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H'mong
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Die erschütternden Leiden des H’Mong Volkes in Laos sind Realität bis zum heutigen Tag.
Die Handlung des Buches ist fiktiv. Aber sie könnte sich so zugetragen haben.
Der Autor will Lesern der westlichen Welt die Augen für das Los dieser Menschen öffnen; er will sie bewegen, einige Übel in diesem Teil der Welt zur Kenntnis zu nehmen.

Der Handlung liegt die Realität zu Grunde.
Die H’mong (In China: Miao; in Thailand: Meo, hill tribe; in Vietnam Flower H’mong, Black H’mong und White H’mong, entsprechend ihrer bevorzugten Kleidung) werden in Laos bis zum heutigen Tage unbarmherzig verfolgt. Grund ist der Kampf auf französischer und danach amerikanischer Seite in französisch Indochina bis zur Niederlage in Dièn Bien Phu bzw. dem Fall Saigons (Ho Chi Minh Stadt) in Vietnam. Außerdem kämpften H’mong im Laotischen Bürgerkrieg auf Seiten der Royalisten. All dies wird ihnen noch heute angelastet, obwohl vier bis sieben Jahrzehnte seitdem vergangen sind und von den alten Kämpfern fast keiner mehr lebt. Das kommunistische Regime in Vientiane betreibt die blutige Verfolgung und systematische Ausrottung der H’mong.
(Siehe: Jane Hamilton- Merrit: Tragic mountains; Rebecca Sommer: Hunted like animals; Veröffentlichungen der GfbV, Göttingen, New York. Auch Wikipedia: H’mong).

Der Inhalt zeigt in äusserst spannender Form, wie der Autor und sein Neffe, als Protagonisten und uninformierte Touristen, auf eine kleine Gruppe von H‘mong-Menschen in der Ebene der Tonkrüge trifft, von denen eine Anzahl durch laotische Soldaten niedergemetzelt wurde. Sie fassen den naiven Entschluss, diesen Leuten zur Flucht zu verhelfen.
Diese Fluchthilfe führt sie in ein dramatisches, abenteuerliches und gefährliches Geschehen in Laos und Vietnam, bei der die Handvoll H‘mong zu einer Gruppe von mehr als tausend Menschen angewachsen ist.
Der zweite Teil des Romans schildert die gnadenlose Rache eines Militärs an seinen hochrangigen Kameraden in Spanien und der USA, wie schliesslich den vergeblichen Versuch, die beiden Protagonisten in Deutschland zu eliminieren.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateSep 9, 2016
ISBN9783905960815
H'mong

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    H'mong - Gebhard Friebel

    Gebhard Friebel

    H'mong

    Flucht ins Leben

    Die Leiden der H‘mong

    Universal Frame

    All rights reserved

    Alle Rechte vorbehalten

    Copyright 2016

    Verlag Universal Frame

    Zofingen

    ISBN 9783905960815

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Zu diesem Buch:

    Die erschütternden Leiden des H’mong Volkes in Laos sind Realität bis zum heutigen Tag. Die Handlung des Buches ist fiktiv. Aber sie könnte sich so zugetragen haben. Der Autor will Lesern der westlichen Welt die Augen für das Los dieser Menschen öffnen; er will sie bewegen, einige Übel in diesem Teil der Welt zur Kenntnis zu nehmen.

    Der Handlung liegt die Realität zu Grunde: Die H’mong, (in China: Miao; in Thailand: Meo, hill tribe; in Vietnam Flower H’mong, Black H’mong und White H’mong, entsprechend ihrer bevorzugten Kleidung), werden in Laos bis zum heutigen Tage unbarmherzig verfolgt. Grund ist der Kampf auf französischer und danach amerikanischer Seite in Französisch Indochina bis zur Niederlage in Dièn Bien Phu bzw. dem Fall Saigons (Ho Chi Minh Stadt), in Vietnam. Außerdem kämpften H’mong im Laotischen Bürgerkrieg auf Seiten der Royalisten. All dies wird ihnen noch heute angelastet, obwohl vier bis sieben Jahrzehnte seitdem vergangen sind und von den alten Kämpfern fast keiner mehr lebt. Das kommunistische Regime in Vientiane betreibt die blutige Verfolgung und systematische Ausrottung der H’mong.

    (Siehe: Jane Hamilton- Merrit: Tragic mountains; Rebecca Som- mer: Hunted like animals; Veröffentlichungen der GfbV, Göttingen, New York. Auch Wikipedia: H’mong).

    Teil 1

    Die Flucht

    Das Bier war lauwarm. Christian bat den Theker um zwei Eiswürfel, und hielt ihm verärgert das Glas entgegen.

    „Ah, Landsleute. Hallo! Kaltes Bier ist hier Mangelware."

    Die sonore Stimme übertönte die Musik. Gerhard saß neben seinem Neffen auf einem wackeligen Barhocker. Er musterte verblüfft den hochgewachsenen Mann neben sich.

    „Die Welt ist klein."

    Er ergriff die entgegengestreckte Hand. „Guten Tag. Gerhard Frings aus Saarbrücken."

    Er sah belustigt zu seinem aufgebrachten Neffen. „Mein Neffe Chris. Sie sind Thüringer?"

    „So ähnlich. Ich bin Sebastian Haller aus Dresden."

    „Dresden. Was treibt einen Sachsen in dieses müde Kaff?"

    „Joo, Sachse! Ein Kamikazesachse sogar. Jetzt werden Sie sich fragen: Wieso Kamikazesachse? Es ist der Job."

    Chris sah ihn fragend an.

    Leutselig fuhr der Sachse fort: „Ich bin Minenräumer. Wir arbeiten für eine Hilfsorganisation."

    Gerhard nahm einen Schluck vom warmen Bier. „Wenn der Job so gefährlich ist: warum machst Du ihn dann?"

    „Einer muss es machen. Er stockte, dachte nach.

    „Aber die Kohle stimmt. Und kaputt gearbeitet hat sich bei uns noch keiner. Höchstens kaputt gesprengt. Das passiert täglich. Aber es sind immer die Ungeduldigen, die Unerfahrenen. Verfluchte Minen."

    Gerhard leerte sein Glas.

    „Ihr seid Touristen? Heute frisch angekommen?"

    „Aus Luang Prabang. Wir wollen morgen zur Ebene der Tonkrüge."

    „Morgen? Morgen ist schlecht. Morgen gibt es keine geführten Touren. Morgen ist Feiertag. Übermorgen auch. Niemand arbeitet. Alle fahren zu ihren Familien."

    Chris wandte sich an Gerhard : „Dann fahren wir ohne Führer. Warum haben wir einen Mietwagen? Laut ‚Lonely Planet’ stehen einige dieser Krüge auch an der Straße."

    „Was ist ‚Lovely Planet?’"

    „Lovely Planet? Lonely Planet, unser Reiseführer. Es soll drei sichere, minenfreie Wege geben. Die wären beschildert."

    „Quatsch! Der Sachse hob sein Glas und trank. „Schilder stehen nur selten da. Und deine sicheren Wege sind bei starkem Regen überflutet. Mit dem Schlamm und Geröll werden Minen angeschwemmt. Die kleinen, heimtückischen. Die sehen aus wie bunte Keksdosen. Für Kinder, die damit spielen wollen, sind sie tödlich. Auch bei Erwachsenen wirken sie. Todsicher, sozusagen.

    Er sah zur Tür. „Vorgestern hat es in Strömen gegossen. An Eurer Stelle würde ich nicht fahren. Es sind sowieso kaum andere Touristen da, denen man dort den Vortritt lassen könnte, damit die ausprobieren, ob Minen rumliegen." Ein bösartiges Grinsen umspielte seine Mundwinkel.

    Er leerte sein Glas. „Die Touris kommen erst ab Oktober wieder."

    Er sah auf seine Armbanduhr. „Es wird Zeit für mich. Wenn ihr unbedingt dahin wollt, verlasst zumindest die Strasse nicht. Alles andere wäre Wahnsinn! Bis morgen vielleicht, Tschüss!"

    Er verschwand durch die Ausgangstür.

    *****

    Der Wagen fuhr langsam auf dem schlechten Schotterweg. Am Rand der schmalen Piste stand wieder eines der Warnschilder, das auf Minen hinwies. Rechts war ein großer Behälter zu erkennen. Chris schüttelte den Kopf. „Das soll ein Tonkrug sein?"

    Gerhard zuckte mit den Schultern. „Im Reiseführer steht, dass es sich um große Behälter handelt. Sie sind nicht aus Ton, sondern aus Stein. Woher der Begriff‚ ‚Ebene der Tonkrüge’ stammt, weiß keiner. Der Behälter da fasst mindestens 10‘000 Liter. Es muss lange gedauert haben, so was aus einem Felsen zu meißeln. Wenn der voll Bier wäre!"

    Sein Neffe griff sich an den Kopf und stöhnte: „Hör bloß auf mit Alkohol!"

    „Vielleicht solltest Du doch zwei Aspirin einwerfen. Es war mindestens vier Uhr gestern Abend."

    Christian korrigierte: „Heute morgen. Verdammter Whisky!"

    Es war eine staubige, öde Gegend, durch die der Wagen rumpelte. Vereinzelt durchbrachen verkrüppelte Bäume den grauen Boden. Sie quälten sich aus Bodenvertiefungen dem farblosen Himmel entgegen. Zerfurchte Äste mit ein paar graubraunen, zerzausten Blättern ließen die Zeiten vergessen, da üppiger, grüner Wald und dichtes Unterholz diese Ebene bedeckt hatte. Resignation hatte sich in dieser feindlichen Marslandschaft breit gemacht. Die Natur hatte ihren Kampf verloren; hatte aufgegeben.

    „Was ist denn da vorne los?"

    Christian kuppelte aus.

    Ein Soldat mit einer roten Kelle in der erhobenen Hand stand hinter einem Militärjeep auf der Straße. Fünf Meter vor ihm kam der Wagen zum Stehen.

    Gerhard zog seinen fleckigen Strohhut in den Nacken und reckte den Kopf. „Hoffentlich dauert das nicht bis morgen. Wir hätten dem Sachsen glauben sollen. Dann hätten wir nicht eine Stunde vor dem Tourismusbüro mit Warten verplempert."

    Christian schlug mit seinen Fingerknöcheln im Takt der Musik. Aus dem vorsintflutlichen Radio klang es wie orientalische Jammermusik.

    Gerhard stützte sich auf das feuchte Lenkrad. Er machte es sich im Sitz so bequem wie möglich und schloss die Augen. „Das wird noch länger dauern. Wenn es nicht bald weitergeht, drehen wir um. Verdammte Hitze!"

    Entfernt waren Schüsse zu hören. Christian öffnete die Augen und sah seinen Onkel fragend an. Der zuckte mit den Schultern und stieg aus.

    „Muss mir etwas die Beine vertreten."

    Bei jedem Schritt wurden kleine Staubwolken hochgewirbelt. Er kam ins Grübeln. Eine feindliche Umgebung! Minen und Staub. Staub und Minen. Über Staub redete man nicht viel. Er kam. Und verschwand wieder. Man sah ihn. Unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Minen dagegen schon. Sie waren versteckt. Unsichtbar, aber allgegenwärtig.

    *****

    Nach etwa einer halben Stunde ging der Soldat zu seinem Jeep, stieg ein und ruckelte davon.

    Gerhard sagte: „Na endlich."

    Er umfuhr im Schritttempo ein tiefes Schlagloch. Dann mussten sie anhalten: Vom Boden, zwanzig Meter vom Weg entfernt, erhob sich eine ausgemergelte Frau. Sie schaute angestrengt in ihre Richtung, hob beide Arme, und winkte aufgeregt.

    Chris stoppte.

    Sie rief schrill: „Doktor! Doktor!"

    Hinter einem weiteren Steinbehälter erschien eine männliche Gestalt. Der ausgemergelte Körper in der verschmutzten, zerrissenen Kleidung passte zu einem Landstreicher. Der Mann hinkte keuchend heran. Eine hellrote Blutspur markierte seinen Weg. Er fragte in passablem Englisch: „Sind Sie Ärzte?"

    Beide schüttelten die Köpfe. Sie sahen seine blutverschmierte, zerfetzte Hose an.

    „Was ist mit Ihnen passiert?,fragte Chris. „Wo haben Sie sich verletzt? Steigen sie ein, wir bringen Sie ins Krankenhaus nach Phonsavan.

    Der Mann antwortete zögernd: „Ich kann dort nicht hin, dort wird man mich sofort erschießen."

    Chris stieg aus dem Wagen.

    Gerhard folgte. „Ihr Bein sieht übel aus."

    Gerhard zog seinen Gürtel aus dem Hosenbund und legte ihn oberhalb des Knies mehrmals um das Bein.

    Das schweißnasse Gesicht des Mannes verzerrte sich vor Schmerz. Er stöhnte. Gerhard zog die Gürtelenden fest zusammen und verknotete sie, so stramm er konnte. „Jetzt wird die Blutung aufhören. Warum, denken Sie, dass man Sie erschießen würde? Was haben sie verbrochen?"

    Zunächst antwortete der Mann nicht. Doch dann sprudelten die Sätze bitter und immer schneller. „Weil wir H’mong sind. H’mong, die aus Angst vor den Soldaten in den Wäldern oder in den verminten Gegenden leben. Vorhin waren Soldaten hier; sie haben uns entdeckt und auf uns geschossen. Sie schießen sofort, wenn sie uns irgendwo sehen."

    „Warum schießen sie auf Euch?"

    „Weil wir vom Stamm der H’mong deren Feinde sind. Manche unserer Väter und Großväter haben auf Seiten der Franzosen und der Amerikaner in Vietnam gegen die Kommunisten gekämpft. Manche haben auch gegen die kommunistischen Pathed Lao gekämpft. Fast alle sind umgekommen. Die kommunistische Regierung von Laos hat uns H’mong das Kämpfen nie verziehen."

    Die Frau trat neben ihn. Er stützte sich auf ihre Schulter.

    „Jeder, der irgendwie mit den Kämpfern verwandt war, wird verfolgt. Es reicht schon der Verdacht, aus dem selben Dorf zu stammen.

    Auch wer nie gegen die Kommunisten gekämpft hat, wird brutal verfolgt. Es reicht heute, H’mong zu sein. Es gibt keine Wahrheit, die gegen Vorurteile ankommt. Sie töten uns, sobald sie uns finden."

    Seine Worte klangen verzweifelt: „Sie töten alle, wenn immer sie können. Auch Frauen und Kinder!"

    Gerhard erwiderte zweifelnd: „Im Norden gibt es doch einige H’mong Dörfer; da herrscht Ruhe. Man kann in jedem Reisebüro Touren in diese Dörfer buchen."

    „Die Leute wurden zwangsweise angesiedelt. Es sind Vorzeigedörfer der Regierung für Touristen. Die Dörfer dürfen von den Bewohnern nicht verlassen werden."

    Die Frau ergriff den Arm des Verletzten. Seine Stimme zitterte.

    „Die Dörfer stehen unter strenger Kontrolle der Polizisten, die in der Nähe wohnen. Diese Polizisten stehlen das Geld von den Dorfbewohnern, das die von Touristen bekommen. Sie vergewaltigen Kinder und Frauen, wenn sie betrunken sind."

    Es machte ihm Mühe zu sprechen. Er holte tief Luft. „Oft schießen die Polizisten wild um sich. Sie verletzen und töten immer wieder Menschen aus den Dörfern. Sie behandeln die Leute wie Tiere. Die Bestien werden für ihre Untaten nie bestraft."

    Gerhard sah den Mann betroffen an.

    Chris murmelte: „Unglaublich!"

    „Unsere Landsleute in den Dörfern dort hassen die Polizisten. Sie leben in ständiger Furcht. Sie leben nicht gerne in diesen Siedlungen. Wir H’mong waren immer ein freies, stolzes Volk; wir wohnten abgeschieden in großer Höhe, wo es kühler ist. Solange wir zurückdenken können, liebten wir waldreiche, gebirgige Gegenden. Aber die Wälder sind verschwunden."

    Er holte tief Luft. Sein Gesicht war müde. Dem Verletzten fiel es schwer, weiter zu sprechen. „Nur dort konnten wir uns gut ernähren. Wir jagten Enten, große Vögel, Fische und Frösche, Affen und andere Tiere des Waldes und der Flüsse. Aber heute, was sollen wir machen? Wovon sollen wir leben? Es leben nur noch wenige Tiere dort." Erschöpft schwieg er wieder.

    „Waren es Minen, denen die großen Tiere zum Opfer fielen?,Gerhards Stimme war gedämpft. „Ich habe gelesen, dass es vor nicht allzu langer Zeit viele wilde Elefanten gab.

    Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Es waren Männer aus den Städten. Sie töteten die Elefanten, weil sie viel Geld für das Elfenbein bekamen."

    Wieder eine Pause – er dachte nach.

    Langsam fuhr er fort: „In ihrer Not webten die Frauen Stoffe nach uralten Mustern. Sie versuchen Kleider, Hosen und Umhängetaschen zu verkaufen. Aber sie wurden von den Märkten vertrieben. Manche stellten auch Silberschmuck her. Wir konnten kaum vom Verkauf dieser Sachen leben."

    „Warum leben Sie hier, inmitten der gefährlichen Minen?" fragte Chris.

    „Die Soldaten trauen sich nicht hier herein. Aber wir kennen einige Pfade,die sicher sind. Manchmal geht eine Gruppe von uns hierher zur Straße, um selbstgefertigte Sachen an Touristen zu verkaufen. Wenn wir Soldaten sehen, verschwinden wir sofort. Auch heute kamen wir zum Verkaufen her. Doch diesmal kamen die Soldaten mit einem Minibus. Mit solchen Bussen kommen normalerweise die Touristen."

    Die Frau nickte.

    Der Mund des H’mong verzog sich zu einem schmalen Strich. Sein Blick wurde kalt. „Die Soldaten sprangen aus dem Bus. Sie haben sofort geschossen und mit Macheten zugeschlagen. Dahinten liegen drei tote Mitglieder unserer Gruppe. Wir müssen sie nun bestatten. Dann ist da noch eine verletzte Frau. Deswegen haben wir Sie gerufen. Wir dachten, Sie sind vielleicht Ärzte. Neulich waren zwei Ärzte aus Frankreich hier. "Sichtlich erschöpft und noch heftiger zitternd verstummte er.

    Gerhard sah auf seine Uhr, dann zum Himmel. Das gleißende Licht der weißgelben Mittagssonne hatte sich rötlich verfärbt. Es würde bald der Dämmerung weichen. Er sagte zu Chris: „Es ist kurz vor sechs Uhr. Die Zeit wird nicht reichen, um noch bei Helligkeit die Stadt zu erreichen. Im Reiseführer stand in dem Absatz über Minen in Laos: Bei Dunkelheit ist für Ausländer die Gefahr groß, vom Weg abzukommen und auf eine Mine zu fahren."

    Der H’mong sprach wieder mit festerer Stimme. „Es ist jetzt tatsächlich zu spät für Euch, um noch sicher zur Stadt zu kommen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr bei uns die Nacht verbringen."

    Chris fragte zögernd. „Wo wohnt Ihr denn?"

    „Nicht weit von hier. Es sind nur zehn Minuten Fußweg."

    „Aber die Minen?"

    „Wir kennen mehrere Pfade, die minenfrei zu unserem Lager führen."

    Chris war unschlüssig. „Besser, wir bleiben hier, bevor wir vielleicht auf eine Mine fahren. Was denkst Du?"

    „Gut, dann bleiben wir hier."

    Er fuhr den Wagen möglichst weit an den Rand des Weges.

    Der H’mong beobachtete ihn, als er den Wagen abschloss.

    „Das war nicht nötig. In zehn Minuten wird es dunkel sein. Nachts kommt hier nie jemand durch, auch keine Soldaten."

    Verächtlich fügte er hinzu: „Die haben zu viel Angst. Angst vor Minen und vor den Geistern unserer Vorfahren."

    Er sah Gerhard und Chris in die Augen. „Bleibt genau und dicht hinter mir. Dann kann Euch nichts passieren."

    *****

    Chris, Gerhard und die Frau gingen hinter dem hinkenden Laoten her. Nach ungefähr dreißig Metern erstarrte Gerhard vor einem verkrümmten Körper. „Stopp! Da liegt jemand!"

    Ihn packte das Grauen. Nicht weit vor seinen Füßen lag eine Frau. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Offenbar war sie hochschwanger. Quer über ihrem Bauch klaffte eine dreißig Zentimeter lange, tiefe Wunde. Eingeweide und Teile eines Kindes waren mitten im Blut zu erkennen. Die Augen der Frau lagen in dunklen Höhlen. Ab und zu durchlief ein Zucken den Körper.

    Chris wandte sich ab. Gerhard drehte seinen Kopf zur Seite.„Verdammt. "Er schluckte und übergab sich. Gleichzeitig schossen ihm Tränen in die Augen. So etwas war unbegreiflich.

    Der Führer drehte sich um, und betrachtete beide mit verzweifeltem Blick. „Weil sie schwanger war, konnte sie nicht schnell genug weglaufen. Einer der Soldaten hat sie eingeholt, und sofort mit der Machete auf die Frau eingeschlagen. Sie wird bald tot sein."

    Chris stammelte: „So eine Sauerei. In einer Notfallklinik wäre sie vielleicht noch zu retten. Aber hier..."

    „Vielleicht helfen ihr die Geister des Waldes oder der Berge. "flüsterte der H’mong.

    Zwei weitere Gestalten erschienen: gebückte, ältere Frauen. Sie schlurften heran und betrachteten mit gramvollen Gesichtern die Weißen. Die Deutschen legten eine Bambusstrohmatte neben die verletzte Frau und rollten die Stöhnende unter beruhigendem Murmeln darauf. Sie griffen die Matte an den vorderen Enden und zogen sie langsam über den Boden davon.

    Die Männer schlossen auf. Hinter dem nächsten großen Steingefäß lag leblos mit offenen Augen ein kleiner Junge. Man hatte ihn in den Rücken geschossen. Der Führer hob die Leiche auf seine Arme. „Kommt weiter!"

    Nach weiteren zehn Metern wies er auf zwei auf dem Boden liegende tote Frauen, sie waren ebenfalls erschossen.

    „Können Sie die mitnehmen?" fragte er.

    Chris und Gerhard nickten. Sie bückten sich, und jeder hob vorsichtig eine tote Frau über seine Schulter.

    „Das ist unfassbar" murmelte Chris.

    Die Toten waren erstaunlich leicht, sie wogen höchstens vierzig Kilo.

    „Unterernährt" flüsterte Gerhard.

    Die traurige Karawane zog etwa zehn Minuten weiter zu einer anderen Senke, die durch Büsche von der Straße abgeschirmt war.

    Sie wurden von drei Frauen erwartet, die in leises Schluchzen ausbrachen, als sie die traurige Last erkannten.

    Der H’mong zeigte mit einer Hand nach rechts; die beiden folgten ihm ungefähr fünfzig Meter weit. Hier gab es weder Sträucher noch Bäume. Der Boden war mit Steinen bedeckt. Der Mann blieb stehen, und legte vorsichtig den kleinen, toten Jungen auf den Boden. Mit einer Handbewegung bat er die Weißen, ihre Last daneben zu legen.

    Er bückte sich – und fing an, Steine auf die Leichen zu häufen. Chris und Gerhard taten automatisch das Gleiche.

    Nach fünf Minuten waren die Körper von den Steinen bedeckt. Immer noch mit Tränen in den Augen, schlug Chris ein Kreuz in Richtung des Steinhügels. Mit zusammengebissenen Zähnen kniete Gerhard davor. Seine Stimme klang belegt.

    „Dass die sogar Kinder und Frauen erschießen."

    Beide schwiegen. Sie gingen langsam zu der hinter Büschen versteckten Senke zurück. Die Frauen hatten unter einer alten Plane ein kleines Feuer entzündet.

    „Wir können nur nachts richtige Feuer machen, und nur unter einer großen Plane. Ihre Flugzeuge kommen manchmal auch bei Dunkelheit,. sagte der H’mong müde. „Wenn sie ein Feuer sehen, werfen sie eine Bombe. Manchmal fallen auch Gasgranaten. Wenn wir tagsüber Feuer machen würden, könnten sie den Rauch sehen.

    Als habe er ein Kommando gegeben, ertönte leises Brummen, das schnell anschwoll.

    Die Frauen zogen die Plane an den Rändern tiefer, so dass das Feuer auch von den Seiten nicht zu sehen war.

    „Hinlegen flüsterte der H’mong in dringlichem Ton und legte sich auf den Rücken. „Im Mondlicht könnten sie sehen, dass jemand hier steht.

    Plötzlich hielt er ein Gewehr in den zitternden Händen. Der Lauf war verrostet; der Schaft von Würmern zerfressen. Er richtete es zum Himmel.

    Chris und Gerhard legten sich neben ihn auf den Rücken, und schauten zum Himmel. In ungefähr 100 Metern Entfernung flog langsam ein kleines, einmotoriges Flugzeug über das Gelände.

    Gegen das fahle Mondlicht konnte man auf der Seite eine aufgemalte, laotische Fahne erkennen. Vorne waren die dunklen Umrisse des Piloten zu sehen. Aus der geöffneten Seitentür drohte silbrig der Lauf eines Maschinengewehres. Das Flugzeug entfernte sich langsam.

    „Zu weit für einen gezielten Schuss, schade. Ich habe schon zwei von diesen Flugzeugen abgeschossen" bedauerte der H’mong, der sich erhoben hatte.

    „Übrigens, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Lia Ler Pao. Der Name Lia bezeichnet unseren Stamm, also den Familiennamen. Ler Pao sind meine Vornamen. Nennt mich einfach Ler, so haben meine Eltern mich auch genannt, bevor sie..."

    Er schwieg wieder.

    Es war ein beredtes Schweigen.

    Beide ahnten, was er noch hatte sagen wollen. Sie nannten ebenfalls ihre Vornamen und schüttelten seine Hand.

    „Das ist das andere Laos. Das, von dem die Touristen nichts wissen."

    „Wieso sprechen Sie so gut Englisch?" wollte Chris wissen.

    „Nachdem die Amerikaner ihren Krieg verloren hatten, haben mich meine Eltern nach Bangkok geschickt. Ich sollte Geographie studieren. Aber in Thailand habe ich es nicht ausgehalten. Da waren zu viele Leute."

    Er setzte sich auf den Boden und betrachtete sein verletztes Bein. Ein heiseres Lachen kam aus seinem Mund. „Ich bin wieder in die Heimat zurückgekehrt, und wollte beim Aufbau meines Landes helfen. Aber die Kommunisten haben mich in ein Umerziehungslager verfrachtet. Von dort bin ich geflohen, hierher. Ich wurde in der Nähe geboren; nicht weit von hier stand mein Elternhaus. Ich fand alles zerstört vor."

    Deprimiert sah er zu Boden. „Ob von den Amerikanern, oder von den Kommunisten, weiß niemand. Die meisten meiner Verwandten und Freunde waren tot oder verschwunden. Keiner wusste Genaues. So bin ich hier bei dieser Gruppe gelandet. Später fand ich meinen Bruder wieder. Er zog mit uns. Wir gehören fast alle dem Stamm der Lia an. Einige kannten mich noch von früher."

    Er machte eine kurze Pause. Seine Stimme zitterte.

    „So erging es vielen H’mong. Die meisten sind tot. Oder sie sind ins Ausland gegangen: nach Thailand, Vietnam oder China."

    Eine der Frauen kam. Sie flüsterte Ler etwas ins Ohr. Er nickte, und schlug die Hände vor die Augen.

    „Die verletzte Frau ist eben gestorben. Ich werde sie auch beerdigen; neben dem kleinen Jungen. Es war ihr Sohn."

    Gerhard würgte. Das Atmen fiel ihm schwer. Sie war auch tot. Unerträgliche Beklemmung nahm ihm die Luft.

    Er war so überflüssig, dieser Tod. Dieser vielfache Tod!

    Er schluckte, sah Chris an.

    Er hatte den Tod schon oft gesehen. Zu Hause und unterwegs.

    Hundertfach nach einer Überschwemmung in Bangladesh. Tausendfach in Cambodia. In Pol Pot’s Todeslager Tuol Sleng bei Phnom Penh. Tausendfach waren Totenschädel übereinandergestapelt. Viele Meter hoch. Aber das waren nur bleiche Totenschädel. Unpersönlich. Fotografieren und weiterfahren! Tod war immer schlimm, immer schrecklich.

    Der Tod hier war privat; Mutter und Kind; er berührte ihn persönlich. Er versuchte etwas zu sagen. Er konnte nicht und schloss die Augen. Er stand da, die Handballen auf die Ohren gepresst. Die Zeit stand still.

    „Wir helfen Dir" sagte Chris zu Ler.

    Die drei Männer zogen die Plane mit der Toten zu den frischen Steinhügeln und entfernten die Steine, die über dem kleinen Jungen aufgeschichtet waren. Ler legte ihn neben den Körper seiner Mutter. Als beide mit Steinen bedeckt waren, verneigten sich Chris und Gerhard. Es war eine hilflose Geste den Toten gegenüber. Sie gingen zurück zu den drei Frauen, die sich leise unterhielten.

    Eine von Ihnen trat zu Ler und redete eindringlich auf ihn ein. Ler nickte und sagte: „Die Frauen wollen heute Nacht nicht hier bleiben. Sie fürchten die Geister der Toten, und besonders den des Kindes. Geister von toten Kindern sind oft besonders zornig. Die Frauen wollen in das Hauptlager. Ihr könnt hier bleiben. Ich bin morgen früh noch vor Tagesanbruch zurück und führe Euch zur Straße. Die Frauen haben große Angst."

    „Aber jetzt ist es dunkel; ihr könnt den minenfreien Pfad nicht mehr erkennen."

    „Das ist kein Problem für uns. Wir haben gute Augen. Auch wenn kein Mond scheint, finden wir den Weg."

    „Wie weit ist Euer Hauptlager von hier entfernt? Ich möchte selbst nicht gern hier in der Nähe der Toten bleiben."

    „Eine halbe Stunde. Wollt ihr mit uns kommen?"

    Chris sah Gerhard fragend an. Der nickte zögernd.

    „Es wäre uns ganz recht."

    *****

    Das kleine Feuer war inzwischen niedergebrannt. Ler trat die restlichen Flammen aus. Zwei Frauen hoben Bambusstangen mit an den Enden hängenden Töpfen über ihre Schultern. Die kleine Gruppe setzte sich lautlos in Bewegung.

    Dunkle Leere, wohin man schaute. Keine Geräusche, nur von Zeit zu Zeit Ler’s Keuchen und Stöhnen. Er hinkte mit gesenktem Kopf voran.

    Im Zickzack irrte das verlorene Häuflein trauriger Gestalten durch eine fast kahle Landschaft. Nach zwanzig Minuten war irgendwo im Nirgendwo ein schwacher Feuerschein zu erkennen.

    Die Vegetation veränderte sich. Große Bäume, zwischen denen dichtes Gebüsch wucherte, bildeten eine schwarze Wand. Gedämpftes Stimmengemurmel: Das Lager befand sich am Rande eines Waldes.

    Ler rief Worte in die Dunkelheit. Gleich darauf waren die Neuankömmlinge von Erwachsenen und Kindern umgeben. Er führte die Weißen direkt an eine Feuerstelle.

    Man musterte sie neugierig, nicht feindselig. Ler stand neben einem alten Mann, redete auf ihn ein. Als außer leichtem Prasseln des Feuers Schweigen herrschte, blickte er Chris und Gerhard an.

    „Das ist der Älteste unserer Gruppe. Ihr würdet Anführer sagen. Er heißt euch herzlich willkommen;er bedauert sehr die unglücklichen Umstände, die euch hergeführt haben. Bitte nehmt am Feuer Platz. Es wird gleich zu essen geben."

    Ler rief einer Frau etwas zu. Sie verschwand und kam mit einer Plastikflasche und vier verbeulten Blechtassen zurück. Ler goss sie mit zitternden Händen randvoll. Er schwang den Arm und verschüttete den Inhalt einer der Tassen in weitem Bogen.

    „Das erste Glas ist für die Geister bestimmt. Wir wollen sie milde stimmen."

    Er reichte Chris und Gerhard je eine Tasse. Dann hob er seine in deren Richtung. Er leerte sie mit einem einzigen Zug. Die beiden taten es ihm nach.

    Chris holte tief Luft.

    „Das Zeug brennt höllisch – es ist der reinste Raketentreibstoff. Aber nach solch einem Tag!"

    Er hielt Ler seine leere Tasse hin.

    Nach und nach gesellten sich drei weitere Männer und der Älteste zu den Neuankömmlingen. Die Frauen saßen auf der anderen Seite des Feuers. Eine stellte ein eisernes Dreibein über das Feuer, an dem ein großer, eiserner Topf hing. Sie kochte das Essen.

    *****

    Gerhards Magen knurrte. Das Essen wurde verteilt. Jeder erhielt eine Handvoll Klebereis auf einem großen Blatt. Eine Schüssel mit zerschnittenen Wurzeln wurde herumgereicht. Sie waren gewaschen und teilweise gekocht; aber es waren Wurzeln. Keine Schwarzwurzeln, Mohrrüben oder Rettiche. Es waren Wurzeln von Büschen, Sträuchern oder Bäumen.

    Man aß den Reis, und kaute auf den Wurzeln. Einige schmeckten bitter, andere süß. Dazwischen gab es Wasser, und den höllisch brennenden Schnaps. Am Ende der Mahlzeit wurde eine weitere Schüssel herumgereicht.

    Ler bemerkte die skeptischen Blicke von Chris und Gerhard.

    „Dies sind Nüsse, Betelnüsse. Das Kauen auf diesen Nüssen ist traditionelle asiatische Zahnhygiene. Wir haben hier keine Zahnbürsten oder Zahncreme. Außerdem – sie wirken gegen den Hunger und sind auch gut für den Kopf."

    Sie griffen zögernd zu: Ein etwas bitterer Geschmack. Aber doch erträglich. Beim anschließenden Ausspucken erschrak Chris.

    Was er da ausgespuckt hatte, war Blut.

    Ler beruhigte ihn. „Das sieht aus wie Blut. Aber es ist die rote Farbe der Hülle."

    Seltsam: in Verbindung mit dem Reisschnaps wirkten diese Nüsse beruhigend.

    Als Chris an die Toten vom Nachmittag dachte, erschienen ihm die furchtbaren Erlebnisse nicht mehr so furchtbar. Sie waren schlimm, aber weit entfernt. Weit zurückliegend, in einer anderen Welt.

    *****

    Gerhard beobachtete Ler neben sich. Er lag, wie die anderen H’mong auch, auf dem Rücken. Seine Augen blickten starr zum Himmel.

    „Ler, eine Frage noch: „Wenn ihr hier verfolgt werdet, warum seid Ihr nicht auch ins Ausland gegangen, zum Beispiel nach Thailand?"

    Die Antwort kam fast unhörbar. „In Thailand wird man in ein Lager gesteckt. Manchmal wird man zwangsweise zurück geschickt. Dann wird es schlimm. Wenn man zurückkommt, erwarten einen Gefängnis, Folter und oft der Tod."

    Bitternis klang in seinen Worten nach. „Außerdem hat keiner einen Pass, und die meisten der Leute sind zu schwach, um so weit laufen zu können."

    Er schüttelte den Kopf. „Geld hat hier niemand. In den ersten Jahren konnten die Frauen noch eigenen Silberschmuck verkaufen, Das war sehr gefährlich, weil sie in die nächste Stadt mussten. Dort sind überall Soldaten und Polizisten. Viele der Frauen kamen nicht mehr zurück."

    Chris nickte geistesabwesend. Gerhard wurde schläfrig.

    Wegen der Betelnüsse? Wegen des Schnapses? Wegen der Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren? Er konnte es nicht sagen.

    Sie sahen nach rechts und links. Fast alle Leute hatten sich zurückgelegt und schliefen. Obwohl der Boden hart war, fielen ihnen die Augen zu.

    *****

    Nach einem traumlosen Schlaf wachte Gerhard benommen auf. Das Feuerwasser vom gestrigen Abend wirkte nach.

    „Gewöhnungsbedürftig."

    Ihn fror. Er sah auf die Armbanduhr: halb sechs. Das Feuer brannte hell. Bis auf einige Kinder, die um das Feuer herum schliefen, waren Chris und er alleine. Er sah zu Chris, der sich streckte. Sein Neffe sah sich um und murmelte mit rauer Stimme: „Ich muss hier weg.Langsam. Sie werden bald zurückkommen. Alleine finden wir nicht zum Auto zurück. Denk’ an die Minen.

    Kurz darauf kamen die Gruppenmitglieder einzeln zurück zum Feuer.

    Eine der Frauen hatte einen Eimer Wasser mitgebracht. Eine andere trug ein großes Bündel Wurzeln unter dem Arm. Die Wurzeln wurden gewaschen und in frischem Wasser gekocht.

    Das Essensritual vom vorherigen Abend wiederholte sich .Allerdings wurde auf Schnaps verzichtet. Die Handvoll Reis war kalt.

    Chris und Gerhard aßen den Reis, um das Hungergefühl zu überwinden. Zu dem Essen wurde das heiße Wasser getrunken, in dem die Wurzeln gekocht worden waren.

    Als das ‚Frühstück‘ beendet war, meinte Ler: „Wenn ihr zurück wollt, können wir los. Bald wird es hell sein!"

    Beide nickten zum Abschied in die Runde der um das Feuer Sitzenden. Sie standen auf, und folgten Ler.

    Als sie sich umschauten, folgten ihnen traurige Augen.

    *****

    Aus Senken quoll Morgennebel. Es ging langsam zurück, zurück zur Straße. Nach zehn Minuten gab die Morgendämmerung den Blick frei. Es war ein bedrückender Anblick einer trostlosen Landschaft, die um sie herum Konturen annahm.

    Vereinzelt tauchten verkrüppelte Bäume im gelblichen Nebel auf, in Bombenkratern in giftiger Erde gewachsen.

    ‚Gelber Regen’, yellow rain’, hatten sie es damals genannt. ‚Agent orange’, das Gift der Amerikaner.

    Gerhard unterdrückte aufkommende Panik. Eine Landschaft durch milchiges Glas betrachtet. Unwirklich! Gestern hatte er dieses Empfinden des Verlorenseins nicht so stark gespürt. Doch jetzt...

    Traurigkeit überfiel ihn. Trauer über diese geschundene Landschaft. Stärker noch: Trauer um diese Menschen. Und er spürte Zorn. Zorn auf die Franzosen, die Amerikaner, die Kommunisten!

    Irgendwo links tauchte schemenhaft der Umriss des Wagens auf. Erleichtert dachte er an eine warme Dusche, an ein westliches Frühstück, ein sauberes Bett. Und dann: schlafen, schlafen. Schlafen und vergessen.

    Als sie neben dem Wagen standen, schüttelten sie Ler die Hände. Die Stimme Gerhards klang rau, brüchig. „Wir kommen wieder. Übermorgen, gegen Mittag, hier? Wir bringen etwas zu Essen mit. Und ein paar Medikamente. OK?"

    Ler sah ihn mit großen Augen an. Er antwortete, zögernd, bestätigend. „Gegen Mittag, OK!"

    Als sie im Wagen saßen, fragte Chris: „Du willst wirklich hierher zurückkommen?"

    Gerhard antwortete nicht; er war in Gedanken versunken. Chris ließ den Wagen an, wendete, und fuhr los.

    Es ging zurück, zur Stadt. Zurück ins Hotel. Zurück. Weg. Weg aus dieser gespenstigen Gegend, wo vielfacher Tod lauerte. Weg, von dieser verfluchten Touristenattraktion. Weg von dieser ‚Ebene der Tonkrüge’. Weg!

    *****

    Während sie langsam zurückfuhren, fiel kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach.

    Auch beim gemeinsamen Frühstück fiel kein Wort über das Erlebte. Sprachlosigkeit.

    Erst als Chris zum Erstaunen des Kellners zwei große Flaschen Bier bestellte, brach Gerd das Schweigen.

    „Man müsste diesen Leuten irgendwie helfen. Nur, wie?"

    Chris nickte mit dem Kopf. „Ausfliegen lassen in ein anderes Land, oder sonst was."

    „Wie willst Du ein Flugzeug beschaffen? Wo soll es landen? Auf der buckeligen, gewundenen Schotterstraße vielleicht? Und alles ohne Erlaubnis."

    „Dann halt ein Hubschrauber."

    „Einen Hubschrauber haben die in wenigen Minuten abgeschossen. Du hast ja gesehen, die Flugzeuge des Militärs fliegen sogar nachts. Außerdem wäre so etwas viel zu teuer."

    Chris schwieg.

    „Lass uns noch einen trinken, und ein paar Stunden schlafen. Vielleicht fällt uns inzwischen etwas Machbares ein" sagte Gerhard.

    Chris nickte, und bestellte zwei weitere Bier.

    „Seltsam ist das. Bei uns zu Hause weiß keiner was von den Sachen, die hier passieren. Niemand hat den Namen ‚H’mong’ je gehört. Die zu Hause lesen nur in den schönen Reiseprospekten vom Land der ‚eine Million Affen.’"

    „Elefanten" korrigierte Gerhard ihn.

    „Von mir aus auch Elefanten, von mir aus könnten es auch rosa Elefanten sein. Das ändert nichts daran, dass ich noch nie so viele Tote gesehen habe."

    Chris sah Gerhard mit zornigem Gesichtsausdruck an.

    „Ich habe eine Tote auf meinen eigenen Schultern zum Grab unter Steinen getragen. Es ist derartig skurril! Niemand würde es glauben!"

    „Vor allem passt das so gut in unsere sogenannte ‚Moderne Zeit’. Man hält die hehren Werte der Menschlichkeit hoch. Zu Hause würde uns das tatsächlich keiner abnehmen, Du hast recht, niemand."

    „Schlimm, schlimm, verdammt!"

    Chris stand auf. „Komm, lass uns ein paar Stunden schlafen gehen. Treffen wir uns gegen Mittag wieder. Hier, OK?"

    „OK"

    Chris ging.

    Gerhard sah ihm lange nach. Wieder und wieder schüttelte er verzweifelt den Kopf.

    *****

    Gegen Mittag war Chris im Restaurant und bestellte sich sofort ein Bier. Gerhard erschien wenig später und setzte sich zu ihm an den Tisch.

    „Na, gut geschlafen?"

    Chris grinste gequält. „Nur ganz wenig. Das war gestern zu viel auf einmal.Ich konnte überhaupt nicht schlafen. Gerhards Stimme klang gereizt. „Ich war den ganzen Vormittag im Internet-Raum. Im Web findet man ungeheuer viel über diese H’mong. Alles, was dieser Mann erzählt hat, stimmt."

    Er senkte seine Stimme. „Da geschehen ungeheuerliche Verbrechen, und die Öffentlichkeit schweigt dazu. Da werden die Reste eines ganzen Volkes endgültig ausgerottet! Alles nur wegen der verdammten Vergangenheit. Franzosen, Amerikaner und Kommunisten! Wenn ich das höre. Verdammtes Pack, verdammte Kriege!"

    Chris schenkte Bier nach. „Prost!"

    „Prost.Gerhards Mine verfinsterte sich. „Alle diese Verbrechen sind bekannt. Anscheinend schon seit Jahren. Nur keiner nimmt es zur Kenntnis und tut etwas. Nicht so wie in Afrika, Chris. Erinnerst Du Dich noch, an die Gemetzel zwischen Hutu und Tutsis? Vor einigen Jahren, weißt Du noch? Es klang höhnisch.

    „Diese H’mong haben keine Lobby. Laos ist weit entfernt von Deutschland. Welches Schulkind weiß überhaupt, wo Laos liegt? Viele haben offenbar nie den Namen ‚Laos’ gehört. Afrika liegt näher. Es ist außerdem spektakulärer, über zwei Millionen tote Neger zu berichten, als über zweitausend tote Asiaten. Die Menge macht’s."

    „Ja, davon waren die Zeitungen voll. Es wurden Sammlungen veranstaltet. Millionen Euro wurden nach Rwanda gepumpt. Von den Verbrechen hier redet keiner. Ich habe noch nie etwas im Fernsehen oder in den Zeitungen über H’mong gesehen oder gelesen. Anscheinend geht das den Journalisten bei uns am Arsch vorbei."

    „Reg’ Dich nicht zu sehr auf, Onkel. Es sind die Quoten im Fernsehen. Bei den Zeitungen ist es die Auflage. Wenn Du als Chefredakteur die Wahl hättest, einen Reporter nach Nigeria zu schicken, oder einen nach Laos? Er soll einen Bildbericht machen. Nigeria winkt mit drei Millionen, Laos aber nur mit einigen Tausend Opfern. Was ist ertragreicher? Welches Magazin verkauft sich besser?"

    Gerhard ereiferte sich: „Du bist ein verdammter Zyniker. Hastig leerte er sein Bier. „ Aber irgendwie hast Du Recht. Und trotzdem, ich versteh’s nicht. Verrückterweise gibt es da in Deutschland die GfbV, die Gesellschaft für bedrohte Völker. Dann das UNHCR, das ist für Flüchtlinge zuständig. Und es gibt die ‚Médecins sans frontières’. Die wissen scheinbar von all diesen Verbrechen. Dein Chefredakteur brauchte keinen teuren Reporter nach Laos zu schicken. Er müsste nur seinen Reporter dazu bringen, im Internet nachzuschauen. Da steht alles schwarz auf weiss. Mit Bildern.

    „Aktuelle Berichte verkaufen sich besser."

    „Wenn es zu teuer ist? Das Fernsehen hätte es ebenfalls leicht. Ein Programmdirektor müsste lediglich etwas Sendeplatz bereitstellen. Ich habe einen Dokumentarfilm über die Leiden der H’mong bei YouTube gefunden. Eine Deutsche, Rebecca Sommer hat ihn in Laos unter Lebensgefahr gedreht. Der Film heißt: Hunted like animals. So etwas müsste mal im Fernsehen kommen."

    „Die Zuschauer sehen sich lieber Seifenopern an oder ‚Dalli, Dalli’."

    „Die Zuschauer sind doof. Man müsste irgendwie Öffentlichkeit herstellen, aufrütteln."

    „Wer ist ‚man’? Was ist ‚irgendwie’? Willst Du in Deutschland Zeitungen anrufen? Aufmerksam machen?"

    „Warum nicht? Etwas in der Art spukt in meinem Kopf herum."

    „Mit Misserfolgsgarantie! Hundertprozentig sicher!.Chris brach in schallendes Gelächter aus. „Komm, trink lieber noch Einen.

    „Warum nicht. Ich bin so zornig. Gerhard fixierte das Gesicht von Chris. Er wurde lauter. „Weder UNHCR noch GfbV bekommen Visa für Laos. Sie sollen nicht herausfinden können, was die Laoten mit den Flüchtlingen anstellen. Er stand auf. „Ich gehe jetzt auf jeden Fall zurück in den Internet Raum und schaue mir das Ganze noch etwas an."

    „Ich komme mit kündigte Chris an: „Wo stehen die Computer?

    „Wir müssen den Einäugigen wecken. Erschrecke ihn nicht wieder. Komm’ mit."

    „Der einäugige Hektiker mit ohne Auge! Hoffentlich bekommt der vierhundert Kilo Schwabbel keinen Herzanfall."

    „Wer schläft, sündigt nicht."

    „Er könnte überhaupt nicht sündigen. Es wäre viel zu viel Arbeit!"

    *****

    In der leeren Eingangshalle döste der einäugige Rezeptzionist. Er war wie immer an seiner langen Empfangstheke eingenickt: Der Kopf lag auf dem Arm.

    Ungeduldig hieb Chris mit der flachen Hand auf die Theke. Gerhard grinste. Er flötete: „Nicht aufregen!"

    Im Zeitlupentempo wuchtete sich der massige Schädel vom Arm. Feindselig musterte das verbliebene Auge die beiden Gäste.

    Er knurrte: „Auschecken?"

    Gerhard knurrte zurück: „Entschuldigen Sie die Störung. Internet. Aber keine Hektik."

    Unter Stöhnen öffnete der einäugige Kloß eine Schublade und wühlte sie durch. „Business Center. Ein Dollar, eine Stunde!"

    Sein Auge blieb auf der Uhr an der gegenüberliegenden Wand hängen. „Noch vier Stunden! Oh Gott" murmelte er gequält. Er legte einen Schüssel auf die Theke und sank wieder in sich zusammen.

    Gerhard flüsterte: „Danke, gute Nacht!"

    *****

    Im ‚Business Center’ schaltete Gerhard das Licht an.

    „70 Grad, mindestens konstatierte Chris, „ich mache das Fenster auf.

    „Window no have; Aircon no have"

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