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Fahlmann: Roman
Fahlmann: Roman
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Fahlmann: Roman

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About this ebook

Georg Fahlmann steht unter Druck. Das Studium, die Ehe, der zermürbende Job im Bestattungsunternehmen seines Onkels und insbesondere die Frauen: Es wird ihm alles zu viel. Viel lieber schreibt er an seinem historischen Kriminalroman, der vom Käferforscher Carl Richard Bahlow auf einer paläontologischen Expedition in Deutsch-Ostafrika handelt. Aber je länger Fahlmann an seinem Roman arbeitet, desto brüchiger wird das, was er bis dahin für Realität hielt. Wer erfindet eigentlich Bahlow? Und wer erfindet Fahlmann? Und überhaupt: Wer erzählt das ganze Buch? Und wieso scheint sich in einem heruntergekommenen Pariser Hotel, dessen Räume ständig ihre Position verändern, das gesamte Romanpersonal versammelt zu haben? Unterhaltsam, komisch, anspielungsreich, vielschichtig und hintersinnig – Christopher Eckers ebenso spannender wie kunstvoller Roman über Toplyriker in Tierkostümen, skandalöse Zwischenfälle im Bestattungswesen, käferessende Entomologen, allmächtige Leierkastenmänner, durchsichtig werdende Schönheiten und einen Botaniker, der das Schicksal des Planeten in den Händen zu halten meint, lässt die Welt noch einmal eine große Erzählung sein.
LanguageDeutsch
Release dateApr 11, 2013
ISBN9783954620906
Fahlmann: Roman

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    Book preview

    Fahlmann - Christopher Ecker

    CHRISTOPHER ECKER

    FaHLMaNN

    roman

    mitteldeutscher verlag

    Zu diesem Roman ist unter dem Titel Liebeserklärung an eine Zielscheibe ein Materialienband erschienen, der über den Verlag oder den Buchhandel bezogen werden kann.

    2012

    © mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

    www.mitteldeutscherverlag.de

    Nachdruck, auch auszugsweise verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Recht zur fotomechanischen und digitalen Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages.

    Lektorat: Dr. Kai U. Jürgens

    Umschlagabbildung: © Cosmin Manci - Fotolia.com

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

    Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle

    ISBN 9783954620906

    INHaLT

    Cover

    Titel

    Impressum

    INHaLT

    BaND EINS

    VOM HERaUSGEHEN AM TaGE

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    BaND ZWEI

    DaS LEBEN IN SPITZBERGEN

    1

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    BaND DREI

    DER SCHRIFTSTELLER BEI DER aRBEIT

    1

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    5

    6

    7

    8

    9

    BaND VIER

    DIE FaLSCHE ETaGE. ROMaN

    EINE SONNENBRILLE FÜR MNEMOSYNE

    ZWEI FLIEGEN MIT EINER KLaPPE

    SCHWULITZER BLUES

    DER GROSSE URINELLO

    DIE MENSCHWERDUNG THOMaS WINKLERS

    DER aLLGEGENWäRTIGE NäGELE

    OH, WIE FERN IST DaGOBAH (MEDLEY)

    DIE STaDT DEHNT SICH aUS

    GROSSE GLOCKEN

    MNEMOSYNE NIMMT DIE SONNENBRILLE AB

    WOHLaN, ER SEI DEINER HaND ÜBERLaSSEN

    DaS MaIGLÖCKCHEN-DILEMMa

    VIERMaL HEINZ

    DER KaNZLEIBEaMTE DES HERRGOTTS

    DER REST DES aBENDS OHNE TON

    BaHLOW MaCHT SICH EINEN SCHÖNEN LENZ

    MaNCHEN GENÜGT DER MEIERHOF

    GEORG DUCK WIRD SUPERBOMBE

    WIE ICH DEM NaCHTKOCH EIN SCHNIPPCHEN SCHLUG

    aCHIMS FICKE

    GRECH

    FLÜSSIGES GOLD

    DIE EXISTENZ VON SPITZBERGEN

    HEITERES ZWIESCHENSPIEL

    DER GEBORENE METHODICUS

    DER WEISS-HaaR-MaNN ZIEHT DIE aRSCHKaRTE

    SIEBZIG ZEILEN MEHR!

    IM KOHLENKEHLER

    STRIGaLJOW MACHT SICH NOTITZEN

    MEGaBUICK NON CRaWEL

    SILVERBERGS MULTISPaNNEN-LOGIK

    BUT aS I WaLKED DOWN VERE STREET

    DaS ENDE DER SCHWaRZEN LISTE

    MIT KaRaCHO IN DEN NäCHSTEN BaND

    KaTZENSCHaTTEN IN PaRIS

    POTPOURRI aUS DEM NOTITZBUCH

    WaLG NaSTRaNZ QWaMBaT OG

    DER UNENDLICHE ZaUBERTEPPICH

    TOPLYRIKER IN TIERKOSTÜMEN

    KIMMUNGEN

    DIE NaCHRICHTEN- aUS-DER-WELT-DES-GEISTES-SHOW

    DENN ER VERLOR SIE GERN

    VON UNGLÜCKSKREISEN UND HÖLLENKATZEN

    HERR PRESSER WIRFT DEN SPATEN

    EWIGER SOMMER

    WITZE, WITZE, WITZE

    NaCHTSTÜCK MIT WaCHTMEISTER

    IM ZEICHEN DER URNEN

    aLTES HaUS, EIN SPIEL

    WER HaT aN DER UHR GEDREHT?

    NEMESIS FaHLMaNNIENSIS

    LIEBESERKLäRUNG AN EINE ZIELSCHEIBE

    DaS GLÜCK IN DER FREMDE

    KINDERGEBURTSTaG IN HELL

    EN OGFRG KRIIN

    DaS aUSRICHTEN DER KaRTEN

    LEIDEN EINES SEEHaSEN

    LETZTE INSTRUKTIONEN

    aBSCHIED

    BaND FÜNF

    DER WIND IN FaHLMaNNS UHR

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    BaND EINS

    VOM HERaUSGEHEN

    aM TaGE

    1Mein Vater starb, als er sich nach einer Schachtel Zigaretten bückte. Genauer gesagt, bückte er sich nach einer zerknautschten Schachtel Gauloises ohne Filter, und da Heinz der einzige von uns war, der filterlose Gauloises rauchte, kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, wie er am Abend des Vortags den Helm aufgesetzt hatte, sich nach getaner Arbeit eine Zigarette anzündete, die Schachtel achtlos fallen ließ und auf seiner Vespa davon knatterte. Ich gebe ihm jedoch keine Schuld am Tod meines Vaters. Heinz hat eine leere Zigarettenschachtel weggeworfen – nichts weiter!

    Mein Vater war ein Pedant: Scharfe Bügelfalten, korrekte Manieren, glatter, pomadisierter Scheitel, Rabattmarken, der Schnurrbart dicht über der nervös zuckenden Oberlippe gestutzt. Er war jemand, der aus heiterem Himmel beschließen konnte, die Gewürze alphabetisch zu ordnen. Ich erinnere mich gut an die erbitterten Diskussionen, die der Umsetzung dieses Plans vorausgingen. Vater plädierte nämlich dafür, Jodsalz unter J einzusortieren und Chilischoten unter C, was ich (ich war damals neun oder zehn Jahre alt) für ausgemachten Blödsinn hielt. Jodsalz müsse man unter S wie Salz einordnen, argumentierte ich schlüssig, und Chilischoten gehörten zu P wie Pfeffer.

    «Nein, nein, nein!», sagte Vater leise und zupfte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackett.

    «Oberbegriffe, Armin!», sagte Mutter und ließ das Buch sinken. «Es geht um Oberbegriffe. Der Junge hat vollkommen recht!»

    Nach ihrer überraschenden Einmischung stand es 2 : 1 gegen Vater, doch er gab nicht auf. Er gab nie auf, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. «Nehmen wir mal an, ihr sucht das Jodsalz. Sucht ihr es dann unter S? Hieße das Jodsalz Sodsalz, müsste ich euch recht geben. Kein Problem. Aber Jodsalz heißt nun mal Jodsalz. Dafür kann ich nichts!» Sein Seufzer zollte den ungeheuren Leiden all derer Tribut, die sich in großherziger Selbstaufopferung bemühen, unsere unvollkommene Welt ein wenig vollkommener und übersichtlicher zu machen. «Wieso wollt ihr mich nicht verstehen? Wenn man Chilischoten sucht, sieht man dann bei den P-Gewürzen nach oder», seine Stimme wechselte die Tonlage und drang in listige Gefilde vor, «nicht etwa bei den C-Gewürzen?»

    «Aber wir wissen doch, wo alles steht», warf ich ein.

    «Nein, mein Junge», sagte Vater im Tonfall resignierten Tadels, den Blick auf die Spitzen seiner Lackschuhe gesenkt, «so leicht dürfen wir es uns nie machen.»

    Vater hat es sich im Leben nie leicht gemacht. Bei Spaziergängen las er Bonbonpapierchen und Zigarettenkippen auf, und sah er irgendwo die Ankündigung einer Veranstaltung, die bereits stattgefunden hatte, riss er den Anschlag mit einem Ausdruck ungläubigen Zorns von der Plakatwand. Als er starb, war ich erwachsen und stand am Fenster meiner eigenen Küche, wo die Gewürze weder sortiert waren noch sich überhaupt auf einem Gewürzbord befanden. Ich hielt eine große Tasse Kaffee in der Hand, pustete hin und wieder auf die schwarz spiegelnde Oberfläche und war zu faul, mich mit Susanne zu unterhalten, die hinter mir mit der Zeitung raschelte. Ich sah hinab in den Hof. Genauer. Ich muss mich genauer erinnern, auch wenn es schwer fällt. Meine Konzentration ist heute nicht die beste. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, eine Etage und mehrere Jahre über den Jodsalz- und Chilischotendiskussionen meiner Kindheit. Meine Eltern bewohnten zwar noch immer das Erdgeschoss, aber ich war inzwischen mit meiner eigenen dreiköpfigen Familie, deren jüngstes Mitglied sich um diese Uhrzeit im Kindergarten aufhielt, in den ersten Stock gezogen, den Vater, bis ich – übrigens keine Spur reumütig – in mein Elternhaus zurückgekehrt war, an die Familie Bahlow vermietet hatte. Das klingt verwirrend. Mehr dazu später, wenn ich es nicht vergesse.

    Am Küchenfenster bot sich mir die Aussicht auf die schmutzig-graue Ostwand des Gebäudes, das in einer Entfernung von gut zehn Metern den Hof begrenzte und die Einnahmequelle unserer Familie beherbergte. Das schwarze Schild mit den Goldlettern war allerdings nur von der Straße aus zu sehen: Es überspannte zwei Schaufensterscheiben, hinter denen schwere, bodenlange Vorhänge den Passanten die Sicht ins Gebäudeinnere verwehrten. Die halbherzige Dekoration (einige staubige Urnen, einige staubige Grablaternen) verwies auf die Art des Gewerbes, das hier ausgeübt wurde. Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann, stand auf dem Schild, und darunter: Erd-, Feuer- und Seebestattungen. Vater hatte das Unternehmen in den späten fünfziger Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder aufgebaut. Vater kümmerte sich um die Verwaltung, und Onkel Jörg, ein überzeugter Junggeselle, der nicht so zart besaitet war wie sein Bruder, fuhr den Leichenwagen, sargte ein und widmete sich dem kniffligen Handwerk des Präparierens. Bei all diesen Tätigkeiten ging ihm Heinz zur Hand, der ein noch weitaus vierschrötigeres Naturell als mein Onkel besaß.

    Heute erscheint es mir mehr als nur merkwürdig, dass mein empfindlicher Vater auf die Idee gekommen war, Bestattungsunternehmer zu werden. Bei einem Sonntagsspaziergang hatte er sich einmal heftig (fast hätte ich geschrieben: orgiastisch) übergeben, weil er beinahe in einen feucht schillernden Haufen Hundescheiße getreten wäre. «Du bist nicht mal reingetreten!» Mutter konnte es kaum fassen. «Stell dich nicht so an! Wärst du reingetreten …» – «Bitte, Marianne, sei still! Hack nicht länger drauf rum!» Vater lockerte den Kragen, löste den Knoten der Krawatte und wischte sich Schweißperlen von der Oberlippe. «Du machst es nur noch schlimmer! Oh, ich darf gar nicht dran denken, sonst wird mir wieder schlecht.» Diese Begebenheit hat mich vermutlich so stark beeindruckt, weil sich hier das Vaterding in den tadellosen Anzügen, das als ständigen Vorwurf gute Manieren zur Schau stellte, kurzfristig in einen richtigen Menschen verwandelt hatte. Allein die Tatsache, dass sich mein Vater wie ein normaler Mensch übergab und wie alle übrigen Menschen einen – wenn auch übertriebenen – Ekel vor gewissen Dingen empfand, ließ damals in mir eine zarte Hoffnung keimen. Aber in aller Öffentlichkeit auf den Gehweg zu kotzen und seinen Sohn vor dem Zubettgehen in den Arm zu nehmen, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Doch ich schweife ab. Vom Fenster aus sah ich also nicht das der Straße zugewandte Ladenschild, sondern nur die auf den Hof hinausgehende Eingangstür des Beerdigungsinstituts, auf deren getöntem Riffelglas ein ehemals weißes Papprechteck die Geschäftszeiten verriet. Rechts neben der Tür starrte ein schwarz verhängtes Fenster ins Leere. An das Institut schloss sich das lang gestreckte Lager an, flaches Dach, getönte Scheiben, und daran fügte sich wiederum die den Hof im Norden begrenzende Garage wie der obere Balken eines F’s.

    Unser eigenes Haus war demzufolge, um dieses Bild beizubehalten, ein Punkt, der das bauchbalkenlose, aus einem schmutzig-grauen Beerdigungsinstitut, einem geduckten Lager und einer breiten Garage bestehende F in eine Abkürzung verwandelte. F kürzte natürlich den Namen «Fahlmann» ab, und dass ich diese Beobachtung bereits als Kind gemacht habe, führe ich heute allein auf mein für Anfangsbuchstaben geschultes Auge der Gewürzbordphase zurück. Als mein Vater starb, stand ich also am Küchenfenster, pustete auf den Kaffee, der noch zu heiß war, um einen ersten Schluck zu wagen, und sah, wie Onkel Jörg das Büro verließ. Schwarz gekleidet und erstaunlich früh – er war wie ich ein Spätaufsteher – ging er zum Leichenwagen, der mit der Schnauze das geschlossene Garagentor beschnupperte. Onkel Jörg brüstete sich häufig damit, der einzige Bestattungsunternehmer der Stadt zu sein, der einen Ford Transit fuhr. «Der ideale Leichenwagen! Passen zwei Särge nebeneinander rein. Wir können die ganze Familie mitnehmen, wenn wir die Kinder zusammenklappen und zu den Eltern in die Särge packen», pflegte er zu scherzen, woraufhin Vaters Gesicht einen leichten Grünstich annahm. Für ihn war das Geschäft mit dem Tod eine ernste, aber, und darauf legte er größten Wert, keine wohltätige Sache. «Wir verdienen den Lebensunterhalt mit dem Ableben unserer Mitmenschen. Aber müssen wir deshalb unsere Dienste verschenken?» Vater ließ die Frage eine Weile im Raum schweben, ehe er sie selbst beantwortete, obwohl es inzwischen keinen gab, der die Antwort nicht auswendig wusste: «Nein und nochmals nein! So schlimm der Tod auch sein mag, so traurig für die Angehörigen, so furchtbar, so schrecklich», seine Stimme schwoll an, als wollte er ein Meer teilen, «so wenig haben wir das Recht, mildtätig zu sein. Und warum nicht? Weil wir im Gegensatz zu den Verstorbenen weiterleben müssen. Und zum Weiterleben braucht man Geld!»

    Selbst durch das geschlossene Fenster hörte ich den Schotter unter Onkel Jörgs Schuhsohlen knirschen; hinter mir schenkte Susanne sich geräuschvoll Kaffee nach; unten sperrte Onkel Jörg die Fahrertür des Transits auf und stieg ein, wobei er wahrscheinlich herzzerreißend stöhnte. Tck, tck, der Schlüssel wurde im Zündschloss gedreht, tck-ahrrrm!, ein Rauchwölkchen kroch aus dem Auspuff, Onkel Jörg stieß aber nicht zurück, sondern begann im Wageninneren mit irgendwelchen Papieren und Schachteln zu hantieren. Und genau in diesem Augenblick kommt Vater um die Ecke des Hauses, das Haar so korrekt gescheitelt, dass ich von hier oben die weiße Linie Kopfhaut zwischen den dunkelbraun gefärbten Haarhälften sehen kann. Zielstrebig steuert er quer über den Hof auf die Bürotür zu, ein Mensch, der es eilig hat. Vaters Bewegungen wirkten immer eine Spur zu hektisch; nur wenn er etwas erklärte, mich tadelte oder seine geliebten Nachrichten schaute, wurde er ruhig. Plötzlich bleibt er kerzengerade stehen, bückt sich in einer schwungvollen, federnden Bewegung, und genau in diesem Moment, als er sich hinter dem Wagen bückt, nestelt Onkel Jörg mit der rechten Hand am Rückspiegel herum. Ich sehe von meinem schräg über dem Transit gelegenen Beobachtungsposten, wie Onkel Jörg sodann die Hand auf den Schaltknüppel sinken lässt und mit erhobenem Kopf in den neu justierten Rückspiegel blickt, der ihm, wie ich in alptraumhafter Gewissheit begreife, einen leeren Hof zeigt. Und in der Tat entschuldigte sich Onkel Jörg später: «Ich dachte wirklich, es wäre frei.» Ich stehe gelähmt am Fenster, mein Vater hat sich nach etwas gebückt, Onkel Jörg blickt in den Spiegel, und mit irrwitziger Geschwindigkeit stößt der Transit zurück.

    Die Reifen schleudern Schotter in die Höhe, ein dumpfer Aufprall, und Vater rudert mit Armen und Beinen durch die Luft, als wollte er zum Mond schwimmen, der als bleiche Muschel am Morgenhimmel klebt. Onkel Jörg erstarrt hinterm Lenkrad, legt den ersten Gang rein, das Getriebe knirscht, erneut wird Gas gegeben, die Hinterreifen entfernen sich von Vaters verkrümmtem Körper, der Motor wird abgewürgt, Onkel Jörg schaut ausdruckslos in den Rückspiegel. Dann steigt er aus, schlägt die Fahrertür zu und verschwindet hinter den schwarzen Scheiben des Hecks.

    «Mein Vater ist tot», sage ich tonlos zur Fensterscheibe.

    Hinter mir lacht Susanne. Unten taumelt Onkel Jörg hinter dem Heck des Transits hervor, sieht die Gestalt am Boden. Seine Miene ist steinern. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Bisweilen fährt er sich mit der Hand über die Stirn. Leise und eindringlich sage ich: «Das stimmt wirklich.» Hinter mir knistert es (Susanne legt die Zeitung beiseite), Stuhlbeine scharren über den Küchenfußboden (Susanne steht auf), unten beugt sich Onkel Jörg über seinen Bruder, greift dem schlaffen Körper unter die Achseln, zerrt ihn auf den Transit zu. Vaters Absätze ziehen Furchen in den Schotter.

    «Was geht denn da ab?», flüstert Susanne neben mir.

    Onkel Jörg sieht sich um. Sein Blick zuckt nach links, sein Blick zuckt nach rechts, sein Blick hebt sich, bleibt am Küchenfenster kleben.

    «Ich weiß es nicht», sage ich, «aber jetzt hat er uns entdeckt.»

    Wir sehen Onkel Jörg an und er sieht uns an, lange und ausdruckslos, ehe er den Körper meines Vaters behutsam auf den Boden sacken lässt. «Halt mal bitte!» Ich drücke Susanne die Tasse in die Hand, öffne das Fenster und rufe Onkel Jörg zu: «Ich komme zu dir runter.»

    Gott sei dank, dachte ich auf dem Weg nach unten, ist Mutter in der Schule. Und: Gott sei dank ist Jens im Kindergarten. Mehr dachte ich nicht. Weder empfand ich Trauer noch ein Gefühl der Leere oder des Verlustes (das kam erst Jahre später und hatte andere Gründe) – und schon knirschten meine Sohlen auf dem Schotter des Hofs. Onkel Jörg lehnte am Leichenwagen, der schwarze Lack ließ ihn blass aussehen. Beim Näherkommen verzerrte sich meine Gestalt in der spiegelnden Heckklappe: Erst stauchte es mich zum Zwerg zusammen, um mich gleich darauf wieder auseinander zu ziehen. Ich sah Onkel Jörg fragend an; dieser bewegte den Kopf verneinend hin und her und wich dabei meinem Blick aus.

    «Der Krankenwagen kommt gleich!», rief Susanne aus dem Küchenfenster. Der Putz unseres Hauses war, wie mir plötzlich auffiel, erheblich schmutziger als der des Beerdigungsinstituts. Außerdem (auch dies nahm ich mit einer Klarheit wahr, als sähe ich es zum ersten Mal) stand unser Haus eine Spur schiefer. Wegen einer Grubensenkung neigte es sich leicht zur Straße hin, als verbeugte es sich höflich vor den Passanten. Es wurde einem schwindlig, wenn man es zu lange anschaute. Ein sich mit den Jahren verbreiternder Riss, den Vater alle paar Monate neu verputzte, kroch aus dem geschotterten Boden über die Hauswand zum Kellerfenster empor, durchschnitt unsichtbar das Glas, und zuckte sodann eine große fensterlose Partie bis zu einem Punkt empor, den Susanne mühelos berühren könnte, hätte sie sich ein kleines Stück weiter aus dem Fenster gelehnt.

    «Ich habe auch bei der Polizei angerufen», sagte sie.

    «Polizei?» Onkel Jörg wirkte besorgt.

    «Ein Unfall», sagte ich leise. «Sie müssen es zu Protokoll nehmen. Du hast ihn nicht sehen können.» Ich ging neben dem Körper in die Hocke und berührte zum ersten Mal seit Jahren meinen Vater. Die Haut am Hals sah aus wie das schlaffe Gummi einer Faschingsmaske. Die Halsschlagader pochte nicht mehr. Vaters Gesicht war glattrasiert, faltig, weich, ich musste an ein ungekochtes Hähnchen denken. Irgendjemand sollte ihm die Augen schließen. Ich konnte das nicht, stand auf und ließ die Augen weiter ins Leere starren. Im Linken drohte die schmale Sichel der Pupille unter dem unteren Lid davon zu tauchen; wie einen Teppich zog die Sonne den Schatten unseres Hauses behutsam ins Fundament zurück; und auf einmal lag Vaters Hinterkopf in der prallen Morgensonne. Das Licht glitt erst über seine vom Tod geglättete Stirn, dann über die maskenhaften Gesichtszüge. Zur Besinnung brachte mich ein wohlbekanntes Knattern von der Straße her, dem einige mechanische Huster folgten. Ich nahm die zerknautschte Zigarettenschachtel aus Vaters zur Kralle erstarrten Hand und steckte sie in die Hosentasche, bevor Heinz mit der Vespa in den Hof einbog; in meiner Nachttischschublade sollte diese Reliquie noch lange nach Tabak riechen.

    «Ich hab ihn nicht gesehen», sagte Onkel Jörg.

    Heinz löste den Kinnriemen und nahm den Helm ab.

    «Er hat sich nach irgendwas gebückt», sagte ich heiser.

    «Man sitzt in dem Ding so gottverdammt hoch», rechtfertigte sich Onkel Jörg und deutete überflüssigerweise auf den Transit. Eine Fliege setzte sich auf meinen Unterarm. Ich ließ sie sitzen. Ihre Füße kitzelten durch meine Haare. Mittlerweile war das Sonnenlicht von Vaters Kinn den Hals hinabgeschmolzen, und mit einer Faszination, für die ich mich heute schäme, registrierte ich, dass Vaters Hemdkragen für den Bruchteil weniger Sekunden die Grenzlinie von Licht und Schatten im Hof bildete. «So eine Scheiße aber auch!», sagte Heinz und steckte sich eine Gauloises an.

    Am nächsten Tag lehnte ich wieder an der Leibung des Küchenfensters und sah in den Hof hinab, als wäre nichts geschehen. Susanne war diese Gewohnheit ein Dorn im Auge, aber ich sollte sie erst nach unserem Umzug aufgeben, und das nur notgedrungen, weil die neue Küche bloß durch ein winziges quadratisches Fenster erhellt wurde, dessen ohnehin viel zu schmale Fensterbank Susanne mit Topfpflanzen zustellte, ehe ich protestieren konnte. «Dann bekomme ich beim Frühstück endlich mal dein Gesicht zu sehen!», meinte sie, doch in der Art, wie sie es sagte, schwang das sichere Wissen mit, sich nie mit meiner Morgenlaune anfreunden zu können. Aber ich greife vor. In dem Sommer, von dem ich hier erzählen will, war Vater schon einige Jahre tot und ich schrieb an meinem ersten Roman. An Wochentagen stand ich mit Susanne und Jens, der inzwischen die zweite Klasse besuchte, auf und trank, sobald die beiden das Haus verlassen hatten, einen Kaffee nach dem anderen am Küchenfenster, bis ich mit der Arbeit beginnen konnte. Gegenüber schlich Onkel Jörg durch die Wohnung über dem Beerdigungsinstitut. Um diese Uhrzeit trug er gewöhnlich einen lila Frotteebademantel und bewegte sich durch sein Schlafzimmer, in das der Wind die Vorhänge des geöffneten Fensters blähte, wie ein Taucher mit Bleischuhen auf dem Meeresgrund. Heinz war noch nicht da, denn die Vespa lehnte nicht an der Wand des Sarglagers, und Om war wohl wieder unterwegs, um in der fast hüfthohen Wiese hinterm Haus, die bald mal wieder gesenst werden müsste, seinen beneidenswert unkomplizierten und abenteuerlichen Geschäften nachzugehen.

    Noch eine oder zwei Tassen, dann eine Zigarette, überlegte ich (im Gegensatz zu Heinz rauchte ich meist eine milde Marke), und dann müsste ich endlich nach oben gehen, um auf dem Dachboden weiter an meinem Roman zu basteln. Wenn ich heute zwei Seiten rausquäle, bin ich gut. Oder drei. Winkler behauptet, sieben Seiten am Tag schreiben zu können, aber das nehme ich ihm nicht ab. Ich ließ Kaffeepulver in die Filtertüte rieseln, ich brauche nicht mitzufahren, nahm meine Tasse von der Spüle, wo sie mehrere Tellertürme bewachte, denn heute ist ein guter Tag, schwenkte sie mit lauwarmem Wasser aus, summte vor mich hin, ein Schreibtag. Seit Vaters Tod fuhr ich montags und mittwochs im Leichenwagen mit, damit Onkel Jörg währenddessen den, wie er es nannte, Bürokram erledigen konnte. In Notfällen rief er mich mitunter nachts an, und war ich nicht zu Hause, probierte er es in Mollingers Eck, wo ich mich fast jeden zweiten Abend mit Achim traf. Dass man uns nachts anforderte, geschah jedoch höchst selten, denn fast neunzig Prozent unserer Klientel zogen es vor, im Krankenhaus zu sterben, und weil dort der Totenschein erst morgens ausgestellt wird, packt man die Toten nachts in die Kühlvitrinen, lässt die Ärzte weiterschlafen, und damit hat es sich. Onkel Jörg mochte es übrigens sehr, wenn ich ihn in angetrunkenem Zustand begleitete. Ich erinnere mich gut an dieses eine Mal, als er mich in Mollingers Eck abholte, um «rasch einen einzusargen» …

    Nach dem siebten Klingeln öffnete die erwachsene, verschlafen aussehende Tochter des Hauses. «Örps!», machte es hinter ihr. «Kommen Sie rein!», sagte die Frau, und wir betraten einen Flur, wo sich ein zerzauster Beo auf seiner Stange freute und rülpsende Geräusche von sich gab. Durch einen Türspalt sah ich eine ältere Dame mit wirrem Haar, vermutlich die Gattin des Verstorbenen, auf dem Ehebett sitzen. Jedes Mal, wenn der Beo rülpste, riss sie die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. Der Vogel hüpfte zum rechten Rand der Stange, sah die Männer mit dem Sarg nachdenklich an, legte den Kopf schief und erklärte Onkel Jörg: «Örps!» Der holte Luft und wollte gerade etwas erwidern, da fragte ich routiniert (und nach sieben Bieren noch bewundernswert beherrscht): «Wo befindet sich der Verstorbene?» Die Tochter führte uns ins Wohnzimmer, gehäkeltes Deckchen auf dem Fernseher, Nussbaumbücherregale ohne Bücher, Bilder von Waldtieren und Seen, ein nacktes, unangenehm behaartes Bein, das unter einem Plaid mit bunten Rauten hervorlugte. «Brauchen Sie mich noch hier?» – «Nein, danke! Das kriegen wir alleine hin.» Wir setzten den Sarg ab, Onkel Jörg zog die Decke vom Leichnam, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf einen Sessel. Der Tote war höchstens sechzig, hatte ein versoffenes Gesicht und eine dicke aufgequollene Nase. Schmutzig weißes, ehemals wohl blondes Haar hing ihm strähnig in die Stirn. Wie die meisten Toten sah er erstaunt aus. Und auf einmal legte der Beo im Flur los und gab mit heiserer, vulgärer Stimme eine Sottise nach der anderen zum Besten, und ich sah in verblüffender Klarheit den Verstorbenen vor mir, dem wir gerade das Leichenhemd anlegten, sah ihn vor der Stange im Flur stehen und seinem Beo das Sprechen beibringen: «Ich bin der Felix. Hallo! Hallo! Wie gehts dir? Ich bin der Felix! Ich hab Hunger! Fe-lix! Fe-lix! Ich bin der Fe-lix!» Bei jedem Krächzen des Vogels ertönte aus dem Schlafzimmer ein Schluchzen, und als der Beo in der weinerlichen Cholerik eines Betrunkenen «Wo sind denn die Scheißschlappen?» keifte, verlor ich die Beherrschung.

    Onkel Jörg zwinkerte mir zu, sagte: «Der Vogel, der Vogel …», und wir mussten uns aufs Sofa setzen. «Gibt es Probleme?» Die Tochter des Toten erschien in der Tür, ein Postsparbuch in der Hand. «Nein», würgte Onkel Jörg und erhob sich ächzend. «Alles ist in bester Ordnung.» Doch kurz darauf ging es die fürchterlich steile, eng gewundene Treppe hinab, die zu allem Überfluss noch ein unnötig hohes Geländer hatte. Drittes Stockwerk, der Beo keifte, die Tochter war uns in den Füßen, und ich arbeitete ohnehin lieber mit Heinz zusammen, der in etwa meine Größe hatte. Musste ich mit Onkel Jörg, er war klein und dick, einen Sarg tragen, spürte ich es noch am nächsten Tag im Kreuz. «Du solltest den Sarg anheben!», schlug ich vor. «Ja», sagte Onkel Jörg, tat es aber nicht, ich strauchelte, und Zack! schrammte der Sarg an der Wand entlang, Kratzer in der Tapete. Geduldig: «Du musst versuchen, den Sarg noch ein Stückchen anzuheben!» – «Nein», widersprach Onkel Jörg, dessen Augen vor Anstrengung aus den Höhlen traten. «Wenn ich in die Knie gehe, kannst du …» – «Nein, ich gehe in die Knie, und du hebst den Sarg an.» – «Gut», sagte er, machte jedoch keine Anstalten, den Sarg anzuheben. «Vorsicht!», warnte ich vergeblich. «Hoch! Anheben! Langsam!» Zack! wieder die Wand, und Bomm! setzte Onkel Jörg den Sarg ohne Ankündigung auf dem Treppenabsatz ab, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, hatte danach aber keine Geduld, sich mit mir über unser weiteres Vorgehen zu beraten, sondern hob den Sarg so plötzlich an, dass ich einen Schritt treppauf machen musste, um mein Rückgrat zu retten. «Sag: ‹Hallo!›», rief oben der Beo mit der versoffenen Stimme des Verstorbenen. «Scheißvogel! Sag endlich was! Sag: ‹Hallo!›, du Idiot!» – «Hallo!», sagte ich. – «Örps!», kam es von oben. – «Ich drehe mich um», verkündete Onkel Jörg, «dann kann ich besser greifen.» Ungeschickt wie ein Käfer begann er, sich im Treppenhaus umzudrehen. «Ich bin der Felix Örps!», rief es oben. Dem «Örps!» folgte das obligatorische Geschluchze aus dem Schlafzimmer. Die sterbliche Hülle Ihres Mannes nehmen wir mit, aber seine Stimme lassen wir Ihnen noch ein Weilchen da. Ich lachte immer noch, als ich versuchte, zu Susanne ins Bett zu kriechen, ohne sie aufzuwecken. «Was ist denn los?», fragte sie. «Der Örps ist los!», sagte ich. Sie fixierte mich schlaftrunken, und ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und verkündete mit Grabesstimme, dass in dieser Nacht der Örps gestorben sei.

    Solche Nachtfahrten mit Onkel Jörg waren glücklicherweise eine Seltenheit. Das ersparte mir zum einen Kreuzschmerzen, außerdem blieb mein Freund Achim ungern allein in Mollingers Eck sitzen. Montags und mittwochs fuhr ich, wie bereits erwähnt, mit Heinz den Leichenwagen. Er arbeitete länger im Beerdigungsinstitut, als ich mich erinnern konnte, und trug nun Jens auf den Schultern im Hof umher, wie er früher mich getragen hatte. Heinz war früher Gewichtheber gewesen und hatte sogar, was mir schon als Kind imponierte, bei einigen Provinz-Meisterschaften im Kraftdreikampf (Kreuzheben, Bankdrücken, Kniebeugen) Medaillen errungen, doch seit etwa einem Jahrzehnt ließ er die Hanteln ruhen und die Muskeln verfetten, was seiner Stärke jedoch nur unwesentlich Abbruch tat. Es ist schwer, sich das Aussehen von Menschen zu vergegenwärtigen, die man lange Zeit fast täglich sah. Heinz hatte kurzes drahtiges Haar, das er mit dem Bartschneider trimmte, schwarzes Haar mit vereinzelten grauen Strähnen. Er vertrug mindestens zehnmal so viel Bier wie ein Normalsterblicher, wirkte immer unrasiert, und eine deutlich konturierte tiefe Mulde zwischen Nase und Oberlippe ließ ihn im Zusammenspiel mit den dichten Brauen nicht gerade clever aussehen.

    Heinz dürfte damals einundfünfzig oder zweiundfünfzig gewesen sein, benahm sich aber nicht, wie man es von einem Mann im gesetzten Alter erwartet. Es war ein Riesenspaß, mit ihm den Leichenwagen zu fahren, ein entlastender Ausgleich zu jeglicher intellektueller Tätigkeit, ein Ausgleich, den ich in diesem Sommer bitter nötig hatte. Stets eine Filterlose im Mundwinkel kurbelte er das Fenster runter, wenn wir an Ampeln hielten, und schlug älteren Damen im öligen Tonfall eines Jahrmarkt-Anreißers eine Spritztour um den Block vor. Manchmal brüllte er auch Sachen wie: «Ich komm dich holen!» und griff mit behaarter Pranke nach einem Fußgänger, doch zu solchen Entgleisungen kam es erst, wenn die zahllosen Abstecher ihre Wirkung zeigten, die uns zu Kiosken mit Namen wie Bierhalle oder Sonjas Hähnchen Grill geführt hatten oder zu diesen in Getränkehandlungen mit Stehausschank umfunktionierten Garagen, wo Heinz jeden mit Vornamen anredete. Nach einem Tag mit mehreren dieser «Päuschen» konnte es vorkommen, dass er Susanne fröhliche Obszönitäten zurief, was diese mit schiefem Grinsen quittierte; dennoch mochte sie Heinz, er hatte (es ist mir peinlich, es hinzuschreiben, aber ich tue es trotzdem) ein großes Herz, und – was ich besonders an ihm schätzte – einen zwar derben, aber nie verletzenden Humor.

    Als Kind ließ ich mir von Onkel Jörg, der, wenn ich es mir recht überlege, kaum älter als Heinz war (beziehungsweise, wenn er noch lebt: ist), gerne erzählen, wie Heinz einmal mithalf, das Zelt aufzubauen, als der Zirkus Maximilanowitsch Borasi in der Vorstadt gastierte. «Und da kommt so ein Wicht von Hypnotiseur und sagt: ‹Hört mal zu, Jungs! Ich brauch heut Abend drei Mann! Jeder kriegt seine zehn Märker.› Heinz ist sofort dabei, denn das Geld ist schnell verdient: Er hat nichts weiter zu tun, als ‹Gra? Gra? Gra?› zu sagen, wenn er nach seinem Namen gefragt wird.» Während der abendlichen Vorstellung wedelt der Hypnotiseur mit den weiten Ärmeln seines bestickten Kaftans vor den Gesichtern der «Freiwilligen» herum – ich stelle ihn mir gerne als beleibten Sultan mit edelsteingeschmücktem Turban und gezwirbeltem Schnurrbart vor – und murmelt seine Beschwörungen: «Durch die Macht meiner Magie werdet ihr kleinen Menschlein eure erbärmlichen Namen vergessen!» Er wendet sich an den ersten Freiwilligen. «Wie heißt Du?» – «Gra?» Er wendet sich an den zweiten. «Wie heißt du?» – «Gra? Gra?» Er wendet sich an den dritten. «Und wie heißt du?» – «Heinz Brenner!», brüllt Heinz so laut, dass ihm die Adern am Hals schwellen. «Ich heiße Heinz Brenner!» Und man hört ihn noch seinen Namen krakeelen, nachdem ihn der Dompteur, der Kraftmensch und der dumme August aus der Manege getragen haben. Natürlich stimmt diese Geschichte nicht, sie ist mir später in zahllosen Varianten über den Weg gelaufen, aber irgendwie stimmt sie doch, denn so war Heinz, und Abend für Abend bestieg er nach einem Schnäpschen mit Onkel Jörg die Vespa, um sich von ihr nach Hause bringen zu lassen. «Sie kennt den Weg», grinste er, eine Zigarette im Mundwinkel – manchmal glaube ich, dass ich ihn mehr vermisse als alle anderen.

    Damit jetzt kein falscher Eindruck entsteht: Die Arbeit für Onkel Jörgs Beerdigungsinstitut hatte auch ihre unangenehmen Seiten. Vor allem, wenn wir bei Autounfällen den Notsarg einsetzen mussten, eine zusammenklappbare Zinkwanne, die an der rechten Innenwand des Transits befestigt war. Die Angehörigen stehen rum, sind zu geschockt, um zu begreifen, dass dieser Klumpen Fleisch und Blut, aus dem gesplitterte Knochen ragen, ihr Bruder oder ihre Mutter war, und betrachten uns voller Hass, als wären wir die Gehilfen des Sensenmanns. Dabei sind wir vielmehr eine Art Müllabfuhr des Todes: Wir streuen Sand, um das Blut auf dem Asphalt zu binden, kehren die gröbste Schweinerei zusammen, und ab damit in die Zinkwanne. Später steht dann am Straßenrand ein Holzkreuz oder eine rote Grablaterne oder, wie in jenem Fall, an den ich mich jetzt deutlich erinnere, das mit einem Kranz umwundene Rad eines Fahrrads. Ich fuhr ein paar Tage nach dem Unfall mit Susanne an dem geschmückten Rad vorbei (wohin wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr; bestimmt hatten wir uns von Onkel Jörg den Transit geliehen, um Getränke einzukaufen) und sagte stolz: «Den haben wir mit diesem Auto abgeholt.» – «Verschon mich mit deiner Arbeit!» – «Der hat hinten im Auto drin gelegen.» – «Georg!» – «Hat immer so geröchelt», ich gab gurgelnde Geräusche von mir, «und von innen an die Zinkwanne geklopft, weil er raus wollte. Erst haben wir gedacht, es würde was am Auto klappern. ‹Was klappert denn da?›, fragt mich Heinz, und ich sage: ‹Das ist doch eher ein Blubbern!›» – «Georg!», zischte Susanne. Ich fuhr schweigend weiter. Nach einer Weile fing ich an, mit Fistelstimme «Hilfe! Hilfe!» zu rufen und dabei ganz leicht mit dem Knöchel an die Seitenscheibe zu pochen. «Hilfe! Hilfe!», piepste ich. «Lasst mich bitte raus! Hilfe!» Gleich, wusste ich, würde Susanne mit diesem lächerlichen Gesichtsausdruck zu schreien beginnen, bei dem ich nicht ernst bleiben könnte. «Macht dir deine Arbeit nichts aus?», hatte mich Winkler mal gefragt. «Nein», sagte ich, «ich bin damit groß geworden. Wir haben im Sarglager Verstecken gespielt. Aber manchmal schafft es schon.» Ich überlegte, was und wie viel ich ihm anvertrauen durfte, und ergänzte vorsichtig: «Junge hübsche Frauen zum Beispiel.» – «Und hast du nie?» – «Nie! Ich bitte dich!» Natürlich hatte ich. Aber das war eine kalte, traurige Sache, nichts worüber man reden sollte. Und schon gar nicht mit jemandem wie Winkler.

    Bevor ich mit dem Schreiben begann oder mich wieder hinlegte, weil mir schlecht wurde, wenn ich ans Schreiben dachte, bedauerte ich regelmäßig Jens. In der Schule zwang man ihn zum Stillsitzen, zum Aufmerken und zum Kopfrechnen. Man erzählte ihm jede Menge Unsinn vom lieben Gott und der Wichtigkeit des Arbeitens, nötigte ihn dazu, im Kanon Hoch auf dem gelben Wagen zu singen, las ihm hanebüchenen Unfug vor: Der süße Brei (Gebr. Grimm), Der kleine lustige Hase (Gebr. Dumm) – und aus welchem Grund glauben Erwachsene eigentlich, man müsste Kindern alles über St. Martin erzählen? «Warum hat er dem Bettler nicht den ganzen Mantel gegeben?», hatte Jens einmal wissen wollen, und seine Lehrerin ermahnte ihn, ernst zu bleiben und zukünftig freche Zwischenbemerkungen zu unterlassen. «Ich halte das durchaus für einen berechtigten Einwand», tröstete ich ihn, aber die moralische Unterstützung seines Vaters half Jens in der Schule denkbar wenig.

    Als ich die vierte Klasse besuchte, hatte meine Lehrerin, die wir «Fräulein» nannten, obwohl sie schon zum zweiten Mal verheiratet war, eine Nikolaus-Tombola veranstaltet. Fräulein Gilbeck heftete Schönschrift-Zahlen an die Päckchen, arrangierte sie auf dem Pult, und dann musste jeder eine Nummer aus ihrer gefütterten, muffig riechenden Wintermütze ziehen. Das Geschenk, das ich zur Tombola beisteuerte, war ein Dreierpack, bestehend aus einem Bleistift, einem Bleistiftspitzer und einem Radiergummi, ganz wie es Fräulein Gilbeck vorgeschlagen hatte, als Andreas sie fragte, wie teuer das Nikolausgeschenk denn sein müsse. «Wir kaufen nur kleine Sachen.» Fräulein Gilbeck lispelte leicht und sprach stets in diesem geduldigen, nachsichtigen Tonfall, den ich als Erwachsener nur dann anschlug, wenn ich Susanne zur Weißglut bringen wollte. «Wir», fuhr Fräulein Gilbeck in einer Munterkeit fort, die sie für ansteckend hielt, «schenken uns alle etwas Nützliches.» – «Was ist denn etwas Nützliches?», fragte Andreas, und Fräulein Gilbeck antwortete prompt: «Ein Bleistift, ein Bleistiftanspitzer und ein Radiergummi zum Beispiel.» In meiner kindlichen Ehrfurcht vor Autoritäten ließ ich Mutter tatsächlich besagte Schreibwaren kaufen und in das Weihnachtspapier mit den fetten Engeln und verblichenen Kometen einwickeln, das vom Vorjahr übriggeblieben war. Natürlich versuchten wir am Tag der Verlosung rauszukriegen, welche Gewinnmöglichkeiten sich uns boten. Als absolutes und ungeschlagenes Hitgeschenk stellte sich ein Lustiges Taschenbuch heraus, und wir alle hätten selbstverständlich lieber Fantomias schlägt zurück gewonnen als eine Packung Lego (von Michael) oder das Pferdebuch mit den Lesespuren am Rücken (von Karin) oder gar den Bleistift, den Spitzer und den Radiergummi.

    Hinter mir, in der nur halberinnerten Küche, in der sich mein erinnertes Ich an seine Kindheit zurückerinnert, weil ich will, dass es sich genau jetzt daran erinnert, begann der Wasserkessel zu pfeifen, erst zaghaft, dann mit wütender Energie. Ich nahm ihn vom Herd, goss sprudelndes Wasser in den Filter, der unförmig auf der Thermoskanne saß, ich rieche den frisch gebrühten Kaffee, rieche ihn hier im Hotelzimmer und stehe wieder am Küchenfenster. Als ich mein Nikolaus-Tombola-Geschenk überreicht bekam, fiel es mir schwer, die Enttäuschung zu verbergen: drei Drittklässlerhefte. Natürlich wusste ich, von wem sie stammten. Das Mädchen hieß Astrid, stand kurz vor der Überweisung in die Sonderschule und wohnte in einem so genannten sozialen Brennpunkt, einer berüchtigten Straße, die wir beim Spielen mieden. Fräulein Gilbeck entging meine Enttäuschung nicht. Sie zeigte sich bestürzt über meinen zugegebenermaßen etwas kärglichen Gewinn und machte den Vorschlag, dass der- oder diejenige, «der oder die drei Hefte für die dritte Klasse zur Nikolaus-Tombola einer vierten Klasse beigesteuert hat», mir morgen etwas mitbringen solle, «als Wiedergutmachung sozusagen», einen Apfel zum Beispiel, den der oder die Betreffende (außer Fräulein Gilbeck wusste jeder, um wen es ging) mir vor der ersten Stunde auf die Bank legen könne. Ich sah mich außerstande, zu protestieren. «Lasst es doch bleiben!», hätte ich gerne gerufen. «Macht euch wegen mir keine Umstände und vergesst die ganze Sache!» Stattdessen sagte ich nichts und schämte mich, im Mittelpunkt zu stehen, schämte mich dafür, dass sich Astrid schämte, schämte mich, dass jeder wusste, dass sie mir jetzt einen Apfel mitbringen musste, schämte mich, dass Jochen einen Bleistift, einen Spitzer und einen Radiergummi gewonnen hatte, außerdem mochte ich damals keine Äpfel. Genauso wenig wie Birnen, Mirabellen und Pflaumen; allein das Wort «Fallobst» jagte mir einen Schauder über den Rücken.

    Am Boden des Filters hatte sich ein fingertiefer Morast gebildet, ich goss heißes Wasser nach, flutete den Sumpf zum dampfenden Tümpel, zum See, und ließ den Kaffeesatz bis zum oberen Rand emporstrudeln. Am nächsten Tag hatte ein Apfel auf meiner Bank gelegen. Ich betrat das Klassenzimmer, sah ihn, bemerkte zugleich, dass mich alle beobachteten, versuchte, erfreut und überrascht zu wirken, näherte mich meinem Platz ohne Astrid dabei anzusehen, setzte mich blöd grinsend hin und ließ den Apfel unter der Bank im Ranzenfach verschwinden. Selbst nach den Weihnachtsferien lag er noch da, faulte und verströmte süßlichen Verwesungsgeruch. Ich ekelte mich dermaßen vor dieser verschrumpelnden Frucht, dass ich sie nicht berühren konnte. Nicht in der Lage, sie eigenhändig zu entfernen, setzte ich meine Hoffnungen in die Putzfrauen, doch der Apfel blieb liegen. Abends vorm Einschlafen dachte ich an nichts anderes als an diesen sich in grauen Schleim verwandelnden Apfel, ich konnte mich in der Schule kaum noch konzentrieren, vergaß Zahlen beim Kopfrechnen, verlas mich beim Vorlesen, Apfel, tönte es unaufhörlich in meinem Kopf, verfaulender Apfel. «Georg?» Fräulein Gilbeck baute sich vor mir auf. «Hast du häusliche Probleme?» Ende Februar fasste ich den Entschluss, mir die Sache etwas kosten zu lassen. Neben mir saß Jochen. Seine Eltern waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, was ihn in den Augen seiner Mitschüler zu einer Sensation machte. Er lebte bei einer alten Tante, durfte Raumpatrouille Orion und Die Vögel sehen («Und wosch! fliegt die Tankstelle in die Luft!») und war ein hartgesottener, frühreifer Bursche («Dann haben wir aus ihrer Tittenmilch Pudding gemacht!»), der kein Wort Hochdeutsch sprach und seine Popel so genussvoll und ungeniert verzehrte, wie ich es seither nie wieder gesehen habe. «Ich geb dir ne Mark, wenn du den Apfel wegmachst.» – «Ich machs für zwei.» – «Okay!», sagte ich, und wir besiegelten es mit Handschlag. Vielleicht hat Susanne ja recht mit der Behauptung, dass ich zu viel in der Vergangenheit lebe, überlegte ich am Küchenfenster, aber ich kann nicht verzeihen. Von Fräulein Gilbeck bis zum unfreundlichen Busfahrer meiner Gymnasialzeit: Sie stehen alle auf der Schwarzen Liste.

    Ich warf die Filtertüte in den Ausguss, schenkte mir Kaffee ein. Unten zog Mutter die Wohnungstür zu, und kurz darauf sah ich sie nur wenige Meter an der Stelle vorübereilen, wo Vater gestorben war; sie hatte offensichtlich die erste Stunde frei. Seit Vater tot war, blühte sie von Jahr zu Jahr mehr auf. Die Arbeit machte ihr Spaß, die Schüler nannten sie Frau und nicht Fräulein Fahlmann, und auf die Idee, eine Nikolaus-Tombola zu veranstalten, wäre sie gewiss nicht gekommen. Mutter, von deren Vater ich die Leidenschaft für Bücher geerbt hatte, half Jens nachmittags bei den Hausaufgaben. Mein Argument, dass sich das schon einmal bezahlt gemacht habe, überzeugte selbst Susanne, überdies mochte ich es (was ich Susanne allerdings nicht auf die Nase band), meine Mutter in dem wiederzuerkennen, was Jens mir erzählte, Mutter, wie sie früher gewesen war, wenn sie sich neben mir über den Wohnzimmertisch beugte, vor uns aufgeschlagene Bücher und Hefte, während sie sich mit dem Tintenkiller geduldige Locken ins Haar drehte.

    Leider hatte die Mutter meiner Kindheit nur wenig mit der sonnenbankgebräunten Person zu tun, die jetzt über den Hof hastete, um den Acht-Uhr-Fünfzehn-Bus zu erwischen, einer Frau, die sich krampfhaft weigerte, alt zu werden, mit zu jungen Männern schäkerte, lachhaft modische Kleider und Teenager-Schmuck trug sowie viel zu oft «in den sonnigen Süden» flog. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, wie ich als Kind aussah. Gewiss, es gibt Fotografien (ich auf Mutters Schoß, ich auf der Schaukel hinterm Haus, ich beim Kuchenbacken mit mehlbestäubtem Gesicht), aber diese Bilder scheinen mir auf seltsame Art und Weise verkehrt zu sein, denn in meinen Kindheitserinnerungen agiere ich stets als körperlich kleinere Version meines erwachsenen Ichs, und der Gedanke, dass ich der kleine Junge gewesen sein soll, der meiner Mutter von seinem Taschengeld ein Küchengerät aus Plastik zu Weihnachten kaufte, verwundert und rührt mich zugleich. Im Gegensatz zu Vater gab mir Mutter immer das Gefühl, ihr etwas Schönes, etwas Nützliches geschenkt zu haben, indem sie meinen Tanten und Onkeln das Geschenk präsentierte, wenn diese am zweiten Weihnachtsfeiertag ihren Pflichtbesuch abstatteten. Ich hatte Vater einmal ein Feuerzeug zum Geburtstag geschenkt. Obwohl er sich damals bei mir bedankte, argwöhnte ich, dass er sich nicht so recht freute, dabei hatte mich das rote Plastikfeuerzeug siebzig Pfennig gekostet und mir zudem einen langen, belehrenden Vortrag des Tabakwarenhändlers über die Gefahren des Rauchens eingebracht. «Und dann schneiden sie dir die schwarzen Raucherbeine ab», resümierte er vergnügt und überging mit einem wissenden Lächeln meine Bemerkung, es handele sich um ein Geburtstagsgeschenk für meinen Vater. «So was hör ich jeden Tag», seufzte er. «Das hör ich so oft, dass ich mir manchmal wünsche, ihr würdet euch was Ordentliches ausdenken.» Wortlos zählte ich ihm sieben Zehnpfennigstücke in die aufgehaltene Hand; ich werde ihn ebenfalls auf meine Schwarze Liste setzen.

    An seinem Geburtstag wickelte Vater das Feuerzeug aus der Papierserviette, in die ich es eingeschlagen hatte, sagte: «Aha!», was längst nicht so erfreut klang, wie es wahrscheinlich klingen sollte, räusperte sich erschrocken, als er den Gesichtsausdruck meiner Mutter bemerkte, murmelte: «Danke sehr!» und ließ das Feuerzeug in der Jackentasche verschwinden. «Verschwinden» ist das richtige Wort, denn es blieb tagelang verschollen, bis es überraschend in der Kramschublade des Küchentischs auftauchte, wo ich ab und zu nach Kleingeld stöberte. Von da an schob ich das Feuerzeug jeden Abend unauffällig in Vaters Reichweite, sobald er in seinem Fernsehsessel Platz genommen hatte, um die Tagesschau zu sehen, die Beine hochgelegt, auf dem Wohnzimmertisch der Aschenbecher und die Abendzigarre.

    Aber jedes Mal, wenn Vater das Feuerzeug benutzte und es beim Wetterbericht an die Spitze der Zigarre hielt, um die Flamme mit kussähnlichem Schmatzen in den Tabak zu saugen, wurde mir schmerzlich bewusst: Er hatte vergessen, dass es sich hierbei um das Geburtstagsgeschenk seines Sohns handelte. Achtlos legte er es beiseite und zog sich in eine Wolke beißenden Gestanks zurück, aus der nach einer Weile ein Arm kam, um nach der Fernsehzeitung zu tasten. Dieses Spielchen machte ich etwa eine halbe Woche mit, dann hatte ich die Nase voll: Ich ließ das Feuerzeug in der Kramschublade, und zu meiner Bestürzung zog Vater am ersten feuerzeuglosen Abend ein Schächtelchen extralanger Streichhölzer aus der Brusttasche der Feierabendweste und gab sich mit großer Selbstverständlichkeit Feuer. Seitdem habe ich ihm nichts mehr geschenkt.

    Über solche Sachen dachte ich oft nach, wenn ich mich ins Untergeschoss schlich, nachdem Mutter zur Arbeit gegangen war. Bereits im Wohnungsflur lauerten Erinnerungen, und kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, ergriff mich die wehmütige Gewissheit eines unwiederbringlichen Verlustes. Eine moderne Couchgarnitur hatte die bequemen Sessel vertrieben, der Läufer war verschwunden, über dessen umgeknickte Ecke wir früher alle gestolpert waren, und die zahllosen Aschenbecher hatten nach Vaters Tod ihr trauriges Exil auf dem Dachboden angetreten, wo sie nur noch mir treue Dienste leisteten. Im neu gekachelten Badezimmer, hier roch es nach Mutters süßlichem Deodorant, vermisste ich meinen Handtuchhalter Marke Entenkopf, auf dem Glasregal über dem Waschbecken stand ein einziger verwaister Zahnputzbecher, aber am schlimmsten hatte es mein Kinderzimmer erwischt. In diesem kleinen, als Gästezimmer verkleideten Raum endete der Rundgang. Ich legte mich aufs Bett, das noch am alten Platz stand, und zelebrierte eine Senior Service, eine dieser legendären Zigaretten, die James Bond zu rauchen pflegt. Ich aschte in den Bettkasten, ließ Arabesken und Ornamente aus Rauch zur Decke aufsteigen, aus deren Flecken und Rissen die vergessenen Fratzen der Jugend traten. Auch aus den Falten der Vorhänge krochen Erinnerungen, bewegten sich seitwärts wie Krebse auf mich zu, ich nahm einen knisternden Zug an der Zigarette, vermisste das Star-Wars-Plakat an der Tür, die Bravo-Poster von Debbie Harry an den Wänden, vermisste sogar die Vollmondnächte, in denen ich nicht schlafen konnte und die Lamellen der Fensterläden das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos über die Zimmerdecke fächerten. Ich war nicht gerne erwachsen. Ich war nie gerne ein Kind gewesen. Mutter mochte Susanne nicht. Susanne mochte Mutter nicht. Ich mochte Mutters Freunde nicht. Tja … Gegenüber machte Onkel Jörg sich bemerkbar, immer noch im lila Bademantel. Ich winkte, und zufrieden darüber, dass ich ihn gesehen hatte, schloss er das Schlafzimmerfenster und zog den Vorhang zu. Ich nahm die Thermoskanne von der Fensterbank und schenkte die Tasse wieder voll. Damals hatte Onkel Jörg meinen Vater eingesargt, alleine, am Nachmittag, aber das Licht brannte noch immer hinter den getönten Scheiben des Lagers, als ich schlafen ging. Am nächsten Tag fuhr er ihn gemeinsam mit Heinz zum Krematorium, nahm dort persönlich die Urne in Empfang und zeigte sie uns allen, bevor er sie nach Sylt zu unserem Reeder schickte. Den Wunsch, auf See bestattet zu werden, hatte Vater mehr als einmal geäußert. Bestimmt ertrug er die Vorstellung nicht, dass sein zu Lebzeiten so sorgsam gepflegter Körper im Erdboden zu Sülze verrottete, Käferlarven ernährte, Maden ein Heim bot, während der Totenwurm Tunnel um Tunnel ins verwesende Fleisch bohrte.

    Der Polizist, den sie uns damals geschickt hatten, war klein und in Zivil, hatte starken Sonnenbrand auf der Stirnglatze und versuchte offenbar, einen Weltrekord im Preisschwitzen aufzustellen. «Sie brauchen keinen Leichenwagen zu rufen», sagte er und sah von seinem Block auf. «Sie können das ja selbst machen.» Dieser Gedanke ließ ihm von nun an keine Ruhe mehr. «Ich weiß, dass das makaber klingen mag, aber irgendwie ist es doch», er zögerte, «praktisch», jetzt war es heraus, «wenn er hier im Hof», um Verständnis heischendes Armrudern, «Sie verstehen schon!» Interessiert wandte er sich an Onkel Jörg, der neben dem Toten auf einem umgedrehten Bierkasten saß. «Wollen Sie es selbst erledigen, Herr Fahlmann?» Onkel Jörg brachte ihn mit einer matten, abwehrenden Handbewegung zum Schweigen. Teilnahmslos beobachtete ich, wie das Sonnenlicht die Westfassade unseres Hauses hinabströmte. Nachdem der Polizist gegangen war, begann Onkel Jörg zu weinen. Heinz legte mir den Arm um die Schulter. Der alte Doktor Birch kam, um den Totenschein auszustellen. Danach ließ er einen Flachmann mit gutem Cognac rumgehen. Er bemerkte mehrmals, es sei eine Schande, ich stimmte jedes Mal zu, gab ihm den Flachmann zurück, er nahm selbst einen tiefen Schluck, Heinz räusperte sich entschlossen. «Wir packen ihn besser weg, bevor Marianne nach Hause kommt!» Und dann packten wir Vater weg.

    Im Flur klingelte das Telefon, hartnäckig, mit prahlerischem Dudeln. Früher haben Telefone wenigstens noch richtig geläutet, aber das hört man leider nur noch in alten Filmen. Hier gibt es kein Telefon. Wozu auch? Ich sitze an einem – nein, ich muss weitermachen, muss mich weiter erinnern, das Telefon läutet, ich muss mich erinnern, wie ich die Kaffeetasse auf die Fensterbank stellte, in den Flur ging, muss mich genau erinnern, wie ich den Hörer abhob …

    «Spreche ich mit Herrn Georg Fahlmann?»

    Ich kannte die Stimme. «Ja», sagte ich.

    «Es geht um Ihren Großvater.»

    «Wer spricht dort, bitte?»

    «Buchhandlung Struebing. Struebing mein Name.»

    Vorsichtig, um mich nicht im Telefonkabel zu verheddern, ging ich zurück in die Küche, schob das Frühstücksgeschirr beiseite und parkte das Telefon zwischen Tellern und Marmeladengläsern. Jens hatte seinen Kakao nicht ausgetrunken, aber wir waren froh, wenn er überhaupt frühstückte. «Ein halbes Brötchen», drängten wir und werteten es als Erfolg, wenn er zwei Drittel davon aß. Ein Pausenbrot brauchte man ihm gar nicht erst zu schmieren, da der Hausmeister der Grundschule, ein gewisser Herr Sattler, einen florierenden Handel mit aufgeschnittenen Brötchen unterhielt, zwischen deren Hälften er Mohrenköpfe plattdrückte; für Jens gab es nichts Köstlicheres.

    «Was kann ich für Sie tun, Herr Struebing?»

    «Er ist wieder da.»

    «Und?»

    «Er lässt sich nichts sagen.»

    Ich ließ ihn zappeln.

    «Wäre es möglich, dass Sie mit ihm …?»

    «Sie möchten, dass ich mit ihm spreche?»

    «Genau», sagte Herr Struebing dankbar, und kurz darauf meldete sich mein Großvater mit einem skeptischen: «Roeder?»

    «Na, wie gehts?»

    «Georg! Hat er dich wieder angerufen?»

    «Wer sonst? Wie gehts dir?»

    «Bestens. Über die Stufen des Walds tanzt das silberne Herz.»

    Zu sagen, dass Großvater die Literatur liebte, ist untertrieben. Im Unterschied zu üblichen Bibliophilen handelte es sich bei ihm jedoch, wie er gerne betonte, um einen philanthropischen Bibliophilen, einen, dessen Lebenssinn darin bestehe, jeden an seiner Liebe zum gedruckten Wort teilhaben zu lassen. Hatte er einen guten Tag, das heißt einen Tag, an dem er erwachte und sich mitteilsam fühlte, was ziemlich häufig vorkam, zog er den Sonntagsanzug an, fuhr mit dem Bus in die Innenstadt und beriet die Kunden in seinen zwei oder drei Lieblingsbuchhandlungen. Da diese aber erst nach neun Uhr öffneten, begann er die Runde notgedrungen in der Buchhandlung Struebing, wo man nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften, Geschenkpapier und Schulbedarf verhökerte, ein Umstand, den Großvater von ganzem Herzen verabscheute. Durch einen Zufall (Jens schrieb ein Diktat, konnte den Füller nirgends finden und brauchte einen neuen) hatte sich mir eines Tages die Gelegenheit geboten, Großvater bei der Arbeit zu beobachten. «Kann ich Ihnen behilflich sein?», fragte er, den Oberkörper leicht vorgebeugt, die Hände in Bauchhöhe verschränkt, eine zuvorkommende Haltung, die ihm im Zusammenspiel mit der scharf gebogenen Nase und dem wiedehopfartigen Haupthaar etwas Vogelähnliches gab. «Sie arbeiten nicht hier, Herr Roeder!», versuchte der Buchhändler einzuschreiten, und ich nahm mit Entzücken zur Kenntnis, dass man das Ärgernis beim Namen kannte. «Wenn das so weitergeht, werde ich mich in Bälde gezwungen sehen, die Polizei zu alarmieren!» Großvater lächelte entwaffnend freundlich. «Ach, für mich ist das doch keine Arbeit! Das mach ich gerne!» – «Es geht nicht darum, ob Sie es gern machen, Herr Roeder!» – «Ich denke, dass es ganz allein darum geht!» Mit einer höflichen Verbeugung beendete Großvater das Gespräch. Ich verstand nicht, wieso Struebing sich aufregte. Meiner Meinung nach sollten Leute wie er heilfroh sein, wenigstens einmal am Tag eine kompetente Kraft im Laden zu haben.

    «Was empfiehlst du heute?», fragte ich Großvater.

    «Ich habe zurzeit ein Faible für die Amerikaner.» Wir plauderten ein wenig, Großvater nahm mir das Versprechen ab, ihn bald besuchen zu kommen, er habe da ein Buch, das ich unbedingt – er lachte. «Struebing macht die ganze Zeit spitze Ohren. Ohren wie ein kleiner Elferich – ich muss Schluss machen, da kommt Kundschaft.» Hastig wünschte er mir viel Glück bei der Arbeit, Grüße an die Familie sowieso, ach ja, natürlich sei er gespannt auf meinen Roman, sehr gespannt sogar. Er legte auf und ließ mich allein in der Küche zurück. Mittlerweile war es acht Uhr fünfundfünfzig. Ich stellte mich wieder ans Fenster, trank eine weitere Tasse Kaffee, rauchte und genoss es, noch immer nicht arbeiten zu müssen. Unten kurvte Heinz auf der Vespa in den Hof, gab Gas wie ein Stuntman, schlitterte über den Schotter, feixte zu mir hoch, nahm den Helm ab und brüllte: «Alles klar?» Ich antwortete mit einem aufgerichteten Daumen. Heinz lehnte die Vespa an die Wand, hängte den Helm an den Lenker, schnippte die Zigarettenkippe fort und zeigte mir den steifen Mittelfinger, ehe er, eine frische Gauloises zwischen den Zähnen, im Lager verschwand. Dort, wo die Kippe aufgekommen war, stieg zwischen den Steinen ein Rauchfaden auf. Mein Vater war sechsundfünfzig, als er starb. Da blieben mir noch fünfundzwanzig Jahre, nicht dran denken, schreiben, muss schreiben, muss jetzt endlich mit dem Schreiben beginnen, nur noch fünfundzwanzig Jahre, muss endlich schreiben.

    Es gelang mir, den Kaffee nach oben zu transportieren, ohne etwas zu verschütten. Der Trick ist denkbar einfach. Vater hat ihn mir verraten, und ich glaube, das ist das Einzige, was ich jemals von ihm gelernt habe. «Du darfst beim Laufen nie auf die Tasse schauen», hatte er mir erklärt. Das sei der ganze Trick, und es funktioniert tatsächlich. Ich stieg die Treppe hinauf zum Dachboden, versuchte zu vergessen, eine randvolle Tasse in der Hand zu halten, zwang mich stattdessen, schwipp-schwapp, starr geradeaus zu sehen, setzte mich an den Schreibtisch, stellte die Tasse auf ein Schmierblatt – und nun begannen die richtigen Probleme. Außerirdische nahm man mir nicht ab. Aber Außerirdische waren doch das Einzige, was zählte!

    21644 West 54. Place war ein ausgedörrtes braunes Haus mit einem ausgedörrten braunen Rasen davor. «Mrs. Florian?», sagte ich. «Mrs. Jessie Florian? Sind Sie die Mrs. Florian, deren Mann mal ein Vergnügungslokal auf der Central Avenue betrieben hat?» Ich klappte das Buch zu und überlegte, wo die Nagelschere wohl sein mochte. Susanne in Sachen Ordnung etwas schlampig zu nennen, war untertrieben. Ihre getragenen Slips fanden sich im Bad unterm Waschbecken, neben dem Bett, unter ihrem Kopfkissen, und manchmal räkelte sich eines der Seidenhöschen sogar in prahlerischer Freizügigkeit auf der Lehne meines Lesesessel. Es überraschte mich längst nicht mehr, wenn sich auf dem Telefontisch eine halbgegessene Birne in eine bräunliche Scheußlichkeit verwandelte, oder mich beim Hochklappen des Klodeckels ein blassgelber Teich angrinste. Susannes Neigung zur Unordnung wurzelte tief in ihrem Wesen, und dieses Ärgernis zu bekämpfen, hatte sich bereits in den ersten Wochen unseres Zusammenlebens als ebenso aussichtslos erwiesen, wie, sagen wir mal, erfolgreich nach der Nagelschere zu fahnden. Ich versteckte die Zehen unter der Decke, kratzte mich an der Nase, gähnte. Dabei fiel mir ein, dass morgen Mittwoch war, ich nahm die Armbanduhr vom Nachttisch, heute war Mittwoch. Mittwoch hieß: Leichenwagen fahren. Mittwoch hieß: Tote wegpacken. Mittwoch hieß: schwarze Kleider anziehen. Mittwoch hieß: das Haus verlassen. Mittwoch hieß: unablässig den Anschein erwecken, gleichzeitig freundlich, mitfühlend und betroffen zu sein. Mittwoch hieß: abstumpfen. «Es ist, als ob mir jeder Tote, den ich sehe, etwas nimmt.» Heinz waren solche Überlegungen fremd. «Nimmt?», hatte er befangen gefragt. Ernste Gespräche machten ihn verlegen; am unangenehmsten war es für ihn, wenn ich vom Schreiben oder der Uni erzählte; das tat ich daher nur in Notfällen. « Was nimmt?», wiederholte er ratlos, und ich bereute, überhaupt damit angefangen zu haben. Ich murmelte: «Irgendwas verschwindet», ergänzte matt: «Hokos-pokus-verschwindibus!» und war heilfroh, dass keine weiteren Nachfragen kamen.

    Susanne gegenüber gab ich vor, die Arbeit mit dem Tod ließe mich völlig kalt. Die Decke neben mir hob und senkte sich; Susanne hatte bereits geschlafen, als ich von zwei Bierchen aus Mollingers Eck zurückgekommen war. Sie schlief, wie üblich, auf dem Rücken, den Kopf in die Beuge des angewinkelten rechten Arms geschmiegt, das Kinn knapp über den Stoppeln der Achselhöhle. Ihr Gesicht sah friedlich aus, die Lippen glänzten leicht. Über die bloße Schulter und das Kissen ergoss sich langes dichtes Haar, ihre Haut roch nach Schlaf. Die Brüste, die sie für zu groß hielt, waren halb bedeckt, und über dem Saum der Sommerdecke erschien als mittelschwere erotische Versuchung dieser Nacht die bräunliche Rundung eines Warzenhofs. Ich legte das Buch auf den Nachttisch, bemühte mich, kein allzu schweres Beben zu erzeugen und beugte mich rüber zu Susanne. Feine kupferfarbene Härchen bedeckten ihren Körper, schimmerten im Licht der Nachttischlampe, vorsichtig zog ich an der Decke: Schwupp!, erschien die rechte Brustwarze, weiterziehen, schwupp!, sah ich die linke. Flache Höckerchen überzogen die Haut der Warzenhöfe, doch kaum traf sie der feine, feste Luftstrahl aus meinem angespitzten Mund, vergrößerten sie sich, schwollen an, die Höfe kontrahierten, ihr Durchmesser verringerte sich, und die Haut fältelte sich auf, bis sie in einer prallen, feucht glänzenden Form erstarrt war. Es fiel mir schwer, die Brustwarzen nicht zu berühren, aber da Susanne es nicht mochte, wenn man sie nachts weckte (und schon gar nicht aus erotischen Gründen), begnügte ich mich damit, sie ausgiebig zu betrachten. Bald schwollen die Brustwarzen wieder ab; Susannes Lippen öffneten sich mit einem klebrigen Schmatzen; ich griff nach einem Papiertaschentuch.

    In Momenten wie diesem überstieg es mein Fassungsvermögen, dass eine so schöne Frau freiwillig mit mir zusammenlebte. Susanne war mit einundzwanzig trotz wütender Ermahnungen ihres Trainers aus der Handballmannschaft ausgetreten, hatte ihr Studium abgebrochen (dreieinhalb Semester Sport und Bio), ihr Kinderzimmer geräumt, ihre Heimatstadt verlassen, und zu dritt (Jens begleitete uns als blinde Lurchart) waren wir in den ersten Stock meines Elternhauses gezogen, während die Habseligkeiten der Bahlows noch in zwanglosen Grüppchen vor dem Haus zusammenstanden und auf den Möbelwagen warteten. Die Rückkehr ins Elternhaus war ein Vorschlag meines Vaters, der darin wohl die letzte Möglichkeit sah, mich aus der tödlichen Umklammerung einer Zweier-WG zu befreien, in der ich mich gemeinsam mit Achim langsam aber sicher ins Nirwana soff. Ich hätte übrigens nie mit Susanne zusammengelebt, schlimmer noch, sie wahrscheinlich niemals kennengelernt, hätte ihr Achim damals in Paris nicht so gut gefallen. «Heute doch nicht mehr!», hatte sie nach ihrem unbedachten Geständnis lachend beteuert. «Aber damals», sagte ich. – «Nur solange, bis ich mit dir allein im Hotelzimmer war.» Kalt und teilnahmslos sagte ich: «Ich bin also die zweite Wahl.» – «Nein, das bist du nicht, und du weißt das ganz genau! Mensch, du kannst mir doch keinen Strick draus drehen, dass mir vor Jahren jemand anderes mal ganz gut gefallen hat!» Mir behagte nicht, dass sie bewusst vermied, Achims Namen auszusprechen. «Wer hat dir vor Jahren mal ganz gut gefallen?», bohrte ich. «Wer hat dir damals in Paris mal ganz gut gefallen?» Ich wollte, dass sie Achims Namen aussprach, jetzt sofort, alles wollte ich wissen, alles wollte ich hören, sie musste Achims Namen in den Mund nehmen, musste sich zu ihrer Schuld bekennen, den Namen, den Namen, ich wollte sie den gottverdammten Namen aussprechen hören, und als ich meine Frage zum vierten Mal wiederholte, nun mit verstellter Stimme, stand Susanne auf und verließ das Wohnzimmer.

    Dass solche Streitereien im Hause Fahlmann an der Tagesordnung waren, hätte Heinz’ Weltbild erschüttert: Für ihn war Susanne eine Göttin, und die Tatsache, dass ich mit ihr zusammenwohnte, was mich dazu berechtigte, sie nackt unter der Dusche zu sehen und mit ihr im selben Bett zu schlafen, erhob mich in den Rang eines Halbgotts, dem man so viel wie möglich über das Alltagsleben der Göttin entlocken musste; etwas, das Heinz in der entwaffnenden Unschuld des Ahnungslosen fortgesetzt versuchte, indem er unsere Gespräche mehr oder weniger geschickt in pikante Gewässer steuerte: Wer von uns zuerst ins Bad gehe, wer morgens als Erster wach werde, Geburten seien doch was Fürchterliches, Mann! Er wolle keine Frau sein! Die müssen der die Poperzel wieder zunähen! Und die Nachgeburt ist so ein Oschi! Ob ich eigentlich bei Jens’ Geburt zusehen durfte? Und war ich mal schlecht gelaunt, folgerte Heinz natürlich, Susanne habe ihre Tage, und lachte: «Dann ist wohl Handbetrieb angesagt!» Manchmal tat er mir mit seiner unbeholfenen Sehnsucht, Intimitäten über Susanne in Erfahrung zu bringen, so leid, dass ich kleine «Geheimnisse» preisgab. Etwa indem ich ihm berichtete, sie habe sich eine viel zu enge Jeans gekauft. Nach einer solchen Information konnte ich beobachten, wie hinter Heinz’ Stirn eine Maschinerie aus Bewunderung und Furcht zu werkeln begann. Furcht? Trifft es das? Hatte Heinz wirklich Angst vor Susanne? Ich denke schon. Er hatte zwar keine Probleme damit, ihr aus dem Wagen Zweideutigkeiten zuzugrölen, aber war er mit ihr allein im selben Zimmer, bekam er kalte Füße. Einmal hatte ich Großvater zum Augenarzt gefahren, während Heinz unseren Badezimmerboiler reparierte. Als ich zurückkam, empfing mich im zugequalmten Flur («Bei einer solchen Fummelei muss ich einfach fluppen!») eine verunsicherte Susanne: «Das war voll psycho! Der Heinz hat nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Ist der irgendwie sauer auf mich?» – «Wer weiß!», sagte ich und behielt die Wahrheit für mich.

    Ich betrachtete die tief und fest schlafende Schöne nicht ohne Neid, denn in den meisten Nächten hatten meine Gedanken freie Fahrt auf allen Bahnen. Erst huschten sie über den Jahrmarkt, lungerten an den Buden rum, vertrieben sich die Zeit mit Dosenwerfen, Luftgewehren und Zuckerwatte, dann fuhren sie auf den Karussells, bis ihnen schlecht wurde, und am Ende zog es sie magnetisch, Wolfgang, in die Geisterbahn. Hinter jeder Kurve lauerte derzeit ein Wolfgang. Als Skelett, als Toilettenpapier-Mumie, als zottiger Yeti. Doch am unheimlichsten war er als er selbst. Dachte ich an Wolfgang, musste ich an Susannes Arbeit denken. Dachte ich an Susannes Arbeit, musste ich an Wolfgang denken. Ich musste in diesem Sommer viel zu oft an Wolfgang und Susannes Arbeit denken.

    Meine Frau arbeitete fünf Tage die Woche im Edeka-Lager. Von acht bis zwölf fuhr sie dort eine elektrische Ameise, lud irgendwelche Waren auf und karrte sie in der Gegend rum. Spannte sie ihren Bizeps an, konnte ich trotz Sargtragens nicht mithalten: Zack!, macht es, Susanne presst meinen Unterarm auf die Tischplatte, und Jens gibt ein kränkendes Krähen von sich. Für die vier Stunden Ameise zahlte man Susanne knapp sechzig Mark, nicht gerade viel, aber wenn sie nach Hause kam, zauberte sie stets Schmuggelware wie Kaugummis oder Zahnpasta aus den Jackentaschen. «Täglich gehn so viele Sachen zu Bruch, das fällt gar nicht ins Gewicht.» Sie zuckte mit den Achseln. «Außerdem macht das dort jeder!»

    Neben mir tastete Susanne nach der Decke, ich breitete sie über ihren Busen und zog mich auf meine Seite zurück. Meine Füße zeigten nach Westen. Dort schützte mich eine fensterlose Wand voller Bücherregale vor dem Anblick des Beerdigungsinstituts. Sagt er uns, welche Bücher im Schlafzimmer stehen? Ja, das tut er, aber er tut es nicht gern. Hier standen hauptsächlich Science-Fiction- und Kriminalromane, die nicht ins Wohnzimmer durften. Niemand brauchte zu wissen, was ich exzessiv las. Mein Kopf zeigte auf den begehbaren Einbauschrank; er nahm die Ostwand gänzlich ein; Schiebetüren, Mottenkugeln, Klamotten, langweilig. Nordnordwest erhob sich die glückliche Insel meines Lesesessels, hartnord spiegelte sich die Glühbirne der Nachttischlampe in einem vorhanglosen Fenster, südwestlich erstreckte sich das Geröllfeld von Susannes abgelegten Kleidern bis zur Schlafzimmertür. Totgeknüllte Blusen streichelten flugunfähige BHs, Hosen versuchten sich vergeblich aufzurichten, Socken krochen in verknotete Shorts, ich löschte das Licht, über der Wiese hinterm Haus formierten sich helle Punkte zu unbekannten Sternbildern, eine Wolke zerschnitt den Mond, Wolfgang, meine Gedanken entschlossen sich zu einer weiteren Fahrt in der Geisterbahn, ich knipste das Licht wieder an, nahm das Buch vom Nachttisch, war zu müde, um zu lesen, betrachtete das Titelbild. Mitchum sieht einfach nicht wie Philip Marlowe aus. Susanne mochte es ganz und gar nicht, wenn ich ihr solche Sachen erzählte. Das wäre klugscheißerisch. So ein Unfug! «Wenn du wissen willst, was klugscheißerisch ist», hatte ich mich einmal empört, «dann hör dir das an!» Und ich improvisierte:

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