkulturen verfügte die klassische Antike weder über einen Begriff von ›Kultur‹ noch einen von ›Kunst‹, obwohl sie doch – in unseren Augen! – beides auf eine Weise geschaffen hat, die der bürgerlichen Gesellschaft seit der Renaissance und vollends der Aufklärung als kanonisches, eben klassisches Vorbild diente. Doch wie das feudale Mittelalter nicht von der Religion leben konnte, so die bürgerlich-kapitalistische Moderne nicht von der Kultur. Gerade weil sie aus ihrem Kerngeschäft das Kulturelle als Autonomes verbannt, wies sie ihm eine eigene Sphäre zu, in der sie ihre Ideale hegte und sich geschichtlich legitimierte. Das macht verständlich, wieso diese illusionäre Form, in welcher der Kommerz sein idealisches Gegenteil unter dem Namen Kultur als sein Wesen vorschiebt, dessen kritischen Anspruch nicht völlig ersticken könnte, ohne es um seine Wirkung zu bringen. Es wirkt nur, solange der Anspruch aufrechterhalten bleibt, dass es um seiner selbst willen an die höchste Stelle gerückt und ein Kult darum betrieben werde.
Angesichts des Ersten Weltkriegs, der bürgerlichen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, schrieb Rosa Luxemburg: »Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« (GW 4, 53) Das ist wahr und doch nur einer der Pole der Wahrheit. Bereits Marx hat allzu pauschal den ›verschönerten Schein‹ der bürgerlichen Verhältnisse verworfen. Auch fürs Sein der bürgerlichen Gesellschaft gilt Hegels Satz, dass ihm »das Scheinen wesentlich« ist. Ernst Bloch hat den Blick darauf gerichtet, wie hier Entwürfe einer anderen Welt zum Vorschein kommen. In ›Kultur‹ und ›Kunst‹ dachten die klassischen Bürger hinein, was über ihre gesellschaftliche Existenzgrundlage hinauswies. Hier deponierten sie ihre Träume. Die Kultur hatte für sie die Nachfolge der Religion angetreten. So wurde die Kultursphäre zum Behältnis künstlerischer und philosophischer Entwürfe, die von der kapitalistischen Grundlage zur bloß illusionären Existenz verdammt sind. Ihr Moment ist nie und immer, ihr Reich nirgends und überall. Dem Geld und der Gewalt gehört jeder Augenblick, »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«² Zugleich weist dieses real und doch nur imaginär, als Bildungsgut Bleibende beharrlich über jene Grundlage hinaus.
Was diese Gesellschaft der Privategoismen an der ›Kultur‹ festhält, ist gerade deren dumpf vorgestellter Gegensatz zu ihr, das Gefühl, Kommerz und Konsum könnten doch ›nicht alles gewesen sein‹. Wenn sie ihr Wesen imaginär in die ›Kultur‹ setzt, so ist dies unwahr, bloßer Schein, doch kann der bloße Schein von Wahrheit mehr von dieser enthalten als das Sein. Wenn nach Luxemburgs Einsicht die »geistige Kultur« immer »eine Schöpfung der herrschenden Klasse« ist und es im Kapitalismus »keine andre Kultur geben [kann] als bürgerliche«, so erklärte sie es aufgrund des Doppelcharakters der bürgerlichen Kultur gleichwohl zur Aufgabe der sozialistischen Arbeiterbewegung, »die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion [zu] schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung [zu] schaffen« (GW 1/2, 367).³
Die bürgerliche Gesellschaft bringt es nicht zu dem Gedanken, dass sie selbst das Problem ist, sondern stellt sich Kultur vor als »Gegensatz zu all dem, was der Reproduktion des materiellen Lebens, überhaupt der buchstäblichen Selbsterhaltung der Menschen dient, der Erhaltung ihres bloßen Daseins«. Adorno, von dem diese noch in der Negation des Bürgerlichen von eben diesem geprägte überallgemeine Formel stammt (Kultur und Verwaltung, 123), kommt daher zu dem Schluss, Kultur sei »überhaupt misslungen« (141). Doch das meint ›Kultur‹ als von den nicht-kulturellen Mächten kolonisierte Illusion. Im Untergrund bleiben Widerstand und Genuss, Kritik und Utopie ihre komplementären Seelen.
Von der Illusion zur Utopie und von dieser über den praktisch-geschichtlichen Entwurf zum Verwirklichungsversuch mag es je ein großer Schritt sein, aber eben doch nur ein Schritt. Dann ist die Illusion, in der eine herrschende Klasse sich über sich selbst täuscht, mit Wahrheit und möglicher Wirklichkeit geladen. Das macht das wie immer verschwommen unter ›Kultur‹ Intendierte zu etwas unabschließbar Umkämpften.
II.
Wer das Andere will, muss
von der Immanenz der Kultur ausgehen,
um sie zu durchschlagen.
Theodor W. Adorno⁴
Die schlichte Frage, was das ist, was Kultur genannt wird, ist im Zuge der Verabschiedung der Metaphysik und ihres unhistorischen Wesensdenkens in Verruf gekommen. Man hat sie durch die Frage ersetzt: »Was meinen wir, wenn wir ›Kultur‹ sagen?« Doch wenn der Gedanke nicht vom Meinen zu den tatsächlichen Verhältnissen und zum konkreten Verhalten in diesen vordringt, liefert er sich den Mächten aus, die das kulturelle Feld kolonisiert haben, und bietet der Welt das Schauspiel einer Kulturwissenschaft ohne Kulturbegriff.
Wer sich mit dem bloßen Wort ›Kultur‹ zufrieden gibt, macht es sich in der Gedankenlosigkeit bequem. Damit ein Wort zum Begriff wird, muss es unter seinem Namen eine theoretische Erklärung zusammenfassen. Dieses Begriffsverständnis ist in dem Maße ›entsorgt‹ worden, in dem man sich mit den Verhältnissen auf Kosten der theoretischen Grundlagen⁵ abgefunden hat. Dabei ist die Begründung, warum sich die Kulturwissenschaftler für ein »nicht widerstands-fixiertes Fachverständnis« (Fluck 2004, 20) entscheiden sollen, immer schon mitwirkender Teil der Wirklichkeit, über die sie objektiv zu sprechen glaubt: »Wenn man fragt, wogegen eigentlich Widerstand geleistet werden soll, dann gibt es keine konkreten Adressaten mehr wie ehemals den Kapitalismus oder die Bourgeoisie, sondern nur noch eine zunehmend diffuse Form von Herrschaft, die von einer radikalisierten Herrschafts- und Kulturkritik als distinktes Merkmal moderner Gesellschaften beschrieben wird.« (19) Abgesehen davon, dass drei Jahre nach dieser Äußerung die Krise den Kapitalismus als Adressaten des Widerstands in Erinnerung gerufen hat, enthält Kultur, strengt man ihren Begriff an, »allem Bestehenden, allen Institutionen gegenüber unabdingbar ein kritisches Moment«,⁶ dem nur Widerständigkeit gerecht wird.
Wie sich das Verständnis dieses kritischen Moments auffrischen lässt, damit es in den verwandelten Verhältnissen erneut Fuß fassen kann – darum geht es in den folgenden Versuchen. Sie dienen dem Anspruch einer philosophisch reflektierten, dabei von der »sinnlich menschlichen Tätigkeit, Praxis« (Marx, ThF 3/5) und den gesellschaftlichen Verhältnissen und Rahmenbedingungen derselben ausgehenden begrifflichen Annäherung ans Kulturelle. Von der Praxis auszugehen verlangt die Aufsprengung des Kulturbegriffs nach dem Vorbild von Spinozas Unterscheidung der je fertig vorfindlichen Natur von der momentan sich bildenden (Ethik I, LS XIX, Anm.). Daher werden wir bereits im Frageansatz zwischen dem praktischen Quellmoment der Kultur und ihren etablierten Formen unterscheiden, in denen sie von gesellschaftlichen Kräften kontrovers beansprucht und von politisch-ökonomischen Mächten und ihren Ideologien umfangen und partiell durchdrungen ist. Was Freud von geschichtlichen Gestalten sagt, gilt allemal für die resultierende Kultur, wie sie empirisch begegnet, und zwar sowohl in ihrem herrschenden Hauptstrom als auch in den subkulturellen Neben- und Gegenströmungen: Alles »scheint […] überdeterminiert zu sein, stellt sich als die Wirkung mehrerer konvergierender Ursachen heraus« (S 9, 554). Nicht anders hat Stuart Hall das Paradigma der frühen Kulturforschung bestimmt.⁷ Das Methodenarsenal ist seither reichhaltiger geworden, doch hinter das Paradigma der Überdeterminierung fallen Kulturforschung und Kulturpolitik, wie sich im theoretischen Handgemenge erweisen wird, nur um den Preis zurück, Akteure der Ideologie und Anhängsel der Ökonomie zu werden.
Wenn nun aber die ›Kultur‹ ein Feld der Interferenz und des Ringens heterogener Mächte ist, dann zieht sich das »Interesse der Freiheit« (Hegel) in die Frage zusammen, was denn nun das originär Kulturelle an der Kultur ist. Unser Standpunkt kann mithin nicht der »Standpunkt der fertigen Phänomene« (Marx) sein. Das bringt uns in Konflikt mit Positionen, die ihre Kategorien unkritisch den herrschenden Verhältnissen entnehmen und das Überdeterminierte en bloc für die kulturelle Sache selbst halten.
Es bleibt nicht bei diesem Zusammenstoß. Indem wir uns anschicken, an dem, was man ›Kultur‹ nennt, das Kulturelle vom Nichtkulturellen zu unterscheiden, stoßen wir ferner mit der von der Kulturpolitik bestärkten Alltagsvorstellung zusammen, Kultur sei ein gesellschaftlicher Bereich, abgegrenzt von anderen Bereichen, die mithin als Nichtkultur aufzufassen wären. Nun stimmen aber im Gegensatz zu dieser Bereichsvorstellung von Kultur die meisten, die sich kulturwissenschaftlich betätigen, ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsunterschiede darin überein, dass sie unter Kultur einen Aspekt oder eine Dimension verstehen, die all jenen abgegrenzten Bereichen als etwas alle Abgrenzungen Durchquerendes zueigen ist, sei es auch in unterschiedlicher Weise und Gewichtung. In der Tat beschränkt sich das Kulturelle nicht auf den ›Kulturbereich‹, und noch weniger erschöpft sich der ›Kulturbereich‹ im Kulturellen.
Nach dem Kulturellen an der Kultur zu fragen öffnet den Blick dafür, dass in dieser andere Mächte mitwirken: Die Kultur ist auch ideologisch und vor allem kommerziell durchdrungen, während das Kulturelle nicht nur im ›Kulturbereich‹, sondern auch in der Ökonomie und der Ideologie, also in der ›Nichtkultur‹ am Werke ist, sei es auch als untergeordnetes Moment. Zumal der Markt – mit der Warenästhetik und den Ästhetikwaren der Kulturindustrie – und auf andere Weise der in Ideologie eingehüllte Staat mit seiner Kulturpolitik wirken als je nach Kräfteverhältnissen mehr oder weniger dominante Mächte auf dem Feld der ›Kultur‹ mit.
III.
Sich allein kann kein Mensch leben,
wenn er auch wollte.
Herder⁸
Der produktiven Bildungsmacht des Kulturellen, die wie ein utopischer Funke am Grunde der menschlichen Realität wirkt, stellen alle gesellschaftlichen Mächte nach. Indem sie immer wieder erstarrt und sich an ›die Kultur‹ verliert, wird sie von den herrschenden Mächten assimiliert. Letzteres hat keiner so klar gesehen wie Walter Benjamin. Die sogenannten »Kulturgüter« begriff er als die Beute, die, »wie das immer so üblich war«, in dem Triumphzug mitgeführt wird, der, als »Erben aller, die je gesiegt haben […], die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen« (Geschichtsphil. Thesen, VII).
Was zunächst wie ein Befreiungsheld erschien, muss also selbst erst befreit werden. Doch es ist nicht so, als würde es bloß darauf warten. Es ist kompromittiert durch seine absolute Plastizität im Dienste eines Selbst, das sich als Zweck setzt.
Im Folgenden geht es unter immer anderen Aspekten um Versuche, das originär kulturelle Moment freizulegen und der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Die falsche Positivität der ›Kultur‹ soll aufgesprengt werden. In dem Maße, in dem es gelingt, der in jedem Individuum und potenziert in den Sozialen Bewegungen lebendigen Lust auf kulturelle Autonomie Begriffswerkzeuge zur Verfügung zu stellen und zugleich dazu beizutragen, das Ringen um kulturelle Hegemonie nicht zur Hegemonisierung des Kulturellen durch die Politik werden zu lassen, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllt haben.
Nach der Theorie des Ideologischen und der Kritik der Warenästhetik schließt der Autor mit dem vorliegenden Buch, das nach der Interferenz dieser Mächte mit dem Kulturellen in der Spannung von Unterwerfung und Widerstand fragt, seine Trilogie zur zeitgenössischen Kultur ab. Einige der Kapitel entstammen der Zeit der Krise des Fordismus und muten die ›Übersetzung‹ in zeitgenössische Materialien und Frontstellungen zu. Im Ringen mit dem sowjetisch geprägten Marxismus-Leninismus ging es damals unter anderem darum, eine neu an Marx, Brecht und die »Linie Luxemburg-Gramsci« (Peter Weiss) anknüpfende geschichtsmaterialistische Kulturauffassung und emanzipatorische Politik des Kulturellen auszubilden. Andere Kapitel tragen die Spuren der Periode des Übergangs zu dem, was inzwischen als transnationaler Hightech-Kapitalismus unseren Alltag bestimmt. Diese älteren Texte sind überarbeitet und in Teilen umgeschrieben. Dass die Wurzeln der vorliegenden Schrift und zumal ihres Leitbegriffs mehr als dreißig Jahre zurückreichen, situiert sie am Gegenpol zu jener beschleunigten Zirkulations- und Veraltungszeit von Kulturthemen, in der eine »regelkreisähnliche Schließung« von Medienkultur und Wissenschaftskultur zum Ausdruck kommt (Lindner 2000, 98). Kein ›Heute neu!‹ bestimmt den Tenor, sondern der Versuch, der emanzipatorischen Seite im Ringen um kulturelle Hegemonie und ihrer Politik des Kulturellen und politischen Kultur zuzuarbeiten. Die aus zwei Jahrzehnten stammenden Texte zur Konzeption der Volksuni zeigen diese als Praxisfeld und spiegeln zugleich den epochalen Übergang jener Jahre.
Danksagung
Eine große Hilfe waren mir die Einwendungen und Anregungen von Thomas Barfuss, Frigga Haug, Peter Jehle und Bernd Jürgen Warneken. Jan Loheit, der das ganze Buch lektoriert und die Register erstellt hat, Ingo Lauggas und Kamil Uludag unterstützten mich darüber hinaus bei der Materialbeschaffung. Daniela Hammer-Tugendhat und Ivo Hammer haben mir mit Ratschlägen zum Holbein-Exkurs geholfen. Martin Grundmann hat mit Geduld und Sorgfalt den Umschlag und die Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.
1 Der Widerspruch kommt nur metaphorisch verkannt vor: In Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« werden Fähigkeiten und Kräfte eines Menschen allegorisch als sein »Kapital« bezeichnet und die Früchte ihres Gebrauchs als dessen »Zinsen«, die nach seinem Tode der Gattung zuwachsen, in der immer aufs Neue »junge, rüstige Menschen […] mit diesen Gütern forthandeln« (Brief 25.8-9).
2 Hölderlin, »Andenken«, SW 1, 475.
3 Darin klingt das Dilemma der frühen Sozialdemokratie an, den kulturellen Rückstand kompensieren und zugleich eine den bürgerlichen Einfluss »neutralisierende proletarische Subkultur« entwickeln zu müssen; das Übergewicht des ersten Aspekts führte dazu, dass die »ideologiekritischen Intentionen« auf der Strecke blieben (Fülberth 1972, 8).
4 Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, 479.
5 »The vocabulary of cultural studies is contested, with no agreement on the basic terms used to describe its field […] the key concepts are unstable, constantly being challenged and revised« (Kellner 1995, 34).
6 Theodor W. Adorno, der diese Einsicht festgehalten hat, bestimmt dieses kritische Moment als den »perennierenden Einspruch des Besonderen gegen die Allgemeinheit, solange diese unversöhnt ist mit dem Besonderen« (Kultur und Verwaltung, GS 8, 131, 128).
7 Unter den Bedingungen des transnationalen Hightech-Kapitalismus bekräftigt Hall dieses Frageraster: »How is the global capitalism inscribed in the culture? How is the culture depending on sophisticated technologised economy? In the articulation of these three moments neither one is reduced to the other and if you don‘t reduce one to the other you have to think of over-determination. The result, the outcome of all these moments is over-determination. That is the paradigm of early Cultural Studies.« (Hall 2008b)
8 Briefe zur Beförderung der Humanität, 25.6.
Erstes Kapitel
Kulturtheorien ohne Kulturbegriff
Vor allem – das ist ein »Passwort« –: wo ist Marx?
Stuart Hall (2008b)
1. Ein erster Blick auf aktuelle Kulturauffassungen
Dass ›Kultur‹ als Allerweltswort fungiert, ist oft bemerkt worden. Seine Vieldeutigkeit spiegelt die »Inkompatibilität der vielen Denklinien, die historisch im selben Ausdruck zusammengekommen sind« (Bauman 1973, 1). Die einen verstehen darunter alles, was nicht Natur ist;¹ andere haben das konkrete Wie menschlicher Lebensgestaltung im Sinn; dritte engen die Bedeutung weiter ein auf »symbolisches Handeln« (Geertz 1987, 16)², wieder andere auf Wertsysteme. Oft bedeutet die »›cultured‹ person«, also der ›Gebildete‹, schlicht das Gegenteil des ›Ungebildeten‹, »the ›uncultured‹ one« (Bauman 1973, 7). ›Kultur‹ ist dann einfach ein anderer Name fürs Reich der ›höheren Bildung‹ oder, enger noch, der ›Kunst‹. Die erste Bestimmung mit der Entgegensetzung Kultur/Natur umfasst so viel, dass sie nichtssagend wird. Die zweite, nicht weniger umfassend, etwas konkreter fragend, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht (darauf gehen wir gleich näher ein). Die dritte bleibt in der Symbolabstraktion³, die vierte im Wertehimmel hängen: Es ist der Blick von oben, der daraus, dass das Kulturelle den Menschen etwas bedeutet oder für sie wertvoll ist, den Vorgang entobjektiviert und entmaterialisiert und nurmehr Zeichen und Werte übrigbehält. Dadurch verkehrt sich deren Abstammung vom Konkreten in dessen Ableitung aus ihnen.⁴ Wie ein Gleichnis dafür liest sich eine Beobachtung des mexikanischen Schriftstellers Rafael Argullol: Eingeladen zur Feier anlässlich der Verleihung des Titels »immaterielles Weltkulturerbe« an die mexikanische Küche, stieß ihm die idealistische Verhimmelung auf, da ihm wie jedem, der seine Sinne beisammen hat, »die äußerst wohlschmeckende mexikanische Küche kaum ›immateriell‹ erschien« (2010). Das Kunstparadigma von Kultur schließlich verliert die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder aus dem Blick, und indem sie die nach Klassenlage gestufte Kultur »anhand einiger geweihter Objekte« beredet (Althusser 1967/1985, 46), legitimiert sie damit indirekt die Herrschaftsverhältnisse.
Am klarsten scheinen die Ethnologen zu sprechen, die davon ausgehen, »dass Kulturen immer im Plural existieren« (Hauck 2006, 7). Der den Sinn bestimmende Gegenbegriff zu Kultur ist damit weder die Natur noch die Kulturlosigkeit, sondern die je andere Kultur. Das war relativistisch-befreiend angesichts eines Universalismus, dessen Gewalt-, ja Vernichtungspotenziale gegen das Besondere ans Licht getreten waren. Doch dann hat das Blatt sich wiederum gewendet, und der »ursprünglich ausdrücklich als Gegenbegriff zu dem der Rasse« in die US-amerikanische Sozialwissenschaft eingeführte pluralisierte Kulturbegriff hat »den Rassebegriff abgelöst als zentrales Rechtfertigungsargument für Diskriminierung und Unterdrückung aller Art« (8). Dagegen kämpft heute der Mainstream durch die Dekonstruktion homogener Ethno-Vorstellungen an, indem er querliegende Teilungen und Verbindungen (nach Klasse, Geschlecht usw.) oder transnationale Intellektuellenkulturen herausarbeitet, Elemente sozialer Konstruiertheit in Selbst- und Fremdbildern von Ethnizität hervorhebt, sowie gegenüber statischen Auffassungen von Kultur deren Fluidität betont als eine in der praktischen Aneignung stets mitvollzogene Umgestaltung.
Die ›Pluralität der Kulturen‹ wanderte von der Ethnologie – im ›kulturanthropologischen‹ Sinn einer Kunde von fremden Völkerschaften – zur ›ethnomethodologischen‹ Erforschung der eigenen Gesellschaft, zur »Binnenethnologie«, als deren »wohl wichtigste Zielsetzung […] das Dolmetschen« zwischen »Klassen und Schichten komplexer Gesellschaften« gelten kann (Warneken 2006, 340). Den Platz der Kulturtheorie nimmt dann die ›Ethnographie‹ ein.⁵
Werden wir mit Paul Willis (2009, 149f) aus theoretischen Klärungsversuchen in die überwältigende empirische Positivität des Faktischen flüchten und in die Rede von einer »Kultur, die […] eher anthropologisch als ›Lebensweise‹ zu verstehen ist«? Die Berufung auf Raymond Williams versieht diese Gegenstandsbestimmung zunächst mit einem Vertrauensvorschuss (wir kommen darauf weiter unten zurück) – und tatsächlich scheint sie auf den ersten Blick einiges für sich zu haben: Theoretisch grundlegend zu klären, was man mit ›Kultur‹ im Unterschied zu Gesellschaft oder Lebensweise sagen möchte, wird man sich im empirisch ertragreichen Geschäft der vergleichenden ›Kulturen‹- oder Lebensweisenbeschreibung doch nicht zusätzlich aufladen wollen. Hat man nicht in der Lebensweise ein handfest-empirisch Gegebenes als soliden Forschungsgegenstand? Doch abgesehen von der »(unvermeidlichen) Selektivität in der Gegenstandswahl und ihrer Begründung« (Fluck 2004, 21) beschreibt keine Beschreibung je nur, jede wählt aus und deutet. Nachdem man Wittgensteins »Die Welt ist alles, was der Fall ist« gleichsam in »die Kultur ist alles, was Lebensweise ist« übersetzt hat, schlägt diese Entgrenzung die Beschreibung mit Blindheit für das, was sie wirklich tut. Denn da, wie Kant aufgezeigt hat, Anschauung ohne Begriffe blind wäre, öffnet diese Uferlosigkeit unthematisierten Begriffen die Tür, die bestimmte Dimensionen oder Momente der Lebenspraxis herausheben, andere Momente oder Zusammenhänge ausblenden. Eine Ahnung davon macht sich breit angesichts der Talkshow-Einladungen »zu Themen, die vom Osterhasen über urban legends bis hin zu den neuesten Stämmen der Postmoderne reichen« (Lindner 2000, 97). In der Regel ist es die Ideologie, die hinterm Rücken des gesunden Menschenverstands eintritt, falls man sich nicht einem momentan virulenten Theorieparadigma unterstellt, während die von Marx ins Bewusstsein gehobenen Mechanismen des Kapitalismus, der Klassengesellschaft und der ideologischen Herrschaftsreproduktion wie von selbst aus dem Blickfeld verschwinden.
Oft fasst man Kultur dann mit einer dem Denken der Warengesellschaft besonders eingängigen Kategorie als »System von Werten«, ohne zu fragen, wie dieser Wertehimmel aus den irdischen Verhältnissen im Sinne »praktischer, also durch die Tat begründeter Verhältnisse« (Marx, 19/362) aufsteigt und sich als ideelle Entsprechung und Legitimation gesellschaftlicher Herrschaft verfestigt. Der Wertebegriff fasst das Resultat und verfehlt den Prozess, woraus es resultiert. Und was mehr ist, er artikuliert dieses Resultat in der Sprache der vom unmittelbaren Arbeitsprozess abgehobenen und ihm hierarchisch vorgesetzten Gesellschaftsschicht. Kurz, der Wertbegriff gehört der Herrschaftssprache an, die auf Grundlage der ›horizontalen‹ Arbeitsteilung die ›vertikale‹ Teilung zwischen »der materiellen und geistigen Arbeit«⁶ voraussetzt. Darin gründet, was man den strukturellen Idealismus der Klassengesellschaft selbst nennen kann.
Als Gegenbewegung zu diesem strukturellen Kulturidealismus erscheint auf den ersten Blick die Hinwendung zur sogenannten »materiellen Kultur« (vgl. dazu das dritte Kapitel). Doch sie distanziert sich nicht so sehr von solchen und anderen Formen des Kulturidealismus, als dass sie sich als deren Ergänzung andient, wie ja auch ihr Name von dem der ›immateriellen Kultur‹ zehrt.⁷
2. Ist ›Kultur‹ nichts als ein ›Diskurs‹?
Was erfahre ich über die Sache ›Kultur‹ selbst, wenn ich eine Typologie der Kulturauffassungen aufstelle? Ich weiß nicht einmal, ob es eine solche Sache überhaupt gibt, und kann also ebenso wenig sicher sein, dass es sich lohnt, vom Kulturbegriff so viel Aufhebens zu machen. Zwar gibt es wohl keinerlei Sozialkategorie, deren Deutung unumstritten wäre. Auch über Ökonomie oder Staat oder selbst Klassengesellschaft sind kontroverse Auffassungen im Umlauf. Doch bei solchen handfesten Realitäten verhält es sich eher wie in dem Bild, das Leibniz gebraucht, um die Standortgebundenheit der einzelnen Sichtweisen mit der Leitvorstellung absoluter Wahrheit zu versöhnen, und zwar im Sinne einer Mit-Möglichkeit, compossibilité, einander bedingender Möglichkeiten: Es ist, als blickten die Einzelnen von unterschiedlichen Stellen auf eine Stadt – wir können ergänzen: mit unterschiedlichen Interessen. Von jedem Standpunkt und jeder Sichtweise zeigt sich etwas anderes, und doch zweifelt niemand an der Existenz der Stadt. Selbst wenn jemand etwa die Existenz der Klassenverhältnisse bestreitet, lugt das Verleugnete mitsamt dem Interesse an seiner Verleugnung aus deren fadenscheiniger Textur.
Anders, bodenloser bei der ›Kultur‹. Sie scheint Wittgensteins resignierten Freibrief in Kraft zu setzen: »Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat.« (W 5, 52) Doch die Frage gibt keine Ruhe: Wieso gibt jemand dem Wort ›Kultur‹ diese oder jene Bedeutung? Welche interessierten oder bewusstlos ideologisierten Blickrichtungen sind da am Werk? Könnte es sein, dass es hier umgekehrt wie in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern zugeht, wo die ›Gebildeten‹ ihren Kotau machen vor der wundermodischen Einkleidung der Herrschaft, bis ein ungebildetes Kind die einfache Wahrheit ausspricht: »Der Kaiser hat ja gar nichts an.« Könnte es sein, dass im vorliegenden Fall ›Kultur‹ nichts als eine ›diskursive Einkleidung‹ ist, in der nichts Substanzielles eigenen Rechts steckt? Oder gibt es für diesen Diskurs doch ein – trotz aller Verschiedenheit – gemeinsames Fundament in der Sache? Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dann nicht unseren Klärungsversuch abbrechen?
In dieser Sackgasse verspricht ein anderes von Wittgensteins Bildern uns zur Hand zu gehen, nämlich das von der »Familienähnlichkeit« (W 5, 37 u. 41). Auf dem Rückzug aus der Wesensmetaphysik räumt es Allgemeinbegriffen einen pragmatischen Status ein. Schauen wir uns das Bild näher an: Keine zwei Individuen einer Großfamilie sind einander vollkommen gleich, doch die einzelnen Züge streuen sich in immer neuen Kombinationen. Selbst zwei Individuen, die völlig unterschiedliche Züge haben, können jeweils einen Zug mit einem dritten Individuum gemein haben, das mit jedem der beiden zumindest einen seiner charakteristischen Züge teilt. Über diese dritte Person vermittelt sich dann die Familienzugehörigkeit der beiden ersten. Wittgenstein legt ein zweites Bild darüber, das Bild vom Spinnen eines Fadens, wobei wir »Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.« (Philos. Untersuchungen, §67, W 1, 278) Freilich lassen sich über solche vermittelnden Teilgemeinschaften die Grenzen des »Fadens« wie auch der »Familie« immer weiter hinausschieben, bis tendenziell Alles dazugehört. Das ist jedoch nur eine andere Weise zu sagen, dass keines mehr zu etwas Bestimmtem gehört.
Oder trägt der Griff, der ein Allerlei als ›Kultur‹ zusammenfasst, die Handschrift des Staates oder einer der an ihn angelehnten Verwaltungen? »Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert.« So sieht es Adorno in einem Essay von 1960, der zur Orientierung von Kulturredakteuren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedacht war. Zugleich sieht er ›Kultur‹, »gerade nach deutschen Begriffen, der Verwaltung entgegengesetzt. Sie möchte das Höhere und Reinere sein, das, was nicht angetastet, nicht nach irgendwelchen taktischen oder technischen Erwägungen zurechtgestutzt ward.« Doch sieht er nur allzu deutlich, »wie sehr die hundertmal zu Recht kritisierte Kategorie der Welt wie sie ist,