Formen des Vergessens
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Angesichts der gegenwärtigen Dominanz der Auseinandersetzung mit Erinnerung haben wir das Vergessen anscheinend vergessen. Tatsächlich ist aber nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Für das Erinnern bedarf es einer aktiven Anstrengung, Vergessen hingegen geschieht lautlos und scheinbar unspektakulär.
Dass Vergessen aber auch ein aktiver Prozess sein kann, zeigt Aleida Assmann in ihrer zweigeteilten Untersuchung. Im ersten Teil beschreibt sie neben sieben konkreten Techniken für das Vergessen dessen verschiedene Ausprägungen: vom selektiven Vergessen zur Fokussierung auf bestimmte Erinnerungen, über defensives Vergessen etwa als Selbstschutz der Täter, bis hin zum konstruktiven Vergessen als umfassendem Neubeginn. Im zweiten Teil liefert Assmann sieben Beispiele zu den zuvor beschriebenen Formen des Vergessens. Dabei geht sie unter anderem auf die Unsichtbarkeit von Denkmälern (deren eigentliche Aufgabe das Erinnern sein sollte), das Vergessen von Menschenrechtsverbrechen »im Schatten des Holocaust" (wie dem Genozid an den Herero) oder die (Un-)Möglichkeit des Vergessens im Internet ein.
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Formen des Vergessens - Aleida Assmann
treten.
Sieben Formen des Vergessens
1. Automatisches Vergessen – materiell, biologisch, technisch
Ich beginne mit einer grundlegenden Asymmetrie: Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge. Wie im Körper eines Organismus die Zellen, so werden in der Gesellschaft Objekte, Ideen und Individuen periodisch ausgetauscht. Dieser schleichende Wandel gilt als selbstverständlich und natürlich, er versetzt niemanden in Alarmbereitschaft. Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist also der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht.
Hier ein Beispiel für den Normalfall des Vergessens, der sich aus der Perspektive der betroffenen Individuen oft als ein tiefer und schmerzlicher Einschnitt darstellt. Ich beziehe mich dabei auf eine E-Mail, die mich in den ersten Januartagen 2010 erreichte:
»Leider mussten Paul und ich die Familie gleich nach dem Weihnachtstag alleine in Berlin lassen, weil mein Patenonkel, der letzte Verwandte meiner älteren Generation, am 23. Dezember starb. Er lebte alleine in dem großen Haus seiner Großeltern, hatte seit Jahrzehnten niemanden, außer ein-, zweimal im Jahr mich, in sein Haus gelassen; hatte auf zwei Etagen seine chemischen Versuche fortgeführt und alles, ALLES an Briefen etc. (Briefe der ausgewanderten Familie im 19. Jh., der gefallenen Geschwister im 2. Weltkrieg, Gasmaskenausrüstungen aus dem ersten Weltkrieg, Reklame, Original Klepperboote, Eingemachtes in den Kellern von vor Jahrzehnten …) aufbewahrt. Also, Paul und ich mussten, um überhaupt durch einige Zimmer durchgehen zu können, die Briefe, Bücher, Zeitschriften stapelten sich bis zur Decke, schließlich einen riesigen Container füllen. – Und trotzdem war es unmöglich, so grundsätzliche Dokumente wie ein Familienbuch zu finden. Ein Großteil der Erinnerung, das wagt man Dir ja gar nicht zu erzählen, liegt nun in diesem Container – Ich träume davon.«
Von allem, was zwischen Menschen erfahren, kommuniziert und produziert wird, ist es stets nur ein verschwindend kleiner Anteil, der tatsächlich von einem gelebten Leben übrig bleibt und weitergereicht wird. Ein Foto, eine Brosche oder ein Möbelstück, ein Sprichwort, ein Rezept, eine Anekdote, das ist – wenn es hoch kommt – alles, was bei den Enkeln oder Urenkeln noch von dem einst prall gefüllten Leben ihrer Großeltern ankommt. In Familien, die ausgebombt wurden, die geflohen und ausgewandert oder oft umgezogen sind, sammeln sich kaum materielle Rückstände an. Auch für die Rückstände eines Lebens, die in Kellern oder auf Dachböden noch einige Zeit überdauern, schlägt früher oder später die Stunde des Containers. Die Vernichtung von Hinterlassenschaften bei Haushaltsauflösungen, Umbauten oder Abriss mag für einzelne Menschen mühsam und schmerzlich sein, aus der Perspektive der Gesellschaft dagegen, die von diesen alltäglichen Vorgängen keinerlei Notiz nimmt, geschieht sie lautlos und automatisch.
Bei diesem lautlosen Vergessen spielen zwei Faktoren zusammen: soziales Vergessen und materielle Entsorgung. Beim sozialen Vergessen im Biorhythmus der Generationen werden die Erfahrungen der älteren Generation regelmäßig entwertet und durch neue ersetzt werden. Jede neue Generation ist bestrebt, sich mit ihren eigenen Erinnerungen, ihrer Agenda und ihren Projekten von der vorangehenden Generation ab- und gegen sie durchzusetzen. Die materielle Entsorgung beruht auf immer schnelleren Zyklen von Produkt-Serien. Die technischen Gegenstände, die uns umgeben, müssen zu Lebzeiten wiederholt ersetzt werden. Dieses Ersetzungs- und Überholungsprinzip ist ein konstitutiver Teil der wissenschaftlich-technischen Evolution und des damit verbundenen Konsumverhaltens. Die Forcierung des Generationenbruchs und die Beschleunigung der Warenproduktion sind also keine naturgegebenen Universalien, sondern zentrale Elemente des kulturellen Programms der Modernisierung in westlichen Gesellschaften. In dieser Sicht gelten Zerstörung und Vergessen als ein wichtiger Motor des Fortschritts. Diese Modernisierungsdynamik von Erneuern und Veralten, von Innovation und Obsoleszenz hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im Aufschwung der industriellen Revolution der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson sehr genau