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Sumerland: Prinz Zazamael: Roman zum Game
Sumerland: Prinz Zazamael: Roman zum Game
Sumerland: Prinz Zazamael: Roman zum Game
Ebook409 pages5 hours

Sumerland: Prinz Zazamael: Roman zum Game

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About this ebook

Wo Realität, Spiel und Fiktion sich vermischen, liegt irgendwo Sumerland. Im Olympiapark München können Besucher mithilfe einer App magische Symbole aufspüren, die an verschiedenen Orten im Parkgelände versteckt sind. Die Geschichte – und damit der Roman – zu diesem Rätsel handelt von einer fantastischen Wirklichkeit, die hinter der Illusion unserer Alltagswelt verborgen liegt. In "Wahrheit" irren wir alle in einer babylonischen Turmstadt umher, gelenkt von einem Zentralcomputer, der uns in einer Scheinwelt gefangen hält.
LanguageDeutsch
PublisherPanini
Release dateAug 22, 2016
ISBN9783833233937
Sumerland: Prinz Zazamael: Roman zum Game

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    Book preview

    Sumerland - Johannes Ulbricht

    www.paninicomics.de

    Roman

    von Johannes Ulbricht

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Johannes Ulbricht: Sumerland Band 2: Prinz Zazamael

    Copyright © 2016 Noon Games Augmented Reality GmbH & Co KG, Johannes Ulbricht. Alle Rechte vorbehalten.

    Erschienen bei Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart.

    Geschäftsführer: Hermann Paul

    Head of Editorial: Jo Löffler

    Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

    Presse & PR: Steffen Volkmer

    Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

    Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

    YDSUMR002E

    ISBN 978-3-8332-3393-7

    Gedruckte Ausgabe:

    ISBN 978-3-8332-3370-8

    1. Auflage, August 2016

    Findet uns im Netz:

    www.paninicomics.de

    PaniniComicsDE

    Für Carola, Inga, Jo, Jost, Peter, Jörg und Xu,

    Florian, Tobias und Heiko, Karsten, Yvonne, Arno,

    Lasse, die Gruppe QNTAL und die anderen,

    die dieses Spiel frühzeitig ernst genommen haben –

    wegen Euch ist es nun Realität.

    1

    Seit Neustem kann man in den Straßencafés sitzen. Da bin ich gerade. Andi, wenn Du die Sonne auf Gesicht und Armen spüren könntest. Wenn Du spüren könntest, wie die bewegte Luft des Frühlings die Haut streichelt. Dann wüsstest Du, was es heißt, lebendig zu sein. Schade, dass ich nur selten solche Erlebnisse habe. Meine Arbeit und meine Ziele halten mich rund um die Uhr im Griff.

    Auf der Straße drängen sich Leute. Alle Sorten von Leuten.

    Weitere Parallelen: Mein Intimfeind, Du bist animalisch wie die Tiermenschen des Sumerlands. Da war in der dunklen Zeit nach meiner Kündigung dieses Animalische im Badezimmerspiegel, das ich nicht sehen wollte. Seit meiner Schönheitsoperation ist es ausgerottet. So weit, so gut.

    Mein gutes, starkes Ich ist wie mein Held Zazamael. Er sehnt sich obsessiv nach dem wilden Wein, wie ich mich nach der Liebe eines richtigen Mannes sehne.

    Das Eigentliche habe ich noch gar nicht berichtet: Heute Morgen war die Telefonkonferenz mit der großen und besonderen Firma. Du weißt schon, Andi, die Firma, die ich von meinem Ex-Arbeitgeber abwerben konnte, weil dessen Compliance-Regeln zu bürokratisch waren. Die selbst so unbürokratisch ist, dass sie mir eine hohe Vorauszahlung überwiesen hat, obwohl wir noch keinen Vertrag haben. Ich habe vergessen, Dir zu verraten, welche Firma das ist: Es ist der größte Suchmaschinenbetreiber weltweit, der auch die Datenbanken verwaltet, auf die wir alle tagtäglich zugreifen und in denen unsere Zivilisation gespeichert ist. Es ist die wertvollste Firma der Welt. Jeder kennt ihren Namen.

    An der Telefonkonferenz nahmen außer mir und diesem Siggi noch mehrere Mitglieder der Geschäftsführung teil. Schon beim Small Talk am Anfang machte ich meinen ersten Fehler. Als sie mich fragten, was ich am Wochenende gemacht hätte, antwortete ich: „Tagträumen. Ich konnte die Irritation, die ich damit auslöste, körperlich durch das Telefon hindurch spüren. Tagträumen ist als Beschäftigung so tabu wie Selbstbefriedigung. Wer tagträumt, ist nicht eingebunden in das System und deshalb unberechenbar wie ein Wahnsinniger. Hätte ich doch erzählt, dass ich im Spielcasino war, einen Berggipfel rauf- und wieder runtergerannt bin, einen tödlichen Kampfsport trainiert hätte, irgendwelchen irren Eingebungen des waylhaghirischen Zentralcomputers gefolgt wäre! Um meinen Fehler auszubügeln, rechtfertigte ich mich: „Ich tagträume oft, denn damit übe ich meine Fantasie. Aber das war ein weiterer Fehler, denn Fantasie ist ebenfalls nichts Gutes, das ist etwas für Träumer. Anders ist es mit der Kreativität, die ist produktiv. Sie schafft nicht nur das Produkt selbst, sondern auch die dazugehörige – und für den Erhalt des überlebenswichtigen Wachstums knappe und deshalb kostbare – Nachfrage gleich mit dazu.

    Ich merkte an der eisigen Stimmung, dass meine Chance vertan war. Aus reiner Verzweiflung sagte ich offen: „Ich bitte um Verständnis, wenn ich Ihre Erwartungen nicht erfüllt habe. Ich bin eben eine Künstlerin." Da atmeten alle durch. Einem Künstler verzeiht man alles. Künstler sind heilig. Von einem geldgierigen oder brutalen Künstler werden die Medien kaum je berichten. Warum ist das so? Weil hinter den Schatten unserer Gesellschaft Waylhaghiri liegt, dessen Herrscher mit der Macht der Designokratie über seine Untertanen herrscht und mit nie versiegender Kreativität einen Fusionsversuch nach dem anderen entwirft.

    Nachdem das Eis gebrochen war, kamen sie zur Sache. In unserer Gesellschaft gebe es eine Fehlentwicklung, die sie korrigieren wollten. Die Menschen würden sich zu viel um Reichtum, Macht, Status, Coolness kümmern, denn diese Dinge seien objektiv greifbar. Wertvolle Dinge wie Familie, Freundschaft, Liebe, Natur sind nicht greifbar und erscheinen deshalb als graue Theorie für Idealisten. Weil sie ganz von allein da sind, hält man sie für wertlos. Diese Fehlentwicklung wollten sie korrigieren und damit nebenbei ein Geschäftsfeld erschließen. Denn ihr Konzern – verrieten sie mit beiläufigem Stolz – sei auf der Überzeugung aufgebaut, dass man den Menschen helfen muss, anstatt sie auszubeuten. Mit dieser Maxime ist ihre Firma weltumspannend groß geworden. Ihre schwachen und dummen Konkurrenten legen ein brutales oder betrügerisches Geschäftsgebaren an den Tag. Dauerhaft kommen sie damit nicht weit.

    „Wir werden ein Datenbanksystem aufbauen, das die wertvollen Dinge in Erinnerung ruft, die man im Alltag übersieht. All das, was von allein da ist, aber in der Reizüberflutung untergeht."

    In ihrer Datenbank werden alle Arten von Erlebnissen markiert und kategorisiert. Jeder registrierte Nutzer kann dort Erlebnisse eintragen, die er als Erster entdeckt hat. Wenn andere dadurch auf diese Erlebnisse aufmerksam werden und Untereinträge in der entsprechenden Kategorie machen, verdient derjenige, der den ersten Eintrag gemacht hat, echtes Geld mit seiner Entdeckung. „So ähnlich, wie wenn man als Erster einen zugkräftigen Domainnamen registriert oder ein Schlagwort bei unserer Suchmaschine belegt." Damit wird es für jedermann zu einem Geschäft, die Schönheit der Welt zu entdecken und andere darauf aufmerksam zu machen, indem er Erlebnisse in die Datenbank einträgt. Man kann in allen Medien Werbung für den eigenen Datenbankeintrag machen und damit die eigenen Einnahmen steigern.

    „Auf diese Weise lenken wir die Aufmerksamkeit der Menschen weg von Konsum und Karriere und dem ganzen Quatsch. Wir verteufeln diese Oberflächlichkeiten nicht, aber sie sind überpräsent. Der Trend muss zurück zu den eigentlichen Dingen gehen. Damit sie wieder beachtet werden und Geld für sie ausgegeben wird und Geld mit ihnen verdient wird."

    Das ist ein Paradigmenwechsel in der menschlichen Zivilisation. Und als Propagandistin und zentrale Koordinatorin des neuen Datenbanksystems haben sie mich ausgewählt. Damit habe ich alle beruflichen Ziele erreicht.

    Kleine Dinge, die leicht übersehen werden: Sonne und Wind auf der Haut – dieser überraschend schöne Moment hier im Straßencafé –, ich will ihn verlängern und perfektionieren. Ich sitze schon seit mindestens zwanzig Minuten in diesem Café, aber der Kellner kommt und kommt nicht. Unzumutbar, denn wie selten findet jemand wie ich schon die Zeit, draußen in einem Straßencafé zu sitzen? Dann muss verdammt noch mal alles klappen.

    Um der Warterei zu entkommen, schaue ich ins Sumerland. Ich hoffe, Zazamael ist nichts zugestoßen, während ich Serisada im Blick hatte.

    Im Stadtkegel war man umhüllt von einer steten Geräuschkulisse.

    Hier draußen im Herzen der Wildnis war das anders.

    Die Wildnis war still.

    Zazamael und seine Leute hörten nur ihre Schritte und ihren Atem, als sie das Labyrinth aus Stadtfragmenten durchwanderten.

    Sie wanderten einen weiteren Tag lang.

    Wider Erwarten kamen sie immer noch nicht an ihrem Ziel an. Laut Karte müssten sie schon längst da sein. Zazamael konnte sich das nicht erklären. Er orientierte sich am Sternenhimmel. Sie hatten sich nicht verlaufen, sondern gingen beständig in dieselbe Richtung.

    Wie auch immer – es blieb ihnen nichts anderes übrig, als eine weitere Nacht im Freien zu campieren. Ohne dass sie darüber sprachen, war klar, dass in dieser Nacht keiner von ihnen ein Auge zutun würde. Sie entfachten ein helles Lagerfeuer. Als sie unter den klaren Sternen kauerten, wurde Zazamael schmerzhaft bewusst, wie klein ihre Gruppe geworden war: Garimiral wickelte sich fröstelnd in ihre Decke, sodass man von ihr nur das herabhängende Haar sah. Dis warf Holzscheite in das prasselnde Feuer. Furian polierte mit Leidenschaft sein Schwert. Und da war Xionbarg Seth, um den der Prinz sich immer mehr Sorgen machte. Seit dem Tod seines Bruders war er in dumpfes Brüten verfallen. Ab und zu murmelte er halblaute Worte oder riss heftig an seinen schwarzen Locken. Die Gespräche der anderen schien er nicht mitzuverfolgen. Zazamael musste bei ihm auf alles gefasst sein. Garimiral hingegen hatte ihren Angstanfall überwunden. Doch sie wich Dis nicht von der Seite, als würde sie bei der ruhigen Attentäterin Schutz suchen.

    Während des Wartens auf das Morgengrauen gab es nichts zu tun, als ab und zu Feuerholz nachzulegen. Waren da blass leuchtende Raubtieraugen im Dunkeln? Nein. Das war nur Einbildung. Die Schlaflosigkeit machte die Krieger und Kriegerinnen dünnhäutig und steigerte die Angst und Aggression, die ihnen in den Knochen steckte. Warum – verdammt noch mal – waren sie nicht schon am Ziel angelangt? Die fragmentarische Stadt war ein Labyrinth, aber eins mit einem besonderen Trick. Natürlich hatte Zazamael damit rechnen müssen, dass die Sumerländer ihr Geheimnis mit einem Zauber schützten. Ihre Gruppe bewegte sich zweifellos auf das Ziel zu. Aber dieses Ziel schien immer einen Tick weiter wegzurücken.

    Zazamael erinnerte das an eins der Naturgesetze der Manipulation, an die heisenbergsche Unschärferelation der Ästhetik. Ein ästhetisches Ziel erreicht man nie, weil man mit abnehmendem Abstand zum Ziel immer deutlicher die kleinen Defizite sieht, die zur Perfektion noch fehlen. War das Herz des Sumerlands so ein ästhetisches Ziel? Ja. Zazamael musste zugeben, dass der wilde Wein sein ästhetisches Ziel schlechthin war. Aber das war nicht der Punkt. Zazamael war sich sicher, dass man das Innerste des Sumerlands erreichen konnte, wenn man den richtigen Weg durch das Labyrinth der fragmentarischen Stadt nahm. Dazu war das Labyrinth schließlich da – um das Herz des Sumerlands zu schützen. Das hieß, dass dieser Schutz durchdringbar war. Zazamael war ein Kämpfer.

    Manche Stadtfragmente hier draußen erinnerten ihn an seine eigene Stadt, so zum Beispiel die klassisch-römischen Teile oder die Teile, die wie die Fischerdorfsiedlung aussahen. In seiner eigenen Stadt führte der Weg ins Zentrum nicht in eine der vier Himmelsrichtungen, sondern in die Vertikale. Vorankommen bedeutete, nach oben zu kommen.

    Zazamael vernahm ein weiches Geräusch wie vom Anschlag antiker Harfensaiten. Es war zwar fast immer still hier draußen in der Wildnis, aber ab und zu hörte man einen Klang herüberwehen. Oder man roch etwas – seien es Autoabgase oder der Duft gesottenen Hammelfleischs. Diese geisterhaften Sinnesreize ließen Zazamael vermuten, dass die Parallelwelten der fragmentarischen Stadt hautnah neben der Wildnis des Sumerlands existierten. Ganz dicht, aber nicht links oder rechts, nicht im Norden oder Süden oder Osten oder Westen. Sondern oben oder unten. Er musste aus dem normalen Koordinatensystem der Himmelsrichtungen ausbrechen, um zum Ziel zu kommen.

    Und da kam Zazamael die Idee.

    Das Anspruchsvolle an meiner neuen Aufgabe ist, dass ich tagträume und gleichzeitig kühl das wirtschaftliche Potenzial meiner Tagträume kalkuliere. Meine Sinne erkunden frei die Welt. Jedes Erlebnis, das sie entdecken, ist ein ungehobener Schatz.

    Ich sehe die Wolken am blauen Sommerhimmel und mache einen entsprechenden Eintrag in der Datenbank. Allein dieser eine Eintrag wird mir im Lauf der kommenden Jahre viel Geld einbringen, denn der blaue Sommerhimmel ist für alle Menschen unverzichtbar.

    Ich achte mit Sorgfalt auf einen Schmetterling, denn auch dieses Detail der Natur ist im wörtlichen Sinne – kostbar. Es wird gleich in meine Datenbank eingetragen. Wie barbarisch und hilflos ist eine echte Schmetterlingssammlung im Vergleich zu diesem Eintrag?

    Aber die Schätze der Welt beschränken sich ja keineswegs nur auf Naturerlebnisse. Das Gefühl der Erinnerung an Dich, meine große Liebe, bleibt trotz aller Tragik, die in unserem Fall damit verknüpft ist, ein einzigartiges Gefühl. Es wird in der Datenbank ein gewaltiges wirtschaftliches Potenzial entfalten.

    So ähnlich wie ich müssen sich die ersten Siedler in der grenzenlosen Natur Amerikas gefühlt haben, mit all ihren Schätzen, die noch niemand in Besitz genommen hatte. Ich sichere mir Stück um Stück die Schätze des Lebens. Und ich tue ein gutes Werk damit, denn dadurch, dass ich ihnen einen kommerziellen Wert verleihe, verhindere ich, dass die anderen Menschen sie weiterhin übersehen.

    Allein schon das Gefühl, als attraktive Frau – mit schönheitsoperiertem Gesicht – allein in einem Straßencafé zu sitzen und die Blicke mancher Männer auf sich zu ziehen, ist – wörtlich gemeint – Gold wert.

    Für meine kleineren Kunden habe ich keine Zeit mehr. Ich sage ihnen das auch mehr oder weniger unverblümt. Da kann man nichts machen. Hinter meinem Rücken wird in der Werbeszene gelästert, dass ich größenwahnsinnig geworden bin. Aber in Wahrheit ist das nur gut für meinen Status. Feindselige Stimmen, feindselige Blicke im Rücken gibt es im Getümmel des nächtlichen Schlachtfelds ständig.

    Leute bewegen sich um mich herum. Sie lösen einander ab. Der eine nimmt den Platz des anderen ein. Sie klappern mit Kaffeetassen und sie rascheln mit Einkaufstüten. Ihre Stimmen klingen mir im Ohr, vermischen sich mit anderen Stimmen. Manche gehen zentimeterdicht an meinem Tischchen vorbei, andere sehe ich aus der Ferne. Sie alle sind wie traumverloren, haben fiktive Begierden und Ziele im Kopf, spielen ihre Spiele wie die Kinder auf der Straße. Ich befreie sie aus diesem Wahn. Ich überführe sie in mein neues System. Ich überführe sie in die natürliche Welt.

    Hoffentlich beeilt sich der Kellner diesmal und bringt mir die verdammte Torte. Sonst werde ich zornig und der schöne Moment ist zerstört.

    Die Lösung des Rätsels lag in der Art und Weise verborgen, wie die Stadtfragmente nicht zueinander passten.

    Die Stadtfragmente sahen aus, als hätte man mehrere löchrige Pläne der unterschiedlichsten Städte übereinandergelegt. Es gab eine klassisch-römische Stadt. Es gab ein südländisches Fischerdorf. Und es gab weitere Städte.

    Die Stadtfragmente waren die Sektoren Waylhaghiris, die nach den fehlgeschlagenen Fusionsversuchen von der silbernen Flüssigkeit des Innensees überflutet worden waren. Sie waren alle hier gelandet, aber so, dass ihre Himmelsrichtungen nicht deckungsgleich waren. Der Norden der klassisch-römischen Zone stimmte nicht mit dem Norden der Fischerdorf-Siedlung überein.

    Deshalb also kamen der Prinz und seine Krieger nicht vom Fleck.

    Obwohl sie immer in die gleiche Richtung liefen, wanderten sie im Kreis. Denn jedes Mal, wenn sie ein Stück aus einer anderen Stadtzone betraten, veränderten sich die Himmelsrichtungen.

    Zazamael wusste jedoch, dass man in seiner Stadt nach oben gehen musste, wenn man das Zentrum erreichen wollte. Nach oben – zusätzlich zu den vier natürlichen Himmelsrichtungen des Sumerlands war das die fünfte künstliche Himmelsrichtung des Stadtturms. Die quantitative Himmelsrichtung.

    So führte er seinen Trupp im Dunkel der Nacht kreuz und quer umher, aber immer dorthin, wo seine Füße die Steigung spürten, die in seiner Stadt allgegenwärtig war.

    In der blassen Morgendämmerung sahen sie vor sich einen Hügel. Dahinter erwartete sie das Herz des Sumerlands.

    Was auch immer es war.

    Der Herrscher Waylhaghiris war an dem Ort angelangt, wo der wilde Wein zu finden war.

    Zazamaels Stimme zitterte vor Lampenfieber. „Lasst uns noch einmal das Lager aufschlagen. Wir ruhen ein paar Stunden. Gegen Mittag steigen wir den Hang hinauf und sehen, was dahinter ist. Dis wog ruhig die Chancen und Risiken dieses Vorschlags ab. „Hm … Wird der Mörder wieder zuschlagen? Andererseits: Es ist jetzt noch zu dunkel, um weiterzugehen. Was auch immer hinter dem Hügel liegt – bei Tageslicht sehen wir es deutlicher. Wir müssen auf alles gefasst sein. Also lasst uns Feuerholz sammeln.

    Auf einmal schien der Mörder nebensächlich geworden zu sein. Alle Gedanken waren bei der letzten Schwelle, die sie überschreiten würden.

    Beim Holzsammeln legte Dis dem Prinzen plötzlich von hinten die Hand auf die Schulter. Nervös, wie er in diesen Stunden war, ließ er sein Reisigbündel fallen. „Hoheit – diese Rast ist für den Mörder die letzte Gelegenheit, zuzuschlagen. Vergesst das nicht. Sie nahm ihre Hand langsam von seiner Schulter. „Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob es einer von uns ist. Wenn doch, schätze ich: Furian ist es. Er hatte Grund, Selaim Seth zu töten. Selaim Seth hat Furian fast aufgehängt. „Ja. Alle dachten damals, dass er der Mörder wäre. Aber gerade du warst es, die ihn verteidigt hat. Sie zuckte die Achseln. „Er hat geweint wie ein Kind, als er Azazaels Tod entdeckt hat. Aber vielleicht ist er einfach nur ein guter Schauspieler. Oder hier geht etwas Übernatürliches vor. Keine Ahnung. „Hm …"

    Hatte Furian tatsächlich geweint?

    Zazamael versuchte sich zu erinnern, ob Dis und Furian gleichzeitig am Schauplatz des letzten Mordes angekommen waren.

    Aber was kümmerte ihn der Mörder jetzt noch?

    Gleich war er am Ziel.

    Endlich bringt mir der Kellner die Torte. Ein Standardstück Schokoladentorte hat 480 kcal und 33 Gramm Fett. Die Schokoladentorte ist das Kontradiätessen. Wenn ich sie mir leiste, kann ich mich den Rest der Woche beim Frühstück auf ein Affirmativdiätessen wie Frischkäsetoast beschränken, ohne dass mir etwas fehlt.

    All die Frauenzeitschriften mit ihren endlosen Diätplänen und Kochrezepten – dazwischen Werbung für Süßigkeiten und andere Lebensmittel – sind ein weiterer Beweis, dass unsere Wirklichkeit ein Schatten von Waylhaghiri ist. Weshalb sollten die Menschen sonst stetig Kochrezepte und Diätpläne lesen? Und dazu Fotos von angerichteten Speisen betrachten? Andi – willst Du mir etwa erzählen, dass die Leser nur wissen wollen, wie sie etwas Leckeres kochen? Und wie sie schlank bleiben? Das glaubst Du doch selbst nicht.

    Seit der Pleite mit der Schönheitsoperation mühe ich mich sowieso weniger ab, körperlich attraktiv zu bleiben. Ich kleide mich geschäftsmäßig korrekt, aber gleichzeitig auch etwas schlampig, was einem als Frau Professionalität geben kann. Dadurch kann ich auch mein neues Barbiepuppengesicht kompensieren.

    Das Bedürfnis nach der Torte ist gleichzeitig mit dem Tortenstück vernichtet. Und sofort entsteht das nächste Bedürfnis – so ein Straßencafé in der Sonne ist ein Ort, an dem man rauchen muss. Ich lächle den Kellner an und bitte ihn um eine Zigarette. Ja, ich habe noch immer meine besondere weibliche Macht der Manipulation. Wenn ich will, wirke ich auf Männer so anziehend wie Dreck auf Fliegen.

    Ach, ich weiß: Ich habe meinen beruflichen Erfolg nicht verdient, so böse, wie ich im Kern bin, Andi. Aber trotz allen Erfolgs bleibe ich einsam. Diese Strafe bleibt mir. Die Strafe der Einsamkeit als letzten perversen Schatten der Liebe zu Dir. Und diese Liebe wird niemals zu Ende gehen.

    Genug von mir. Bei meiner Arbeit an dem Datenbanksystem habe ich bereits nach kurzer Zeit gemerkt, dass es nicht ausreicht, wenn ich dort Erlebnisse eintrage, die mir selbst auffallen. Dadurch beschränkt sich der Inhalt der Datenbank auf meinen eigenen Erlebnishorizont. Ich ging dazu über, andere Leute daraufhin zu analysieren, was sie für Erlebnisse haben. Dadurch gelang es mir, den Inhalt der Datenbank über meine persönlichen Grenzen hinaus zu erweitern.

    Am ergiebigsten sind andere Leute dann, wenn ich sie nicht ausstehen kann, ja sogar verachte. Dann sind ihre Erlebnisse am größtmöglichen unterschiedlich von meinen eigenen.

    Jetzt bin ich nicht mehr wütend, nur noch neugierig und ruhig, wie eine Katze eine Maus beobachtet. Ich habe gelernt: Wut ist schwach, Neugier ist stark. Neugier ist – nach der Liebe – wohl das stärkste Gefühl überhaupt. Wenn Du Dich von Deinem Unterdrücker befreien willst, denke nicht mit Wut an ihn, sondern mit Neugier. Die Steinzeitmenschen haben sich voll hilfloser Wut beim Zucken der Gewitterblitze in ihre Höhle geduckt, bis schließlich einer von ihnen neugierig wurde und es wagte, den brennenden Ast in die Hand zu nehmen. So wurde das Feuer entdeckt.

    Am besten kann ich es wohl an einem Beispiel erklären: Nehmen wir diesen Rohstoffspekulanten aus der Schweiz. Er ist durchtrieben und berechnend. Aber er kann nichts gegen seine menschliche Natur – auch bei ihm kommt der Moment, in dem er sich entspannen will, die Sinne öffnen und arglos sein will.

    Und in diesem Moment hole ich ihn ab. Ich tue ihm nicht weh. Im Gegenteil – ich interessiere mich für ihn. Es war interessant, zu entdecken, dass er es liebt, mit seinem Segelboot hinaus auf den Genfer See zu fahren. In der zitternden Linie des Wasserspiegels sieht er ein Versprechen von Freiheit.

    Und diese zitternde Linie ist nun ein kostbarer Eintrag in meiner Datenbank.

    Als Dis und Zazamael mit dem Feuerholz zurück zum Lager kamen, fanden sie ein Chaos vor: Xionbarg Seth kniete auf der Brust von Furian und presste einen Dolch gegen seine Kehle. Garimiral stand abseits und hielt sich beide Hände vor den Mund. Der Rucksack von Furian lag offen auf dem Boden, sein Inhalt war im Gras verstreut.

    „Xionbarg Seth, was soll das? Zazamael legte alle prinzliche Autorität in seine Stimme. Xionbarg Seth stammelte: „Ich bringe ihn um. Er war es. Er hat sich herangeschlichen. Ich bringe ihn um. „Lass ihn los. Sofort. Furian keuchte wortlos unter dem Druck der Klinge an seiner Kehle. Zazamael trat auf die beiden zu, aber Xionbarg Seth warf seinem Herrscher einen drohenden Blick zu. „Zurück. Noch einen Schritt, und ich steche ihn ab. Erst ihn, dann euch. „Wie wagst du es? Bist du wahnsinnig? „Er hat meinen Bruder getötet. Und er wollte mich töten. Ich steche ihn ab.

    Da packte Dis, die sich unbemerkt an Xionbarg Seth herangeschlichen hatte, von hinten seine beiden Arme. Sie riss ihn zurück. Er verlor dabei die Klinge, auf die Dis blitzschnell ihren Stiefel setzte. Furian stand wankend auf und taumelte zurück. Furian und Xionbarg Seth starrten einander mit unverhohlener Mordlust an.

    Furian machte einen jähen Satz zur Seite, packte die aufkreischende Garimiral und riss die Klinge aus ihrem Gürtel. Damit warf er sich auf Xionbarg Seth und rammte ihm den Dolch mitten in die Brust. Xionbarg Seth atmete noch einmal ein, stammelte etwas Unverständliches und brach zusammen. Dis ließ ihn los und warf sich auf Furian. Sie brüllte: „Hilf mir!" Furian holte mit der Klinge aus und hätte Dis trotz ihrer katzenhaften Ausweichreflexe um ein Haar getroffen.

    Zazamael stürzte sich mit seiner Klinge auf Furian, der den Angriff aus den Augenwinkeln erkannte und eine gefährliche Stichbewegung in Richtung des Prinzen machte. Dabei ließ er Dis aus den Augen. Die nutzte diese Gelegenheit und tötete Furian mit einem chirurgisch sauberen Schnitt durch die Kehle.

    Die drei Überlebenden standen umeinander herum. Die Stille war bleischwer. Als Garimiral nach langer Zeit leise zu schluchzen begann, war es wie eine Befreiung.

    „Bald ist es hell. Dann sind wir am Ziel." Zazamael setzte sich unbeholfen ins Gras. Dis sollte nicht sehen, dass seine Beine zitterten. Er sah hinüber zu dem steilen Hügel, der sich vor ihm im Dämmerlicht erhob.

    Dis breitete in lakonischer Ruhe zwei Decken über die beiden Toten. „Wer auch immer von beiden recht hatte – jedenfalls ist der Mörder nicht mehr unter uns", bemerkte sie.

    Hatte Zazamael richtig gehört?

    Hatte Dis leise gelacht?

    Ein weiteres Beispiel für meine Tätigkeit: Einen hartgesottenen Zwecklügner musste ich mehr als zwei Wochen lang beobachten, bis ich ihn bei seinem ersten Erlebnis ertappte. So gut hatte er sich unter Kontrolle, so gut hatte er die Tore seiner Sinne verrammelt.

    Der Mann ist eigentlich Anwalt, aber schon seit Jahren als Lobbyist tätig. Sein Beruf besteht darin, dass er Partikularinteressen mit Gemeinwohlinteressen vermengt. Leute wie er sind dafür verantwortlich, dass das Schöne und das Schädliche untrennbar verwoben sind. Er versteht es besser als jeder Marketingguru, auf der Klaviatur der menschlichen Emotionen zu spielen. Und trotzdem – frei von seinen eigenen Emotionen konnte er sich nicht machen. Im Kern bleibt er ein normaler Mensch. Wie jeder und jede von uns.

    Ich erwischte ihn dabei, wie er am Wochenende Sport trieb. Er freute sich an der Kraft seines Körpers. Und an der Fairness der Regeln, die sicherstellen, dass es allein auf Leistung ankommt.

    Das waren gleich zwei wertvolle Einträge für meine Datenbank.

    Beim nächsten Treffen von Susannes Bande im Geheimversteck war die Stimmung schlecht. Angelika schimpfte: „Sie haben mich in eine Regenpfütze geschmissen und meinen Kopf in den Schlamm gedrückt. Susanne öffnete den Mund, aber Angelika war noch nicht fertig. „Zu Hause haben meine Eltern nur geschimpft wegen der dreckigen Sachen. Vater hat rumgetönt, dass ich mich halt wehren soll. Das hätte er als Kind auch so gemacht. Aber das war lange her. Niemand wusste mehr, wie es wirklich gewesen war. Außerdem war ihr Vater als Junge stärker gewesen.

    Selbst die stärksten Jungs in Susannes Bande sahen unglücklich drein, so zum Beispiel Thomas. „Die anderen Jungs lassen mich beim Fußball nicht mehr mitspielen. Nur weil ich zu euch gehöre. Dabei war ich der zweitbeste Stürmer der Mannschaft." Er spuckte auf den Boden.

    „Du musst eine Lösung finden, Susanne. Schließlich war dieses komische Spiel deine Idee. Du hast uns mit reingerissen."

    Susanne starrte zurück und schwieg eisern. So weit war es also schon – sie suchten eine Schuldige. Susanne lachte trocken. „Überlegt doch mal selbst. Erst herrschte langes Schweigen, bis ein einziger Vorschlag kam. „Wir greifen die großen Kinder alle zusammen an, jeweils einzeln. Dann sind wir stärker als jeder von ihnen. So können wir sie verprügeln. Das sagte Martina, der sie den bestickten Geldbeutel mit ihrem Geld drin weggenommen hatten. Die meisten Kinder fanden Martinas Idee gar nicht schlecht. Aber Susanne war dagegen: „Damit machen wir doch beim Spiel der großen Bande mit – deren Krieg gegen uns ist nichts als ein Spiel. Wenn wir sie angreifen, stacheln wir nur ihren kämpferischen Ehrgeiz an. „Wenn du so schlau bist, hast du bestimmt die Lösung. Los. Verrat sie uns. Absichtsvolles spöttisches Gelächter hier und dort – aber Susanne starrte mit lachenden Augen in die Runde.

    Sie klatschte in die Hände. „Ja. Ich habe die Lösung. Los. Kommt mit. Wir lauern den großen Jungs und Mädchen gemeinsam auf. Wir erwischen sie jeweils einzeln. Aber wenn wir sie haben, verprügeln wir sie nicht. Sondern wir zeigen ihnen nur, dass wir es könnten. Das wird ihnen peinlich sein. So werden sie mehr Angst vor uns haben, als wenn wir ihnen etwas tun. „Ich hoffe mal, dass dein Plan funktioniert …, murmelte Martina.

    Garimirals Stimme zitterte: „Bitte lasst uns ein Stück zur Seite gehen. Ich will die letzten Stunden unserer Reise nicht neben den beiden Toten verbringen. Dis zuckte gleichgültig die Achseln. „Wie du meinst.

    Ein paar hundert Meter weiter entdeckten sie ein modernes Haus mit einem Rollstuhl davor. Dahinter lag ein kleines Amphitheater, in dessen Halbrund sie ihre Schlafsäcke ausrollten.

    Während dieser letzten Rast konnte Zazamael nicht schlafen. Er hörte, wie Garimiral sich hin und her warf. Dis hingegen war ruhig.

    Die Kälte des Morgens kroch herauf. Zazamael stützte den Kopf auf einen Ellbogen und sah hinüber zu der letzten Grenze. Über der Hügelkuppe – einer dunklen Linie, auf der man die Schattenrisse einzelner Büsche und schwankender Gräser ausmachen konnte – verblassten die Sterne der Nacht. Seine Gedanken kreisten um das, was hinter diesem Hang auf ihn wartete. Der wilde Wein. Serisada.

    Der Tod seiner beiden Leute beschäftigte ihn hingegen nicht – sie hatten das Ziel erreicht. Damit war gleichgültig geworden, was es mit dem Mörder auf sich hatte.

    Zazamael drehte sich auf die andere Seite und ließ den Blick über die leeren Zuschauerränge des Amphitheaters schweifen. Der weiße Marmor leuchtete bleich im allerersten Dämmerlicht. Er erinnerte sich, dass dieses Amphitheater eine Attraktion der klassisch-römischen Zone in Waylhaghiri gewesen war. Das verlassene Theater mitten in der Wildnis hatte etwas Trostloses, fand der Prinz.

    Er versank noch einmal in einen unruhigen

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