Die neuesten Geschichtslügen
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Die neuesten Geschichtslügen - Heinrich Kanner
Junkers"
Vorwort
Die scharfe Kritik, die auf den folgenden Blättern an den Rechtfertigungsschriften der deutschen Staatsmänner und damit auch an ihrer Politik vor dem Ausbruch des Weltkrieges geübt wird, zwingt den Verfasser zu einigen Worten persönlicher Einführung. Es ist nachträglich sehr leicht, das Verhalten von Staatsmännern zu kritisieren, wenn der Erfolg sein unzweideutiges Urteil gefällt hat, so wie es nicht viel Scharfsinn erfordert, Rätsel zu lösen, wenn man vorher die Lösungen nachgesehen hat. Diese bequeme, aber auch unfruchtbare Art der Kritik ist dem Geschichtsschreiber gestattet, ihr Ergebnis nennt man das „unbestechliche Urteil der Geschichte. Dem zeitgenössischen Publizisten verwehrt man diesen Treppenwitz, mit Recht, weil seine Aufgabe eine höhere, fruchtbarere und um deswillen schwierigere ist. Jetzt, nach dem Abschlusse des Weltkrieges, weiß natürlich jeder, wie es im Juli 1914 und in den Jahren vorher besser hätte gemacht werden sollen, und gar mancher Publizist tut sich heute auf dieses nachträgliche Besserwissen etwas zu Gute, der es in den entscheidenden Tagen, Wochen und Jahren auch nicht besser gewußt hat als die jetzt durch ihren Mißerfolg verurteilten Staatsmänner. Die vorliegende Schrift hat mit dieser den Ereignissen nachhinkenden Art von Weisheit nichts gemein. Ihr Verfasser hat die Verfehltheit und Gefährlichkeit jener Politik der beiden Zentralmächte die zum Weltkrieg geführt hat, schon vor Jahren, mindestens seit der bosnischen Annexionskampagne 1908/9, in seinem Blatte, der damaligen Wiener Tageszeitung „Die Zeit
, bloßgestellt und insbesondere im Juli 1914 vor der Gefahr des Weltkrieges aufs Eindringlichste gewarnt, sich auch während des Weltkrieges mitten im herrschenden Kriegstaumel seine ablehnende und kriegsfeindliche Haltung bewahrt und, soweit es die Zensur zuließ, publizistisch vertreten. Er hat dadurch das Mißfallen der beiden zentralstaatlichen Regierungen und Heeresleitungen in einem so hohen Maße erregt, daß er sich auf unweigerliches Verlangen der deutschen Obersten Heeresleitung im Dezember 1917 genötigt sah, seine publizistische Tätigkeit einzustellen. Wenn er nun in der vorliegenden Broschüre die Wirksamkeit und die Rechtfertigungsschriften der deutschen Staatsmänner des Kriegsausbruches scharf kritisiert, kann ihn der Vorwurf des „Treppenwitzes" nicht treffen. Was auf diesen Blättern steht, ist nur eine konsequente Weiterentwicklung der Anschauungen, die der Verfasser schon zu einer Zeit gehegt und öffentlich ausgesprochen hat, wo die Kritik noch hätte fruchtbar wirken können, wenn die Kritisierten auf sie hätten hören wollen, wo noch manches hätte gerettet werden können, was heute unwiederbringlich verloren ist.
* * *
Die Kriegspropaganda, die in den anderen kriegführenden Ländern schon längst zum Schweigen gekommen ist, wird von den deutschen Staatsmännern des Kriegsausbruches nach dem Kriege mit vermehrtem Eifer fortgesetzt. Res venit ad Triarios. Nicht mehr untergeordneten Hilfskräften, beamteten „Preßleitern", willfährigen Schriftstellern, abhängigen Journalisten, die im Kriege ihre öffentlichen Anwälte waren, überlassen sie die publizistische Vertretung ihrer Sache, sie treten in eigener Person in Büchern, die sich den Anschein von Memoiren geben, vor das Publikum, um mit wirkungsvollen, mit dem wirkungsvollsten Mittel ihrer eigenen amtlichen Autorität das Werk der Irreführung des deutschen Volkes fortzusetzen, das die so hoher Autorität entbehrende Propaganda während des Krieges schon mit so traurig großem Erfolg betrieben hat.
Memoiren deutscher Staatsmänner! Man weiß, wie das auf den Untertanengeist des deutschen Lesers wirkt! Ist ihm schon jedes Wort heilig, das im täglichen Lauf der Staatsgeschäfte aus amtlichem Munde zu ihm dringt, wie ehrfurchtsvoll nimmt er erst ein Buch zur Hand, das einer seiner Staatsmänner, fern vom Zwang der Staatsgeschäfte, in der Freiheit des Ruhestandes geschrieben hat, um aus der vom Deutschen jederzeit so bereitwillig angestaunten Fülle seiner Kenntnis aller Amtsgeheimnisse heraus den deutschen Staatsbürgern über Ereignisse der Vergangenheit jene letzten Aufklärungen zu geben, die während seiner Amtswirksamkeit zu gewähren die hohe Staatsraison ihm verboten hatte. Nur wenige deutsche Staatsmänner haben bisher Memoiren veröffentlicht — weit weniger als die englischen und französischen — und zumeist auch erst zu einer Zeit, wo die Ereignisse, an denen sie mitzuwirken hatten, schon längst jede nähere Beziehung zur Gegenwart verloren hatten. Jetzt aber treten die hohen und höchsten Beamten des Deutschen Reiches, die noch an dem letzten großen Ereignis, am Weltkrieg, mitgewirkt haben, in den Tagesstreit über die Ursachen des Kriegsausbruches mit Büchern ein, in welchen sie anscheinend die letzte Scheu vor dem Amtsgeheimnis abgestreift haben, die sonst dem deutschen Beamten zeitlebens den Mund verschließt: der Reichskanzler Herr v. Bethmann Hollweg, der Staatssekretär des Äußern Herr v. Jagow, der Staatssekretär der Marine Herr v. Tirpitz, der Staatssekretär der Finanzen und Vizekanzler Herr Dr. Helfferich. Fünf schwere Kriegsjahre hindurch hat die ganze Welt die Erschließung der deutschen Akten über den Kriegsausbruch verlangt, erhofft, ersehnt, nachdem die gegnerischen kriegführenden Staaten, Engländer, Franzosen, Russen, Belgier, Italiener, Serben ihr Aktenmaterial, ohne erst eine Nachfrage abzuwarten, gleich bei Beginn des Krieges dem Urteil der Öffentlichkeit vorgelegt hatten. Auf die deutschen Akten hatte man fünf Jahre lang vergebens gewartet. Und nun kommen statt dessen im Frühjahr 1919 die deutschen Staatsmänner selbst hervor und bieten der Welt statt toter Aktensammlungen lebendige Bücher dar, die schon um deswillen weitere Wirkungsmöglichkeiten haben als Aktensammlungen, weil sie die Dinge im Zusammenhang erzählen, die von ihnen selbst geschaffenen Tatsachen