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Ein weiter Blick: Einblicke Rückblicke Ausblicke
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Ein weiter Blick: Einblicke Rückblicke Ausblicke

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Einblicke: Wurzeln, Das Nähkästchen, Überraschende Wendung, Juvenat, Befreiung, Erwachsen werden: Soldat – Studium –Beruf, Erwachsensein und Verantwortung tragen, Deutschland im Zeitraffer, Schule und Lehrer, Umwandlungen, Anhang
Rückblicke: Die Friedensmacher, Weltbeherrschung, Kolonialismus, Imperialismus, Asien im Focus, Dekolonialisierung, Ein deutscher Sonderweg, Hitlers Wahn und der Holocaust, Der deutsche Krieg, Verbrechen überall: Porajmos und Aktion T4, Wewelsburg – eine Erfahrung, Anhang,
Ausblicke: Klimaretter von Paris, Der Gipfel, Klima, Wachstum – Wie und Warum?, Grenzen und Überschreitungen,
Thule und Tuvalu, Dilemmata, Fossil oder Regenerativ?, Rettung?
Katastrophenszenario?, Prognosen? Krisenbewältigungen
Momentaufnahme, Januar 2016: Erregung und Skandalisierung, Mediatisierte Zivilisation, Information – Infotainment
– Desinformation, Unterhaltung und Bespaßung, Willkommenskultur oder Abschottung, Silvesternacht mit Folgen, Nafris, Deutsche Nabelschau, Frieden im globalen Dorf, Zurück zur Besonnenheit, Ohne Irrationalismen,
Ergänzung: April 2016
LanguageDeutsch
Release dateAug 31, 2016
ISBN9783741270024
Ein weiter Blick: Einblicke Rückblicke Ausblicke
Author

Gerd Ossenbrink

Gerd Ossenbrink, geboren 1943, katholisch sozialisiert, Schüler in einem Ordensinternat und Abitur an einem Jesuitengymnasium, Lehrer und Schulleiter a. D., ehem. Kommunalpolitiker, Öffentliche Interventionen in gesellschaftlichen Diskursen

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    Ein weiter Blick - Gerd Ossenbrink

    ZUM AUTOR

    Gerd Ossenbrink,

    geboren 1943, katholisch sozialisiert, Schüler in einem Ordensinternat und Abitur an einem Jesuitengymnasium, Lehrer und Schulleiter a. D., ehem. Kommunalpolitiker, Öffentliche Interventionen in gesellschaftlichen Diskursen.

    Inhalt

    Vorwort

    Einblicke oder ›Meine‹ siebzig Jahre

    Wurzeln

    Das Nähkästchen

    Überraschende Wendung

    Juvenat

    Befreiung

    Erwachsen werden: Soldat – Studium – Beruf

    Erwachsensein und Verantwortung tragen

    Deutschland im Zeitraffer

    Schule und Lehrer

    Umwandlungen

    Anhang

    Rückblicke

    Die Friedensmacher

    Weltbeherrschung

    Kolonialismus

    Imperialismus

    Asien im Focus

    Dekolonialisierung

    Ein deutscher Sonderweg

    Hitlers Wahn und der Holocaust

    Der deutsche Krieg

    Verbrechen überall: Porajmos

    Aktion T4

    Wewelsburg – eine Erfahrung

    Anhang

    Ausblicke

    Der Gipfel

    Klima

    Wachstum – Wie und Warum?

    Grenzen und Überschreitungen

    Thule und Tuvalu

    Dilemmata

    Fossil oder Regenerativ?

    Rettung? Katastrophenszenario?

    Prognosen? Krisenbewältigungen?

    Momentaufnahme, Januar 2016

    Erregung und Skandalisierung

    Mediatisierte Zivilisation

    Information – Infotainment – Desinformation

    Unterhaltung und Bespaßung

    Willkommenskultur oder Abschottung

    Silvesternacht mit Folgen

    Nafris

    Deutsche Nabelschau

    Frieden im globalen Dorf

    Zurück zur Besonnenheit

    Ohne Irrationalismen

    Ergänzung: April 2016

    Schlussbetrachtung

    Literaturhinweise

    Abbildungsnachweis

    Bücher des Autors

    Wenn wir die Erde

    zu einem besseren Ort machen wollen,

    müssen wir uns ändern.

    Je freiwilliger wir es tun,

    desto weniger Gesetze und Regeln benötigen

    wir.

    Unsere Zivilisation wurde vom Kulturträger

    Mensch

    zu einer hochkomplexen Kultur

    weiterentwickelt.

    Dennoch bleibt sie an die natürlichen

    Bedingungen

    für das (Über-)Leben gebunden.

    Was wir brauchen: aufgeklärtes Denken,

    Empathie,

    globale Verantwortung und eine

    Deeskalationsstrategie

    für alle Konflikte.

    Waffen sind keine Konfliktlöser.

    Religionen müssen sich noch als Friedensstifter

    und -bewahrer erweisen.

    G. O.

    Ein Dankeschön gilt meiner Frau Bernhild und allen diskurswilligen Freundinnen, Freunden und Bekannten.

    Vorwort

    Kulturfolger

    In jeder Sekunde seines Lebens, das ein Teil der Natur ist und deren Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten folgt mit Essen und Trinken, Schlafen und Wachsein, Sexualität und Kinderaufzucht, kommunizieren, rivalisieren und Gefahren vermeiden, wird der heutige Mensch zum Kulturschöpfer, zum Gestalter seiner kulturellen Identität.

    Gerade etwa 10.000 Jahre ist es her, seit der Mensch der Natur ein Schnäppchen schlagen und sie mehr und mehr (scheinbar) beherrschen konnte. Der Sprung (oder der Auszug aus dem Paradies) konnte gelingen dank der neuen Kraft der Selbsterkenntnis, inbegriffen die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit und der eigenen Schöpfungskraft, die es ihm ermöglichten, die kulturelle Evolution in Gang zu setzen und immer atemberaubendere Kulturschöpfungen hervorzubringen.

    Er hat zwar seine Höhlenzeit hinter sich gelassen, nicht aber den Glauben an Zauberkraft und Magie, an Götter und Übersinnliches. Nun aber macht er dank seiner einzigartigen Schöpfungskraft sich alles untertan zum eigenen Vorteil und zum Nachteil aller anderen Spezies, schafft sich sein kulturelles Biotop mit Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Technologie und lebt sein Doppelleben aus Natur und Kultur. Letztere aber bestimmt seine Existenz. Der mit dieser (Hoch) Kultur noch nicht in Berührung gekommene Wilde aus Amazonien oder Papua-Neuguinea wird aussterben oder sich, wohl oder übel, auf den Kulturpfad begeben.

    Ein Zurück zur Natur gibt es nicht mehr (allenfalls das herablassende Überlassen eines kleinen Stücks davon). Der Kulturfolger ist zur Kreativität gezwungen, muss immer neue Möglichkeiten finden oder erfinden, um seine Existenz zu verbessern oder zu sichern. Selbst den Weg Out of Planet Erde nimmt er in sein Kalkül, kein guter Ausweg, wie ich finde. Gespielt werden wird hier auf dem Kulturplatz der gegenwärtigen Zivilisation.

    Sie aber kämpft um ihr Überleben, wobei die Magie die Wirklichkeit ersetzt: Das Wetter wurde Ihnen präsentiert von… Die Natur aber lässt sich nicht präsentieren, ist mehrere Milliarden Jahre alt und wird sich dem Schöpfer Mensch nicht ergeben. Der Homo sapiens, der Weise, wird erkennen müssen, dass er nicht auf Dauer über die Natur herrschen kann, er wird wieder zu Ehrfurcht, Demut und Bescheidenheit finden müssen. Es sind die alten humanistischen Tugenden, religiös deuten muss man sie nicht.

    Meine‹ siebzig Jahre, also unsere Gegenwart, der Rückblick auf die Epoche meiner Eltern (Jahrhundertwende) und der Ausblick auf die Zeit meiner Söhne und Enkelinnen werfen einen durchaus kritischen Blick auf die Fähigkeiten des Kulturschöpfers Mensch, auch zum Kulturbewahrer Mensch zu werden.

    Die Manifestationen der professionellen Kulturschöpfer sind berauschend, beglückend und erregend auf allen Gebieten, der Kulturvollzug durch den Homo normalis, 7,4 milliardenfach täglich, verbleibt in den Mühen der Ebene (Brecht), bei dem Ringen um das Existenzielle, für die einen mehr, für andere (scheinbar) weniger oder gar nicht, und für sehr viele reicht es nicht einmal zum Minimum.

    Ökonomische Tatsachen schaffen unterschiedliche Kulturen, eine des sinnlosen Konsums und der Ressourcen- und Zeitverschwendung und die Kulturen des Überlebenskampfes, des Elends und der Armutsfluchten. Immer findet Verteilung statt: von Arm zu Reich und als Rest oder Abfall zurück zu Arm – Logik der globalen Welt.

    Katholisch sozialisiertes siebtes Kind eines Dorfschuhmachermeisters und Kleinstlandwirts, Internatszögling und Ordenskadett, Jesuitenschüler, Reserveoffizier, 68er ohne marxistisches Bekenntnis, aber politisch links orientiert, Sozialdemokrat und Kommunalpolitiker, Familienvater mit zwei Söhnen und zwei Enkelinnen, Lehrer und Schulleiter, Mittelständler, Ruheständler mit unruhigem, kritischen Blick und ebensolcher Haltung stehe ich mit über siebzig Jahren staunend vor dieser Vita, aber nicht selbstzufrieden.

    Es hat mich bewogen aufzuschreiben, was mich bewegt. Es soll eine zeitgeschichtlich-kritische essayistische Betrachtung sein, faktenbasiert und meinungsstark, religionsfrei denkend und der Aufklärung und der Vernunft verpflichtet.

    Die Ereignisse des Januar 2016 in Köln und anderswo haben mich zu einer sehr kritischen Momentaufnahme angetrieben.

    Nach einem intensiven Diskurs fragte mich ein Freund, ob ich glaube, dass die Menschheit etwas aus der Geschichte gelernt habe. Ich habe die Frage mit Nein beantwortet, habe aber hinzugefügt, dass wir ja noch nicht am Ende des Lernprozesses angekommen seien. Es bleibt also Raum für Hoffnung.

    Mai 2016

    Einblicke — ›Meine‹ siebzig Jahre

    Wurzeln

    Am 11. April 1943 wird das siebte Kind eines Schuhmachermeisters und Kleinlandwirts in einem Tausend-Seelen-Dorf in tiefster westfälisch-katholischer Provinz geboren. Ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, hatte doch kurz zuvor am 2. Februar 1943 die sechste deutsche Armee unter Feldmarschall Paulus in Stalingrad kapituliert. 300.000 Soldaten waren allein in dieser Schlacht gefallen, 108.000 gingen in Gefangenschaft nach Sibirien, nur 6.000 davon kamen bis 1955 zurück. Aus realistischer Sicht betrachtet war das kein guter Ausgangspunkt für neues Leben während der Götterdämmerung des Tausendjährigen Reiches.

    Das Dorf ist kurz beschrieben: Etwa tausend Einwohner, eine schöne romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert, ein Adelssitz oberhalb des Dorfes mit gleichem Familiennamen im Adelstitel und einem zugehörigen landwirtschaftlichen Großbetrieb, das Dorf mit Bauern, Kleinbauern und selbständigen Handwerkern, Arbeitern und Tagelöhnern, alles in allem keine wohlhabende Bevölkerung, aber mit Standesunterschieden nach Vermögen.

    Neun Familienmitglieder mussten aus dem Kleingewerbe und der kleinen Landwirtschaft ernährt und untergebracht und mit dem Notwendigen versorgt werden, sicherlich kein leichtes Unterfangen, aber als Selbstversorger auch nicht unmöglich bei geringen Ansprüchen. Zwei Milch- und Arbeitskühe, einige Schweine, Hühner und Gänse waren die Grundlage, darüber hinaus großer Fleiß und handwerkliches Geschick auf allen Gebieten.

    Sechs fast schon erwachsene Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern nahm ich später als meine Verwandten wahr, deren Aufsicht ich nicht entgehen konnte, die aber auch Zuflucht, Schutz und gegebenenfalls Hilfe gegen väterliche Strenge und bei kleinen Malheuren boten, bis sie als junge Erwachsene, mit Ausnahme eines Bruders, das Elternhaus verließen und der kleine Junge allein zurückblieb, aber mit etwa Gleichaltrigen in der Nachbarschaft eng zusammenlebte. Mein Vater war Schuster, aber auch Schuhmacher, der für zahlungskräftige Kunden handgenähte Schuhe anfertigte. Später baute er noch einen kleinen Schuhladen auf.

    Abb. 1: Familie 1951 bei der Silberhochzeit der Eltern

    Spätestens um dieses Jahr 1943 herum wurde den Deutschen klar, dass die Feier zu Ende ging, die der Gröfaz, der größte Führer aller Zeiten, Adolf Hitler, dem Deutschen Volk bereitet hatte. Auch seinem größten Propagandisten und Volksverhetzer, Josef Goebbels, war es nicht mehr gelungen, die Deutschen bei seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1942 zum totalen Krieg mitzureißen, nur ein ausgesuchtes Publikum jubelte pflichtschuldigst.

    Mein Vater war der Hitler-Partei nicht beigetreten, hatte auch dem mehr oder weniger sanften Druck von Dorfnazis standgehalten, war aber sicherlich, wie viele kleine Leute, Handwerker und Bauern, auch angetan von den Anfangserfolgen des Regimes nach 1933 und den Versprechungen für eine goldene Zukunft und auch beeinflusst von der Propaganda.

    Wie fast die gesamte bäuerliche Bevölkerung fuhren meine Eltern mindestens einmal zum großen Reichs-Erntedankfest des Landvolkes nach Bückeburg, bei dem Hitler Begeisterungsstürme entfachte. Zehntausende jubelten ihm zu. So sah das Programm aus: »Der Weg durch das Volk« – das zentrale Ritual des Festes – Überreichung der Erntekrone an Hitler und Wehrmachtsübungen — Exkurs: Christlicher Erntedank und das Reichserntedankfest — Die Schlacht der Zukunft — Erntedank und Panzer? — Zum Nebeneinander von Naturidylle und Militärübung — Hitler spricht — Der Abschluss des Festes« (aus Wikipedia) Es sieht nach einer quasi religiösen Feier aus.

    Späteren, sehr wenigen, Äußerungen meines Vaters konnte ich entnehmen, dass er sich von dieser Begeisterung nicht mitreißen ließ, sondern diesem Mann gegenüber skeptisch blieb. In den späten Jahren der Weimarer Republik fühlte sich mein Vater als junger Mann zur Partei des Katholizismus, dem Zentrum, hingezogen, das die bestimmende Partei in unserer Gegend war und bis 1933 blieb, politisch aktiv jedoch wurde er nicht. Was er bei der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 24. März 1933, das Hitler die uneingeschränkte diktatorische Macht über Deutschland bescherte, empfunden hat, ist nicht angesprochen worden. Das Zentrum stimmte diesem Gesetz zu (und löste sich wenig später nach dem Konkordat zwischen dem Vatikan und Nazi-Deutschland selbst auf). An anderer Stelle ist darüber zu schreiben. Die zweitstärkste Partei im Reichstag, die SPD, stimmte, ebenso wie die Kommunisten, dagegen und musste bitter dafür bezahlen.

    Von all diesen Vorgängen wird man in der fernen Provinz nur wenig mitbekommen haben, die Nazianhänger im Dorf organisierten einen Fackelzug. Bei der letzten freien Wahl vor der Machtübernahme am 31. Juli 1932 hatte die NSDAP im Dorf nur ein mageres Ergebnis erreicht.

    Als einigermaßen gesichert ist aber davon auszugehen, dass auch viele Menschen, die Hitler nicht zugetan waren, das Ende der Weimarer Demokratie, die zum Schluss nur noch chaotisch agierte, herbeiwünschten. Den unteren Schichten ging es immer schlechter, was den Nazis in die Hände spielte, und es gab am Ende fast sechs Millionen Arbeitslose.

    Abb. 2: 1917 im Kriegslazarett, Josef Ossenbrink zweiter vorne rechts

    Mein Vater, Jahrgang 1898, war 1916 zum Fronteinsatz gekommen, wurde schwer verwundet, kam in ein gutes Lazarett nach Würzburg und nach seiner Genesung als Kriegsverletzter nicht mehr zum Einsatz, während sein jüngerer Bruder 1918 fiel. Die Folgen der Verwundung musste er sein Leben lang ertragen, später bekam er eine winzig kleine Kriegsrente. Der Granatsplitter aber wurde als Familientrophäe bewahrt. Es war ein Schicksal, das Millionen Männer teilten.

    Zurück zur Familiengeschichte! 1925/26 hatten mein Großvater und mein Vater das alte Wohnhaus vollständig abgerissen und ein neues zweigeschossiges Wohnhaus mit Werkstatt und einem Wirtschaftsanbau für den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb errichtet. Geholfen haben der zukünftige Schwiegervater, ein kleiner Bauhandwerker mit eigenem Unternehmen und die zwei älteren der vier zukünftigen Schwäger, die bereits im Baugewerbe tätig waren. Nach der Hyperinflation von 1923 und der gerade sich erholenden Wirtschaft war das für meinen Vater und meine Mutter nach der Heirat 1926 eine gewaltige Schuldenlast, die abzutragen war.

    Immerhin zeigt das Beispiel, dass die Menschen nach der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, dem Vertrag von Versailles mit seinen schwerwiegenden Auflagen und Restriktionen, dem Ende der Hohenzollern-Monarchie und der Fürstentümer, den revolutionären Umtrieben und der Ausrufung der ersten deutschen Demokratie durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 6. Februar 1919, der Verarmung breiter Schichten in der Hyperinflation von 1923 und dem Währungsschnitt und einer neuen stabilen Währung wieder Mut zum Leben gefasst hatten.

    Abb. 3: Hochzeit der Eltern 1926 – vor dem neuen Haus

    Ich springe nochmals in das Jahr 1923. Viele nennen es ein Schicksalsjahr für Deutschland, denn hier entschied es sich, ob die Demokratie schon stark genug war oder ob die Kräfte der Zerrüttung und des aufkommenden Faschismus beim Hitler-Ludendorff-Putsch in München bereits eine Konterrevolution erfolgreich zu Ende führen konnten. Sie konnten es noch nicht, wie wir heute wissen, aber die furchtbare Verarmung breiter Schichten durch die völlige Geldentwertung war Wasser auf die Mühlen der Demokratieverächter, Antisemiten, Rassisten und Dolchstoß-Fantasten. Von Juli bis November 1923 verlor die Mark vollständig an Wert, für einen Dollar bekam man im Juli 350.000 Mark und am 15. November 4,2 Billionen! »Die systematische Enteignung des deutschen Mittelstandes, nicht etwa durch eine sozialistische Regierung, sondern in einem bürgerlichen Staat, der den Schutz des Privateigentums auf seine Fahne geschrieben hatte, ist ein beispielloses Ereignis. Es war eine der größten Räubereien der Weltgeschichte.« (Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, a. a. O., S. 395)

    Gewinner war der Staat, der mit einem Schlag seine Schulden los war, aber auch die Großindustrie, da deutsche Waren zu Schleuderpreisen exportiert werden konnten. Am 15. November war der Spuk vorbei, es gab den totalen Währungsschnitt: Eine Billion war jetzt gleich einer Goldmark, die ab 1924 Reichsmark hieß und wieder durch Gold und wertbeständige Devisen gedeckt war.

    Ich habe diesen Exkurs gemacht, weil nach allen Schrecken des Krieges, der sich aber, bis auf Ostpreußen, außerhalb der Reichsgrenzen abgespielt hatte, nun die Folgen für die Menschen drastisch sichtbar waren. Diese Hyperinflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929, die zur ungeheuren Arbeitslosigkeit von sechs Millionen Menschen führten, gingen in das kollektive Gedächtnis der Deutschen ein, und man wurde auch noch als Kind des Wirtschaftswunders und später als Politiker immer wieder damit konfrontiert. Wirtschaftskrisen solchen Ausmaßes spielen immer den Feinden der Demokratie in die Hände.

    Meine Mutter, Jahrgang 1901, war eine herzensgute, sehr fleißige Frau, die ich fast nur arbeitend oder betend in Erinnerung behalten kann. Als ältestes von sechs Geschwistern aus ähnlichen kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend wie mein Vater, hatte sie keinen Beruf erlernt, arbeitete im elterlichen Haushalt, war später Magd und dann Großmagd bei einem Bauern und führte zu Beginn der zwanziger Jahre bei einer Tante im Ruhrgebiet einen großen Haushalt mit vielen Kindern. Alles, was in einem solchen Haushalt und an Arbeiten in einem kleinbäuerlichen Betrieb an Kenntnissen und Fertigkeiten erforderlich war, beherrschte sie perfekt.

    Selten hatte ein Arbeitstag nach meiner Erinnerung weniger als zehn bis zwölf Stunden und es gab niemals ein klagendes Wort. Bei besonderen Arbeitstagen wie am Schlachttag, am Dreschtag oder bei besonderen Feldarbeiten gab es manchmal Helferinnen oder Helfer, auch konnten die älteren Schwestern ihr mehr und mehr zur Hand gehen, aber an ihr hing das meiste. Jeden Tag für mindestens zehn Personen das Essen zuzubereiten, war allein schon eine große Aufgabe für die Hausfrau, zumal man sich weitgehend selbst aus Garten und Keller oder Vorratskammer versorgte.

    Meine Mutter war fromm, beachtete streng die Regeln der katholischen Kirche, war gehorsam gegenüber Pfarrer und Obrigkeit ohne je zu hinterfragen, war in der Furcht des Herrn erzogen, hätte nie einen Widerspruch gewagt und konnte es sich nie verzeihen, wenn aus Versehen eine Regel einmal nicht vollständig eingehalten worden war. Fasttage, Gebetsrituale, Gottesdienstbesuche und das Einhalten der Beicht- und Kommunion-Vorschriften wurden genauestens beachtet.

    Aus meiner heutigen aufgeklärten Sicht und einer säkularen Lebenseinstellung heraus kann ich nur mit Zorn und Verachtung auf die Unterdrückung der kirchlichen Untertanen in der damaligen engen dörflichen Gesellschaft zurückblicken, in der es für Menschen wie meine Mutter keinen Ausweg aus der religiösen Klammer gab.

    Dass sie es vielleicht nicht so empfanden, sondern es in der Gewissheit auf die Belohnung im Himmel taten, macht die Sache nicht besser. Als Fünf- bis Sechsjährigen nahm mich meine Mutter morgens mit in die Kirche, wenn die landwirtschaftlichen Arbeitszyklen es zuließen, mit leerem Magen, und zu Hause fiel ich dann hungrig über den Frühstückstisch her.

    1953 gab es im Dorf ein katholisches Großereignis, das für mein Leben eine große Bedeutung bekommen sollte. Es nannte sich Volksmission. Dazu kamen zwei Prediger eines Ordens ins Dorf, die das Volk religiös wieder auf Vordermann bringen sollten. Ich erinnere mich, dass die Menschen ergriffen und hingerissen waren, so natürlich auch meine Mutter. Zu allen Veranstaltungen der Prediger war die Kirche berstend voll, berichtet der Dorfchronist. Danach war die Statik der katholischen Welt wieder hergestellt: Gott — Papst — Priester — die Jungfrau und

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