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Vergangenheit und Gegenwart
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Ebook362 pages4 hours

Vergangenheit und Gegenwart

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About this ebook

Heute geschehen, morgen vergessen, heute gewusst, morgen verdrängt! Ereignisse faszinieren, inspirieren, berühren oder ängstigen. Fallen unbeachtet unter den Tisch oder geraten ganz in Vergessenheit. Von Äthiopiens Gipfeln bis in die Tunnel Palästinas. Über den Dschungel Vietnams in die Fernsehstudios Europas. Von Nacktbildern, Mördern und der Erinnerung an Tragödien und Katastrophen vergangener Tage. 22 Kurzgeschichten und Erzählungen rund um historische und aktuelle Geschehnisse, von denen wir gestern, vorgestern oder irgendwann schon einmal gehört haben. ... und auch etwas Persönliches.
LanguageDeutsch
Release dateOct 10, 2016
ISBN9783960680116
Vergangenheit und Gegenwart

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    Book preview

    Vergangenheit und Gegenwart - Mark S. Cole

    Mark S. Cole

    Vergangenheit und Gegenwart

    Thriller

    Erzählungen und Kurzgeschichten

    „Der Mensch ist das einzige Tier, das erröten kann und auch allen Grund dazu hat."

    Mark Twain

    Mondschein Corona – Verlag

    Bei uns fühlen sich alle Genres zu Hause.

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    1. Auflage

    Erstausgabe Juni 2016

    © 2016 für die Ausgabe Mondschein Corona

    Verlag, Plochingen

    Alle Rechte vorbehalten

    Autor: Mark S. Cole

    Lektorat/Korrektorat: Gudrun Meyerling

    Covergestaltung: Finisia Moschiano

    Buchgestaltung: Finisia Moschiano

    Umschlaggestaltung: Finisia Moschiano

    Dieses Buch enthält teilweise fiktive Geschichten, die von realen Ereignissen inspiriert sind. Jegliche Ähnlichkeiten mit Personen, lebend oder tot, sind zufällig.

    ISBN: 978-3-96068-011-6

    © Die Rechte des Textes liegen beim Autor und Verlag

    Mondschein Corona Verlag

    Finisia Moschiano und Michael Kruschina GbR

    Teckstraße 26

    73207 Plochingen

    www.mondschein-corona.de

    Inhaltsverzeichnis

    Widmung

    Die Rache ist mein

    Kein Entkommen

    Good Times!

    Payback

    Künstlerpech

    Für den Augenblick

    Girlfriend Experience

    Kontakt

    Pest und Cholera

    Die Definition von Wahnsinn

    Vergangenheit und Gegenwart

    Eine Frage des Glaubens

    Praktikantenleben

    Eine Blume aus dem Paradies

    Aus dem Leben eines Biedermanns

    Weihnachtseinkäufe

    Die dunkle Seite des Mondes

    Phase eins

    Feuerprobe

    Schattenspiele

    Und wieder ein Tag im Paradies

    Bauchgefühl

    Danksagung

    Widmung

    Für Marta und Mom, die immer an mich geglaubt und mich angetrieben haben, wenn ich selber nicht mehr daran geglaubt habe.

    Die Rache ist mein

    Als Hamid die Augen öffnete, wusste er für einen kurzen Moment nicht, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er nicht allein war, dass jemand dieses Schicksal mit ihm teilte.

    Dann kam alles im Bruchteil von einer Sekunde wieder zurück.

    Der weiße Toyota … Mahmoud … der Kofferraum …

    Allerdings bekam er nicht die Gelegenheit, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Das Quietschen der Bremsen war die einzige Warnung, die die beiden Jungen im Kofferraum erhielten, als der Fahrer in die Eisen stieg. Hamid hatte noch reagieren können, doch Mahmoud war nicht so gesegnet gewesen und hatte sich den Kopf an der Wand des ausgeschlachteten Innenraums gestoßen. Leise fluchend tastete er im Zwielicht nach der Stelle an seinem Hinterkopf.

    Hamid hingegen stieß ein erleichtertes Gebet aus und dankte dem Allmächtigen und seinem Propheten, dass die Tortur endlich ein Ende hatte. Gefühlte zwei Stunden hatten die beiden Sechzehnjährigen, eingezwängt wie Sardinen, in ihrem eigenen Saft geschmort. Bei der Aussicht, sich wieder frei bewegen zu können, kam Hamid sich wie ein Verdurstender vor, der nach endlosen Qualen in der Wüste am Horizont eine Oase ausgemacht hatte. Vor allem, wenn er bedachte, welche Abneigung er gegenüber engen Räumen hatte.

    Als die Kofferraumklappe jedoch aufgerissen wurde und die Sonne wie ein Feuerball direkt auf sein Gesicht herabstrahlte, glaubte er, das gleißende Licht könnte ihm die Augäpfel wegbrennen. Blinzelnd schaute er in die harten, wettergegerbten Gesichter dreier Männer in verstaubter Straßenkleidung. Jegliche Gefühlsregung blieb hinter ihren langen Bärten und den schwarzen Sonnenbrillen verborgen.

    Sie verharrten eine Weile und Hamid spürte, wie sich trotz der dunklen Gläser ihre prüfenden Blicke in sein Fleisch bohrten. Er wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen, bis die Lippen des Fahrers den Weg für zwei gelbe Zahnreihen freimachten. Der Mann zu seiner Linken flüsterte ihm etwas ins Ohr. Hamid verstand nur die Worte „Kinder und „Kanonenfutter, bevor die drei Männer zunächst ihm und dann Mahmoud aus dem Kofferraum halfen.

    „Wo sind wir?", fragte er schließlich mit trockener Kehle.

    Die bestenfalls holprige Fahrt hatte Hamid bereits verraten, dass sie Gaza-Stadt verlassen und querfeldein durchs Gelände gerast waren.

    Der Landschaft nach zu urteilen, schienen sie sich irgendwo im Nirgendwo unweit der israelischen Grenze aufzuhalten. Doch mit Sicherheit konnte Hamid das nicht sagen, da ihre Position von unzähligen Hügeln aus Sand und Stein verborgen war, die es ihm unmöglich machten, ihren Aufenthaltsort genauer zu bestimmen.

    Nicht einmal die Mauer, die uns von der Außenwelt wie Tiere in einem Käfig abschottet, lässt sich von hier erkennen.

    „Es ist besser, wenn ihr es nicht wisst", erwiderte ihr Fahrer mit heiserer Stimme. Einer Stimme, die sich selbst in vorderster Linie Gehör verschaffte.

    In dieser Hinsicht hatte der Namenlose mit der Hakennase und den muskulösen Schultern ganze Arbeit geleistet. Nachdem er die beiden Jungen eingesammelt und wie Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, war er so lange im Kreis gefahren, bis Hamid jegliche Orientierung verloren hatte.

    „Wir haben uns nicht umsonst die Mühe gemacht, fuhr der Mann fort, der ein paar Zoll kleiner als Hamid war, „damit ihr den Eingang so einfach herausposaunen könnt, falls ihr den Ungläubigen in die Hände fallen solltet.

    Niemals, dachte Hamid verbittert. Ich werde töten oder sterben, aber niemals werde ich mich gefangen nehmen lassen. Niemals!

    „Eingang?", nuschelte der Junge mit dem karamellfarbenen Fladenbrotgesicht neben ihm und hielt nach etwas Ausschau, das auch nur im Entferntesten den Anschein einer Tür erweckte.

    Der Fahrer zog es vor, nicht auf Mahmouds Frage einzugehen. Stattdessen warf er einem der anderen Männer den Autoschlüssel zu. „Ich will meinen Wagen in einem Stück wieder zurückbekommen … in einem Stück", mahnte er, bevor er ihnen stumm beim Einsteigen zusah.

    Der Toyota sprang mit einem Raunen an und war innerhalb weniger Sekunden hinter dem nächsten Hügel verschwunden. Nur die Staubwolke, die der Wagen jenseits der spärlich bewachsenen Hügelkuppen aufwirbelte, zeugte noch von seiner Existenz.

    Wortlos signalisierte der Fahrer den beiden Jungen, ihm zu folgen.

    Kritisch beäugte Hamid einen undeutlichen Pfad, den der Toyota noch vor ein paar Augenblicken verdeckt hatte. Keine zwanzig Schritte später fiel das Terrain plötzlich stark ab. Die Senke war vielleicht zehn bis fünfzehn Meter tief und hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern. Mit ihren drei Terrassen, die in die umliegenden Felswände geschlagen worden waren, erinnerten sie an einen antiken Steinbruch.

    „Sehr beeindruckend." Hamids Ton deutete auf das genaue Gegenteil hin, während seine Augen unablässig nach dem Eingang suchten, von dem der Fahrer gesprochen hatte.

    „In der Tat. Der Mann zuckte selbst unbeeindruckt mit den Schultern. „Allerdings können wir uns diesen Verdienst nicht anrechnen lassen. Der Fahrer bot keine weitere Erklärung an und Hamid war auch nicht danach, eine zu verlangen – stattdessen konzentrierte er sich auf den Weg vor ihm.

    Kaum sichtbare Stufen waren in die Terrassen geschlagen, die den Abstieg auf dem rutschigen Gemisch aus Stein, Geröll und Sand erheblich erleichterten. „Wofür wir allerdings den Ruhm einheimsen können …" Die Stimme des Fahrers verstummte, als er mit der Hand in den hintersten Winkel der Senke wies.

    Abgesehen vom Sandstein, der dort ein wenig dunkler zu sein schien, fiel Hamid nichts Besonderes auf. Letztlich schrieb er es den Schatten zu, die wie transparente Schleier über jenem Teil der Senke hingen.

    Der Fahrer hielt jedoch unvermindert auf den hintersten Winkel zu. Hamid runzelte misstrauisch die Stirn und warf Mahmoud einen fragenden Seitenblick zu. Der ehemalige Nachbarsjunge zuckte nur mit den Achseln und folgte dem Fahrer blind, als wollte er sagen: „Er weiß schon, was er tut."

    Und das tat der Fahrer auch. Zu seiner eigenen Überraschung erkannte Hamid die kleine Einbuchtung im Stein erst, als er unmittelbar vor der Felswand stand. Aufgewehter Sand hatte die Öffnung so verdeckt, dass ihre Tarnung beinahe makellos war. Gerade einmal so breit, dass ein erwachsener Mann sich kriechend hindurchzwängen konnte.

    „Sesam, öffne dich, sagte der Fahrer augenscheinlich amüsiert, als er die Schamesröte studierte, die die eindeutige Zweideutigkeit seiner Worte in den Gesichtern der beiden Jungen hinterließ. „Keine falsche Scheu, ermunterte er sie. „Habt ein wenig Vertrauen und ich werde euch den Weg ins Paradies zeigen."

    Hamid trat zögerlich von einem Bein aufs andere. Die Aussicht, sich unterhalb von Tonnen von Gestein aufzuhalten und wie ein Maulwurf durch enge Gänge zu zwängen, behagte ihm ganz und gar nicht. Dem bleichen Ausdruck auf Mahmouds Gesicht nach zu urteilen, war dem Jungen neben ihm auch nicht gerade nach Freudensprüngen zumute.

    „Nur die ersten Meter sind etwas unbehaglich. Dem Fahrer waren ihre Vorbehalte nicht entgangen. „Die Verengungen sind ein einfaches Mittel, um den Eingang effektiver verteidigen zu können. Mit den Worten machte er den Anfang und war bereits einen Augenblick später im Tunnelmund verschwunden.

    Hamid schämte sich für seinen Moment der Schwäche. Er war aus einem Grund und einem Grund allein hier und seine lächerliche Angst vor engen Räumen würde ihn nicht daran hindern, sein Versprechen zu erfüllen, das er im Schutt seines Elternhauses gegeben hatte.

    Er atmete dreimal tief durch, ging auf die Knie und folgte dem Fahrer durch das Loch in der Felswand. Doch sobald seine Schultern die engen Betonwände im Halbdunkel des Tunnels berührten, brach die Platzangst wie eine Brandungswelle über ihn hinein. Die Panik, die er noch im Kofferraum unterdrückt hatte, ließ sich jetzt nicht mehr kontrollieren. Sein ganzer Körper begann zu zittern. Schweißperlen fielen wie Starkregen von seiner Stirn in den feinen Sandboden. Innerhalb von ein paar unregelmäßigen Atemzügen war er von Kopf bis Fuß klitschnass.

    In einem endlosen Moment der Überwindung zwang er sich, den Blick nach vorne zu richten. Das Licht war keine fünf Meter von ihm entfernt und dennoch schien es unerreichbar. Nein, mit jedem rasenden Herzschlag schien es sich weiter von ihm zu entfernen, als wäre er ein Ertrinkender, der trotz seiner verzweifelten Bemühungen von der Strömung immer weiter hinaus aufs Meer getrieben wurde.

    Hinter sich hörte er eine Stimme, doch die Worte waren nicht mehr als ein Rauschen in seinen Ohren, bis ihm plötzlich Bilder in den Kopf schossen. Bilder von einem leblosen Mädchen auf einer Trage. Bilder von entstellten Körpern, die wie geschlachtetes Vieh nebeneinander aufgereiht worden waren. Bilder von weißen Leichentüchern, die über starre Gesichter gezogen wurden.

    Zorn fegte über seinen gelähmten Körper hinweg und brachte seine Glieder in Bewegung.

    Die nächsten Augenblicke waren nichts weiter als verschwommene Eindrücke, die an ihm vorbeizogen. Ohne auch nur zu wissen, wann oder wie er es in den breiteren Innenraum des Tunnels geschafft hatte, wischte er sich erschöpft den Schweiß von der Stirn und rappelte sich unsicher auf.

    „Alles in Ordnung, Junge?", fragte der Fahrer mit einer Abwesenheit von Mitgefühl in der Stimme, die Hamid den Schweiß im Nacken gefrieren ließ.

    „Ich habe es nicht so mit engen Räumen", erwiderte Hamid keuchend.

    „Das kann ich sehen."

    „Vor Jahren war ich während eines Luftangriffs in einem Kleiderschrank eingeschlossen und musste dort die halbe Nacht ausharren, bis die Rettungskräfte kamen, um mich zu befreien."

    Der Fahrer sah ihn nur desinteressiert an. „Für Geschichten aus 1001 Nacht haben wir jetzt keine Zeit."

    „Elektrizität!", staunte Mahmoud, der mit weit aufgerissene Augen die sterilen Lichterzeilen bewunderte, die in die Betonwände des Tunnelschachts eingelassen waren.

    Der Tunnel war überraschend behaglich – vielleicht achtzig Zentimeter breit und gut einen Meter siebzig hoch. Mahmoud und der Fahrer konnten jedenfalls komfortabel stehen, während Hamid sich als Größter leicht gebückt fortbewegen musste. Tatsächlich hatte er mit morschen Holzbalken gerechnet, die die Wände und Decken halbwegs abzustützen vermochten. Stattdessen hatten die Architekten ganze Arbeit geleistet und den Schacht mit Betonplatten verkleidet. Nur der raue Steinboden war bis auf das Schienensystem, das verlegt worden war, unbehandelt geblieben.

    „Passt auf, wo ihr hintretet, warnte der Fahrer über die Schulter. „Ihr nutzt mir nämlich nichts, wenn ihr euch hier einen Knöchel verletzt.

    Hamid ließ Mahmoud den Vortritt und schaute ihnen einen Augenblick nach, bis seine Beine zu zittern aufhörten und er sich in Bewegung setzte.

    Schweigend gingen sie eine ganze Weile, ohne den abzweigenden Schächten auch nur Beachtung zu schenken. Die Luft hier unten war frisch und wohl temperiert. Der Grund wurde mit jedem Schritt klarer. Generatoren, überlegte Hamid, als das Dröhnen nicht mehr zu überhören war und die schwache Brise seine Haut kitzelte. Nicht nur Elektrizität, sondern auch eine funktionsfähige Belüftung.

    Plötzlich machte der Tunnel einen Schlenker nach rechts und teilte sich wenig später in drei Gänge. Der Fahrer wählte den linken Gang, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

    „Wie lang ist dieser Tunnel?", erkundigte Hamid sich, als er die dröhnende Monotonie der Dieselgeneratoren nicht mehr aushielt.

    „Dieser hier, begann der Fahrer, „ist mit etwas mehr als drei Kilometern und vielleicht siebzig Nebenschächten der wahrscheinlich längste in ganz Gaza.

    „Siebzig?", wiederholte Mahmoud erstaunt.

    Ein gewisser Stolz schimmerte im gelben Grinsen des Fahrers, als hätte er den Tunnel ganz allein gegraben. „Ursprünglich waren die Tunnel für den Schmuggel vorgesehen, um uns eine gewisse Unabhängigkeit von der zionistischen Blockade zu sichern, doch nun sind sie unsere Geheimwaffe. Die Not macht eben erfinderisch."

    Der Fahrer bog in einen der Nebenschächte ab.

    „Wie viele von diesen Tunneln gibt es denn?", fragte Mahmoud nicht weniger beeindruckt.

    „Wer weiß? Der Fahrer zuckte mit den Schultern. „Sie sind über ganz Gaza verstreut und nur die Führung hat einen Überblick über das ganze Netz, obwohl ich selbst das bezweifle.

    „Zugegeben, wir befinden uns hier vielleicht zehn oder fünfzehn Meter unter der Erde, aber wie konnten die Zionisten nur so ein weites und komplexes Tunnelsystem übersehen?"

    „Wahrscheinlich sind unsere Methoden einfach zu mittelalterlich für ihre hoch technisierte Luftüberwachung. Hinzu kommt, dass viele der Eingänge sich in Privathäusern oder Moscheen befinden und deshalb schwer auszumachen sind." Er fuhr sich durch den dunklen Bart. „Aber vielleicht verbietet ihnen ihre Arroganz auch, sich als Löwen um die Reaktionen der Schafe zu sorgen."

    Hamid schüttelte innerlich mit dem Kopf. Er hatte den Zorn des Löwen am eigenen Leib erfahren.

    „Warum haben wir dann überhaupt diese irrsinnige Spritztour im Kofferraum auf uns nehmen müssen?, fragte Mahmoud sichtlich erbost. „Wenn wir doch einfach einen anderen, komfortableren Eingang hätten nehmen können?

    „Weil ich nicht gewillt bin, zwei Kindern wie euch alle Geheimnisse über unsere Rettungsleine zu verraten, fuhr der Fahrer Mahmoud an. „Und genau das sind diese Tunnel. Sie erlauben uns, nicht mehr nur tatenlos zuzuschauen, wie unsere Heimat dem Erdboden gleichgemacht wird. Im Gegenteil, sie geben uns eine Möglichkeit, zurückzuschlagen, sodass wir uns nicht wie ein sterbendes Tier in unser Schicksal ergeben und auf den Gnadenschuss warten müssen, sondern es selbst in die Hand nehmen können.

    Hamid musste zugeben, dass der Fahrer nicht ganz Unrecht hatte. Je weniger sie wussten, desto weniger konnten sie verraten, falls einer von ihnen tatsächlich dem Feind in die Hände fallen sollte. Vertrauen muss man sich verdienen, hatte sein Vater ihm einmal erklärt. Schließlich hatte der Fahrer sie buchstäblich auf der Straße aufgelesen.

    Schweigen legte sich wieder über den Schacht. Nur die Schritte ihrer Sandalen waren auf dem Boden zu hören, als sie hin und wieder in einen anderen Schacht abbogen und Hamid sich letztlich eingestehen musste, dass er sich in diesem Labyrinth tagelang verlaufen konnte.

    „Was ist das?", fragte Mahmoud, als sie an einer rotgestrichenen Betonplatte vorbeikamen.

    „Die Grenze."

    „Die Grenze", wiederholte Hamid erstaunt.

    „Ich hoffe, ihr habt euch den Weg bis hierhin gemerkt, da wir die restlichen Abzweigungen mit Sprengladungen versehen haben, falls die Ungläubigen sich nach heute Abend entschließen sollten, die Tunnelsysteme zu zerstören. Er schaute mit einem eindringlichen Blick über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg. „Falls ihr hier also verloren geht, solltet ihr den Allmächtigen um seinen göttlichen Beistand bitten.

    Hamid hörte, wie Mahmoud neben ihm schwer schluckte. Zufrieden mit der Reaktion, die er von den beiden Jungen erhalten hatte, setzte der Fahrer seinen Weg fort und führte sie weiter durch einein Irrgarten aus Tunneln und Schächten.

    Unzählige Abzweigungen später fing der Junge bereits an zu glauben, dass ihr Fußmarsch durch diese Sphären erst in den Höllenfeuern der Dschahannam enden würde, als der Fahrer plötzlich vor einer Tür hielt. Es war vielmehr eine Holzplatte, die den Eingang bis auf einen Spalt am Boden abdeckte, durch den Licht in den Tunnel flackerte. Unterdrückte Stimmen waren auf der anderen Seite zu hören.

    Sorglos schob der Fahrer die Platte zur Seite und trat in die vielleicht zehn Meter lange und fünf Meter breite Höhle. Dutzende Kerzen erleuchteten den direkt in den Fels geschlagenen Innenraum.

    Insgesamt sieben Köpfe drehten sich unversehens zu ihnen um. Die Männer saßen in normaler Straßenkleidung auf dem Steinboden, der mit Teppichen und Kissen ausgelegt war. Jeder Bärtige starrte die Jungen mit dunklen Augen an, ohne jedoch wirkliche Feindseligkeit auszustrahlen. An den Wänden und auf zwei Decken zu Hamids Linken war ein ganzes Waffenarsenal ausgelegt. Von Sturmgewehren über Pistolen und Messern, bis hin zu Sprengstoff und Munition fehlte es an nichts.

    Als Hamid seinen Blick letztlich losriss, fiel ihm am anderen Ende des Raumes ein Haufen gleichfarbiger Kleidung auf, der seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte. Uniformen. Aber nicht irgendwelche, sondern jene, die er in den vergangenen Wochen zu häufig in Gaza gesehen hatte. Olivgrüne Uniformen, die, wo auch immer sie aufgetaucht waren, nur Tod und Zerstörung gebracht hatten.

    Hamid schob sich vorbei an einem Stapel Gebetsteppiche und einer Handvoll Wasserkanister weiter in den Raum. Naserümpfend nahm er den Gestank wahr, welcher sich unvermeidlich einstellte, wenn zu viele Männer zu viel Zeit in einem Raum verbrachten. Selbst das süßliche Aroma, das aus den drei Kaffeekannen stieg, die in ihrer Mitte auf drei Gaskochern köchelten, konnte darüber nicht hinwegtäuschen.

    „Du bist spät, Saed, sagte einer der Männer zu ihrem Fahrer, der deutlich aus dem Rest der Gruppe herausstach. Seine polierte Glatze glänzte wie der Mond im Kerzenlicht. Er trug ein beiges Stoffhemd und eine verwaschene Jeans. Seine bernsteinfarbenen Augen nahmen durch die fehlenden Augenbrauen eine hypnotische Wirkung an. „Und wer sind diese Kinder?

    „Der Grund für meine Verspätung, Khalil", erwiderte der Fahrer. Das leicht unsichere Zittern in Saeds Stimme war Hamid nicht entgangen, als der Mann, der augenscheinlich der Anführer war, nachdenklich die Stirn runzelte.

    „Was ist mit Hakim und Nuri?" Der Ton des Glatzköpfigen sagte Hamid, dass der Fahrer keine Zeit für Ausflüchte hatte. Nur mit der Wahrheit würde Khalil sich zufriedengeben.

    Saed schüttelte traurig den Kopf. Eine Schweißperle bahnte sich langsam den Weg von seiner Stirn zu seiner rechten Augenbraue. „Ein Luftangriff … letzte Nacht."

    Der Glatzköpfige nickte einsichtig mit sich entfernendem Blick. „Wir werden sie in unsere Gebete einschließen und dem Barmherzigen danken, dass er ihnen den Eintritt ins Dschanna – ins Paradies – gewährt hat."

    Seine Augen, die im Kerzenlicht wie Opale glänzten, fokussierten sich wieder und fielen prüfend auf die beiden Jungen. „Und sie sollen der Ersatz sein?", fragte Khalil schließlich nach einigen Momenten, in denen Hamid sich wie ein Rennpferd fühlte, das den Ansprüchen nicht genügte.

    Saed nickte erneut, unsicher.

    Der glatzköpfige Anführer hob eine nicht existente Augenbraue und bedeutete Saed, ihm zu folgen. Bevor der Fahrer des weißen Toyotas seinem Wunsch entsprach, sagte er zu den beiden Jungen. „Seid willkommen, meine Brüder. Khalil breitete einladend die Arme aus. „Setzt euch und teilt unseren Kaffee und unser Brot mit uns. Dann verschwand er in den hinteren Teil des Raumes und redete neben dem Uniformhaufen auf Saed ein.

    Die beiden Junge kamen der Einladung nach, nickten den restlichen Männern, die sie ebenfalls misstrauisch beäugten, respektvoll zu und setzten sich ein wenig abseits der Gruppe auf einen der Teppiche.

    „Unter einer herzlichen Begrüßung verstehe ich etwas anderes", flüsterte Mahmoud ihm zu, als die Männer ihre Konversationen wieder aufgenommen hatten.

    Hamid nickte kaum merklich. Im Augenwinkel beobachtete er das Gespräch zwischen Khalil und Saed. Der Anführer gestikulierte wild auf den Fahrer ein, während er hin und wieder seinen Kopf in ihre Richtung neigte. „Nicht sonderlich überraschend, wenn du bedenkst, dass wir nicht das sind, was sie erwartet haben. Halt also deinen Kopf unten, zeig etwas Respekt und rede nur, wenn du gefragt wirst."

    Mahmoud zuckte mit den Schultern, als er sah, wie Khalil sich den Weg zurück durch den Raum bahnte.

    „Ihr habt ja immer noch keinen Kaffee. Zwei strahlend weiße Zahnreihen kamen im matten Kerzenlicht zum Vorschein. Seine Stimme glich dem Singsang eines Muezzins. „Ist gut. Eine türkische Sorte mit einem Schuss Arak. Beruhigt die Nerven.

    Khalil nahm eine Kaffeekanne vom Gaskocher und goss die dicke, schwarze Flüssigkeit, die nicht erst seit Beginn der jüngsten Auseinandersetzungen, sondern durch die immerwährende Blockade ein gewisses Maß an Luxus bedeutete, in zwei Lehmbecher.

    „Erzählt mir etwas von euch", forderte er sie auf und reichte ihnen die Becher.

    „Mein Name ist …", begann Hamid, wurde aber mit einer kurzen Handbewegung sofort wieder gestoppt.

    „Nur eure Vornamen. In dieser Gruppe wird eine gewisse Anonymität gewahrt."

    Eine weitere Sicherheitsvorkehrung, dachte Hamid. „Ich bin Hamid. Er zeigte auf den Jungen neben sich. „Und das ist Mahmoud.

    Khalil goss sich selbst einen Kaffee ein und nickte. „Woher kennt ihr beiden euch?"

    „Wir waren Nachbarn."

    „Waren?"

    Mahmoud nickte missmutig. „Ein Luftangriff hat beinahe den ganzen Straßenzug in Schutt und Asche gelegt, in dem wir gewohnt haben."

    „Und eure Familien sind hiermit einverstanden, immerhin seid ihr ja fast noch Kinder?"

    Hamid senkte den Kopf und starrte abwesend in die dampfende Brühe. „Sie … sie sind der Grund, weshalb wir hier sind." Er schaute wieder mit einem Blick auf, der nur Hass und Trauer offenbarte.

    Khalil schien zu verstehen. „Allah hat seine schützende Hand über euch gehalten."

    Mahmoud schüttelte den Kopf. Schmerz tränkte seine Stimme. „Ich weiß nicht. Jedenfalls waren wir mit Hamids Vater auf dem Weg zum Küstenaquifer."

    Die einzige Frischwasserquelle Gazas war dem Anführer natürlich ein Begriff, sodass er das Gespräch vorantrieb. „Und dein Vater, wo ist er jetzt?"

    Verzweifelt versuchte Hamid, die Tränen zurückzuhalten. „Ein Scharfschütze … während mein Vater in den Trümmern nach Überlebenden …", stammelte er, als er seine Stimme wieder gefunden hatte.

    „Ist in Ordnung, Bruder. Khalils mitfühlender Ton überraschte den Jungen. „Wir alle haben geliebte Menschen verloren.

    Hamid wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als der Anführer jene vertrauten Zeilen aus dem heiligen Koran zitierte, die er sich in den vergangenen Wochen wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. „Wer sich also gegen euch vergeht, den straft für sein Vergehen in dem Maße, in dem er sich gegen euch vergangen hat."

    Khalil ließ die Worte einen Moment wirken. Dann warf er den beiden Jungen jeweils etwas Pitabrot zu. „Nun esst und trinkt. Damit ihr zu Kräften kommt. Immerhin seid ihr nicht gerade das, was wir unter Paradesoldaten verstehen."

    Das waren sie wahrlich nicht. Hamid, nicht mehr als ein dürrer Stängel, der noch nicht in seinen Körper hineingewachsen war, während Mahmoud etwas zu viel Speck auf den Rippen hatte. Immerhin zierte sein rundliches Gesicht schon ein stattlicher Bart, während Hamid noch immer mit seiner glatten Haut zu kämpfen hatte, die nur hier und da das Wachsen eines Barthaares zuließ.

    Hamid riss sich ein Stück Brot ab und führte sich den Becher zum Mund. Als der heiße Kaffee ihm die Lippen verbrannte, zuckte er zurück und erntete ein breites Grinsen von Khalil für sein schmerzverzerrtes Gesicht.

    „Der Kaffee muss so heiß sein, begann der Anführer, ein bekanntes Sprichwort aufzusagen, „wie die Küsse eines Mädchens am ersten Tag, so süß, wie die Nächte in ihren Armen und so schwarz, wie die Flüche ihrer Mutter, wenn sie davon erfährt.

    Zustimmendes Grunzen kam von den anderen Männern im Raum.

    „Nicht, dass ihr alt genug seid, um etwas davon zu verstehen. Ein Grinsen umspielte Khalils Mund. „Genießt jedenfalls den Kaffee und das Brot. Er wies auf den Stapel an Gebetsteppichen hinter ihnen. „Zum Beten könnte ihr euch gerne bedienen. Er nickte dem Fahrer des weißen Toyotas zu. „Saed wird sich um eure Ausrüstung kümmern. Mit diesen Worten verschwand er durch die provisorische Tür ins Labyrinth der Tunnel.

    Hamid hob fragend eine Augenbraue, doch Saed schüttelte nur den Kopf, bevor er sich neben ihm niederließ.

    Still saßen die drei da. Hamid nutzte die Zeit und lauschte den Gesprächen der anderen Männer, bis Saed ihn plötzlich ansprach. „Ich kannte deinen Vater, sagte er nüchtern. „Ein weiser Mann. Meine Tochter konnte sich glücklich schätzen.

    Sein Vater hatte neben seiner Lehrtätigkeit als Professor für Mittelmeerstudien an der Al-Azhar Universität auch hin und wieder an einer UN-Schule in einem Flüchtlingslager unterrichtet. „Sie war Schülerin in Dschabalija?"

    Der Fahrer nickte.

    „Was ist passiert?"

    Saed antwortete nicht, stattdessen schwenkte er abwesend den Kaffee in seinem Becher. Tief in Erinnerungen versunken sagte er schließlich: „Wie Khalil bereits erwähnt hat, haben wir alle geliebte Menschen verloren."

    Hamid beließ es dabei und wandte sich seinen eigenen Gedanken zu. Wieder und wieder ließ er vor seinem geistigen Auge ablaufen, wie er mit seinen drei kleinen Brüdern vor der Haustür spielte und seine beiden Schwestern ihnen lachend dabei zuschauten. Wann immer der Schmerz jedoch zu groß wurde und die Tränen drohten, ihn zu übermannen, verbannte er alle Spuren von ihnen aus seinem Gedächtnis. Und wenn selbst das nicht half, um seiner

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