Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 4: Predigten 2003-2004
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About this ebook
Vor dem Unbegreiflichen und den Ungereimtheiten des Seins dürfen wir nicht kapitulieren. Wir müssen das Unsagbare kommunikabel machen. Die Predigten nehmen dabei Bezug auf die christliche Tradition, die biblischen Texte insbesondere.
Wolfgang Nein
Der Autor war in den siebziger Jahren Pastor in Cuxhaven. Von 1980 bis 2010 war er an der Markuskirche in Hamburg-Hoheluft tätig. Eines seiner Lebensthemen ist die Förderung interkultureller Begegnungen. In den siebziger Jahren sorgte er für die Beschulung von Gastarbeiterkindern in Cuxhaven. Dreißig Jahre lang leitete er ein von ihm gegründetes deutsch-argentinisches Jugendaustauschprogramm. Der Autor lebt als Ruheständler in Hamburg.
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Book preview
Das Ja zum Leben und zum Menschen, Band 4 - Wolfgang Nein
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Lebenszelle Gemeinde
12. Januar 2003
1. Sonntag nach Epiphanias
Einführung des neugewählten Kirchenvorstands
Römer 12,3-8
Das Böse mit Gutem überwinden
26. Januar 2003
3. Sonntag nach Epiphanias
Bibelsonntag und Aktion gegen den Irakkrieg
Römer 1,16
Drei Konzepte fürs Leben
9. Februar 2003
Letzter Sonntag nach Epiphanias
Matthäus 17,1-9
Himmlische Gerechtigkeit
16. Februar 2003
Septuagesimae
(3. Sonntag vor der Passionszeit)
Matthäus 20,1-16
Gute und ungute Saat
23. Februar 2003
Sexagesimae
(2. Sonntag vor der Passionszeit)
Lukas 8,4-15
Natur und Kultur
30. März 2003
Laetare
(4. Sonntag der Passionszeit)
Johannes 12,20-26
Das Heil kommt nicht aus der Gewalt
13. April 2003
Palmsonntag
(6. Sonntag der Passionszeit)
Johannes 12,12-19
Innere Befreiung
16. April 2003
Tag vor Gründonnerstag
Abendmahl mit Senioren
Matthäus 26,21.25;27,3-5
Überfordert und entlastet
18. April 2003
Karfreitag
2. Korinther 5,17-21
Neues Leben aus dem Grab
20. April 2003
Ostermorgen
Markus 16,1-8
Mit dem Herzen glauben
27. April 2003
Quasimodogeniti
(1. Sonntag nach Ostern)
Johannes 20,19-29
Geist und Materie
9. Juni 2003
Pfingstmontag
Apostelgeschichte 2,1-13
Noch einmal geboren werden
15. Juni 2003
Trinitatis
Partnerschaft St. Markus – Uyole, Tansania
Johannes 3,1-8
Das Gute nicht vergessen
22. Juni 2003
1. Sonntag nach Trinitatis
Goldene Konfirmation
Psalm 103,2
Kirche und Krieg
27. Juli 2003
6. Sonntag nach Trinitatis
Aktion Gomorrha
Matthäus 28,20a
Aus wenig kann viel werden
3. August 2003
7. Sonntag nach Trinitatis
Johannes 6,1-15
Hören und sehen – nicht nur mit Ohren und Augen
7. September 2003
12. Sonntag nach Trinitatis
Markus 7,31-37
Auch anderen Gutes zutrauen
14. September 2003
13. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 10,25-37
Ein schöner Tag
27. September 2003
Samstag vor dem 15. Sonntag nach Trinitatis
Abendandacht nach dem Straßenfest
Psalm 63,6-9
Gott und den Menschen lieben
19. Oktober 2003
18. Sonntag nach Trinitatis
Markus 12,28-34
Kirchentür zwischen vita und scriptura
31. Oktober 2003
Reformationstag
Epheser 5,1
Mann und Frau
2. November 2003
20. Sonntag nach Trinitatis
Markus 10,2-9
Der Schatten kommt vom Licht
23. November 2003
Totensonntag
Psalm 90,2
Geduld
7. Dezember 2003
2. Advent
Jakobus 5,7-8
Göttliche Sehhilfe
21. Dezember 2003
4. Advent
Pfadfinder bringen das Friedenslicht von Bethlehem
Philipper 4,4-7
Ein göttlicher Mensch
25. Dezember 2003
1. Weihnachtstag
Johannes 1,14a
Am Ende Freude und Frieden
31. Dezember 2003
Jahresschluss
Internationales Taizé-Treffen in Hamburg
Lukas 2,14
Leben ist mehr als der Alltag
4. Januar 2004
2. Sonntag nach Weihnachten
1. Johannes 5,11-13
Wollen, aber oft nicht können
18. Januar 2004
2. Sonntag nach Epiphanias
Römer 12,9-16
Bestleistung um des Guten willen
8. Februar 2004
Septuagesimae
(3. Sonntag vor der Passionszeit)
1. Korinther 9,24-27
Guter Boden
15. Februar 2004
Sexagesimae
(2. Sonntag vor der Passionszeit)
Dank an Ehrenamtliche
Lukas 8,4-8
Zuspruch der Freiheit durch Schuldspruch
29. Februar 2004
Invokavit
(1. Sonntag der Passionszeit)
Hebräer 4,14-16
Ende des Opferkultes
28. März 2004
Judika
(5. Sonntag der Passionszeit)
Hebräer 5,7-9
Das Ja zum Leben und zum Menschen
4. April 2004
Palmsonntag
(6. Sonntag der Passionszeit)
Philipper 2,5-11
Jesus vor Gericht
5. April 2004
Passionsandacht in der Karwoche
Bild „Italienreise" von Dorothea Chazal
Matthäus 26,57-68;27,24
Liebe geht durch den Magen
8. April 2004
Gründonnerstag
Johannes 1,1.14
Wir brauchen gute Nachrichten
11. April 2004
Ostersonntag
1. Korinther 2,12-16
Gebet: Wir bekennen unsere Grenzen
16. Mai 2004
Rogate
(5. Sonntag nach Ostern)
1. Timotheus 2,1-6a
Verabschiedung in die Selbstständigkeit
20. Mai 2004
Himmelfahrt
Apostelgeschichte 1,3-4(5-7)8-11
Vielfalt auf gemeinsamer Grundlage
31. Mai 2004
Pfingstmontag
Gäste aus Tansania mit Bischof Mwakyolile
1. Korinther 12,4-14
Wer ist Gott? Wer bin ich?
6. Juni 2004
Trinitatis
Römer 11,33-36
Sich eines Besseren besinnen und umkehren
27. Juni 2004
3. Sonntag nach Trinitatis
1. Timotheus 1,12-17
Angebot der Gemeinschaft
25. Juli 2004
7. Sonntag nach Trinitatis
Apostelgeschichte 2,41a.42-47
Christlicher Glaube – und Lebenswandel
1. August 2004
8. Sonntag nach Trinitatis
Epheser 5,15-21
Unser Name – Muttermilch fürs Herz
22. August 2004
11. Sonntag nach Trinitatis
Tauferinnerung
Jesaja 43,1
Vielfalt der Schöpfung bewahren
29. August 2004
12. Sonntag nach Trinitatis
Gottesdienst mit Greenpeace
Psalm 104,10-18.24
Zeichen gegen die Ohnmacht
12. September 2004
14. Sonntag nach Trinitatis
Gedenken der Menschen in Beslan
Themengottesdienst „Liturgie, Rituale, Symbole"
Klagelieder 3,22-24.26.31.32
Werbung für den Glauben an den Heiland
3. Oktober 2004
17. Sonntag nach Trinitatis
Erntedankfest
Römer 10,9-17
„Empfange dich neu!"
17. Oktober 2004
19. Sonntag nach Trinitatis
Epheser 4,22-32
Abschied vom Exzeptionellen
21. November 2004
Totensonntag
1. Korinther 15,37-38
Der Allmächtige kommt als Kind
28. November 2004
1. Advent
Familiengottesdienst „Ein Licht geht um die Welt"
Jeremia 23,5
Friede auf Erden – wie schön wäre das!
5. Dezember 2004
Adventsfeier
Im Eppendorfer Bürgerverein
Lukas 2,14
Licht des Lebens und des Friedens
19. Dezember 2004
4. Advent
Friedenslicht von Bethlehem
Lukas 1,26-33.38
Die neue Schöpfung beginnt mit einem Kind
24. Dezember 2004
Heiligabend, 23.30 Uhr
Lukas 2,1-20
Freud und Leid liegen nahe beieinander
31. Dezember 2004
Jahresschluss
Römer 8,31-39
Bibelstellen
Vorwort
Wozu ist eine Predigt gut? Die Predigt ist Teil eines Gottesdienstes. Und wozu ist ein Gottesdienst gut?
Im Gottesdienst feiern wir das Leben mit all seinen schönen und schweren Seiten. Wir feiern das Leben als die wunderbare Gabe einer geheimnisvollen Quelle, deren Ursprung für uns weder verfügbar noch begreifbar ist. Wir beschreiben diesen Ursprung mit Worten und Bildern der jüdisch-christlichen Tradition in persönlichen Kategorien. Wir sprechen von Gott, dem Schöpfer allen Seins und Vater aller Menschen.
Ihm gegenüber verhalten wir uns wie Partner in einer persönlichen Beziehung. Wir sprechen ihn im Gebet an, wir danken ihm, bringen unsere Freude und unser Leid vor ihn, unsere Klagen und unsere Bitten. Wir singen ihm unseren Lobpreis. Wir bekennen uns zu unseren menschlichen Begrenzungen und gestehen unsere Schwächen, Fehler und Verfehlungen ein.
Ebenso bringen wir unsere Bereitschaft zur Besserung zum Ausdruck und unser Vertrauen auf Nachsicht und Vergebung. Wir erklären uns bereit, Verantwortung zu übernehmen für das, was wir mit unseren Möglichkeiten zu leisten im Stande sind.
Wir sind uns dabei stets dessen bewusst, dass wir die Geschöpfe sind und unser Gegenüber der Schöpfer ist. Wir halten es darum für angemessen, um Hilfe und Beistand zu bitten und das, was wir selbst nicht zu leisten vermögen, in die Hand dessen zu legen, der der letzte Urheber von allem ist.
Dieses persönliche Verhältnis zu dem Urgrund allen Seins hat durch das Erscheinen jenes Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, eine besondere Gestalt angenommen. Ihn haben Menschen damals als das Erscheinen Gottes in menschlicher Gestalt erlebt. Sie beschreiben ihn als den Sohn Gottes.
Wenn wir im Gottesdienst die vielfältigen Erscheinungen des Seins bedenken, haben wir darum neben Gott, dem Allmächtigen, dem Schöpfer und Beweger allen Seins und Vater aller Menschen auch einen Menschen als Abbild Gottes vor Augen, dessen Teilnahme an unserem alltäglichen Leben uns die menschliche Seite Gottes erleben lässt und uns eine Ahnung davon geben kann, wie ein gottgewolltes Leben aussehen könnte.
Die Predigt hat nun die Aufgabe, im Rahmen des Gottesdienstes die Grundfragen unseres Lebens anzusprechen und dabei Bezug zu nehmen auf die Überlieferung der christlich-jüdischen Tradition, der biblischen Texte insbesondere. Dabei versucht die Predigt, unsere Beziehung zu Gott, dem Schöpfer, und seinem Erscheinen in Jesus, dem Christus, in Worte zu fassen, zu erklären, worum es geht, auch unsere Fragen und Zweifel zu formulieren und Informationen zu geben über die Grundlagen und Hintergründe und die Entstehung und Entwicklungsgeschichte der Überlieferung. Die Predigt soll auch unsere Gefühle ansprechen, die Lebensfreude stärken, zur Dankbarkeit und zur Wahrnehmung von Verantwortung aufrufen, Trost zusprechen und die Zuversicht und Hoffnung stärken.
Die Predigt nimmt stets auch Bezug auf aktuelle Geschehnisse im näheren Umfeld, in unserer Gesellschaft und weltweit. In der ersten Jahreshälfte von 2003 hat der Irakkrieg die Gemüter weltweit bewegt. Am Ende von 2003 fand in Hamburg das internationale Jugendtreffen von Taizé in Hamburg statt. Im September 2004 bewegte uns der Überfall auf eine Schule in Beslan in Südrussland. Ende 2004 erschütterte uns alle der Tsunami an den Küsten des Indischen Ozeans.
Die Predigt ist der Versuch, in Worte zu fassen, was viel größer und höher und tiefer ist, als dass wir es jemals mit Worten beschreiben könnten. Sie ist der Versuch, in Worte zu fassen, was so schön und so gut und so großartig ist, dass es uns durch ungläubiges Staunen sprachlos macht, oder was so schrecklich ist, dass es uns vor Entsetzen die Sprache verschlägt.
Die Predigt ist ein Versuch, ein behelfsmäßiger, manchmal hilfloser Versuch. Manchmal hilft es, einfach Musik zu hören oder ein Kunstwerk zu betrachten. Manchmal erscheint es angemessen zu schweigen. Aber wir sollten es nicht beim Schweigen belassen. Wir dürfen vor den Ungereimtheiten und dem Unbegreiflichen nicht kapitulieren. Wir müssen das Unsagbare kommunikabel machen. Predigten sind dafür ein Versuch. Einige sind hier abgedruckt. Es sind alle, die ich 2003 und 2004 gehalten habe. Viel Freude beim Lesen.
Wolfgang Nein, August 2016
Lebenszelle Gemeinde
12. Januar 2003
1. Sonntag nach Epiphanias
Einführung des neugewählten Kirchenvorstands
Römer 12,3-8
Die Gemeinde ist die Lebenseinheit der Kirche. Kirche besteht aus Gemeinden. Gemeinden sind für die Kirche wie die Lebenszellen des Körpers.
Gemeinden sind für die Kirche das, was Familien für die Gesellschaft sind. Die Familie ist die Lebenszelle der Gesellschaft: Vater, Mutter, Kind - das ist die Lebenseinheit. Ich spreche jetzt nicht davon, wie das organisiert sein muss; das wäre ein weiteres Thema. Aber diese Einheit „Vater, Mutter, Kind oder „Kinder
ist die Lebenseinheit. Nur wenn diese Einheit existiert und als Verantwortungsgemeinschaft besteht, ist das Leben und der Fortbestand des Lebens einer Gesellschaft gewährleistet.
Für das Leben und den Fortbestand von Kirche ist grundlegend, dass Gemeinden existieren und als Verantwortungsgemeinschaft bestehen.
Kirche ist nicht einfach die Summe einzelner Christen. Das Bild vom Körper, wie wir es in der Lesung gehört haben, bringt das ganz gut zum Ausdruck. Der Körper ist auch nicht einfach die Summe einzelner Körperteile. Der Körper ist ein Gemeinschaftswerk. Er kann nur existieren im Zusammenwirken vieler einzelner Körperteile.
So kann auch Gemeinde nur im Zusammenwirken der einzelnen Christen existieren. Dabei geht es nicht - wie beim Körper - um ein biologisches Zusammenwirken, sondern um ein bewusst gestaltetes Miteinander, um eine Verantwortungsgemeinschaft eben. Da, wo Gemeinden als Verantwortungsgemeinschaft existieren, da ist Kirche.
Vielleicht klingt Ihnen das jetzt alles sehr schematisch. Mir geht es um Folgendes: In einer Zeit der Krise und der Veränderung kirchlicher Strukturen zum Zwecke der Überlebenssicherung stellt sich die Frage: welches ist die Lebenseinheit der Kirche? Welches ist die Keimzelle, aus der heraus sich das Leben der Kirche entfaltet? Wo ist im strukturellen Sinne - ich rede jetzt nicht vom Inhaltlichen, sondern vom Strukturellen - wo ist im strukturellen Sinne die Lebenszelle der Kirche?
Die Lebenszelle ist die Gemeinde, das möchte ich unterstreichen. Die Lebenszelle ist nicht der einzelne Christ. Die Lebenszelle ist auch nicht die Region, die Lebenszelle ist auch nicht der Kirchenkreis, auch nicht die Landeskirche, auch nicht die Evangelische Kirche in Deutschland. Das sind alles eher Organisations- und Verwaltungseinheiten. Lebenszelle ist die Gemeinde als Verantwortungsgemeinschaft der Christen vor Ort.
Was macht nun die Gemeinde zur Lebenseinheit der Kirche? Zum Leben bedarf es materieller Nahrung. Wenn es um mehr als Leben im biologischen Sinne geht, um ein Leben in Verantwortung miteinander zum Beispiel, dann bedarf es auch geistiger Nahrung.
Die Möglichkeit, geistige und geistliche Nahrung aufzunehmen, setzt allerdings voraus, dass ein Körper im biologischen Sinne da ist. Verantwortung füreinander können wir nur wahrnehmen, wenn wir überhaupt - im materiellen, im körperlichen Sinne - existieren. Das klingt vielleicht banal, muss aber trotzdem immer mal wieder deutlich gesagt werden.
Das sagen auch die Fluggesellschaften. Wenn vor dem Start die Passagiere in die Sicherheitsvorkehrungen eingewiesen werden, heißt es zum Beispiel: „Bei Druckabfall in der Kabine halten Sie zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske vors Gesicht, dann helfen Sie anderen."
„Wie unchristlich!, ist jedes Mal meine spontane Reaktion. „Zuerst an sich selber denken, gehört sich nicht!
Aber doch, das ist hier unbedingt erforderlich: Christliche Nächstenliebe kann ich nur ausüben, wenn ich selbst überhaupt existiere, wenn ich selbst überhaupt noch am Leben und lebensfähig bin.
Das gilt auch für die Gemeinde. Wenn wir Gottesdienst halten wollen, in Bibelkreisen zusammenkommen wollen, seelsorgerlich tätig werden wollen, Besuche machen wollen, diakonisch handeln wollen, dann müssen wir überhaupt erstmal existieren als Gemeinde. Bevor wir also geistige und geistliche Nahrung aufnehmen können und dann im geistigen und geistlichen Sinne tätig werden können, müssen wir erst einmal die materielle Nahrungszufuhr an uns selbst geregelt haben.
Diese materielle Nahrungszufuhr, nämlich in Form der Kirchensteuer und zunehmend auch kirchensteuerunabhängiger Mittel, ist im Augenblick für Kirchengemeinden keineswegs gesichert. Sie sicherzustellen, ist eine der grundlegenden Aufgaben des Kirchenvorstands als verantwortliches Leitungsgremium der Gemeinde. Wie diese Sicherung stattfinden kann, dafür gibt es unterschiedliche - auch widerstreitende - Konzepte. Diese sind auch unter uns in der Gemeinde und im Kirchenvorstand insbesondere immer wieder diskutiert worden. Und die Diskussion wird weitergehen.
Die grundsätzliche Frage dabei wird immer zu beantworten sein: Welches ist die Lebenseinheit der Kirche? Welche Einheit, welche Größe muss lebensfähig bleiben, damit von dort das Leben der Kirche insgesamt gesichert ist? Diese Lebenseinheit ist für mein Verständnis die Gemeinde.
Gemeinden sind verschieden, so, wie Menschen verschieden sind und wie Familien verschieden sind. Wer ist St. Markus? Wer sind wir? Was ist unsere Identität? Diese Frage ist für unsere Gemeinde genauso wichtig wie für jeden einzelnen Menschen. Es ist ein gewisser Prozess, bis man sich als einzelner Mensch selbst erkannt hat, zu sich selbst gefunden hat und mit sich selbst im Einklang sein Leben gestalten kann. Im Verlauf einer Biographie kann es Veränderungen geben. In einer Gemeinde mit einer Vielzahl von Menschen um so mehr. Die Frage der Identität stellt sich von daher immer wieder neu. Sie aber auch immer wieder neu zu beantworten, stärkt die Gemeinde.
Was macht heute die Identität von St. Markus aus? Aus meiner Sicht: Zur Identität von St. Markus heute gehört, dass wir für alle Menschen in der Gemeinde und im Stadtteil da sind, für alle Generationen und für alle Lebenssituationen; dass wir wie eine Familie im erweiterten Sinne sind - über die leibliche Familie hinaus, Gemeinde als Großfamilie, in der jeder seinen Platz finden kann, wo jeder mit seinen Anliegen und Problemen Beachtung finden kann und wo sich jeder mit seinen Gaben einbringen kann.
Wir sind als Gemeinde für das ganze Leben da. Ich sage das ganz bewusst, weil das in Hamburg favorisierte Regionalisierungskonzept vorsieht, dass sich Gemeinden spezialisieren und Arbeitsbereiche und damit Lebensbereiche ausgliedern - im Sinne von: Die eine Gemeinde befasst sich mehr mit den Jugendlichen, die andere mehr mit älteren Menschen, die dritte sorgt für die Kirchenmusik usw. Das ist nach unserem Verständnis von Gemeinde wie eine Amputation.
Zur Identität von St. Markus gehört, dass hier das ganze Leben Berücksichtigung findet und Menschen in all ihren Lebenslagen Beachtung finden. Das ist eine große Aufgabe, ein großes Ziel.
Wir sind eine große Gemeinde mit 5.100 Gemeindegliedern und einer Wohnbevölkerung von über 16.000 Menschen. Das Gemeindekonzept kann nur aufgehen, wenn sich immer mehr Gemeindeglieder und überhaupt Menschen im Stadtteil bewusst sagen: „Ich möchte St. Markus, ich möchte, dass St. Markus Bestand hat und lebt; da kann ich etwas empfangen, da kann ich etwas geben", wenn also jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bewusst mitwirkt. Allein mit hauptamtlich Beschäftigten lässt sich dieses Gemeindekonzept nicht realisieren, sondern nur mit dem Zugehörigkeits- und Verantwortungsbewusstsein vieler Menschen.
Die Frage muss darum für jeden geklärt sein: Was bedeutet mir Kirche, was bedeutet mir die Gemeinde? Will ich, dass St. Markus weiterbesteht und was kann mein Beitrag dazu sein? Gemeinde als Verantwortungsgemeinschaft - und übrigens nicht nur die Gemeinde, sondern der Stadtteil insgesamt. Es tut uns allen gut, wenn wir uns im Stadtteil Hoheluft als Verantwortungsgemeinschaft verstehen.
Also lange Rede kurzer Sinn: Lassen Sie uns alle miteinander diese Lebenseinheit „Gemeinde St. Markus" so gestalten, dass in ihr das Leben blüht und sie das Leben des Stadtteils bereichert und ihre Lebenskraft ausstrahlt - bis nach Tansania und in die weite Welt hinein.
Das Böse mit Gutem überwinden
26. Januar 2003
3. Sonntag nach Epiphanias
Bibelsonntag und Aktion gegen den Irakkrieg
Römer 1,16
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, sagt Paulus. Das ist fast schon etwas zu defensiv. Er hätte auch sagen können: „Ich bin stolz auf das Evangelium
oder „Ich bin begeistert, ich bin fasziniert vom Evangelium." Das hat er in Wirklichkeit auch gemeint. Paulus war ja so erfüllt von den Worten Jesu, von seiner Art, die Welt und den Menschen zu sehen, dass er in die umliegenden Länder gereist ist - nach Syrien, in die Türkei, nach Griechenland, bis hin nach Italien, nach Rom, um weiterzugeben, was sein Leben so radikal verändert hatte.
Reisen war damals ziemlich beschwerlich und gefährlich. Aber Paulus hat keine Mühen und keine Gefahren gescheut. Denn ihm waren im wahrsten Sinne des Wortes die Augen aufgegangen. Was er erkannt hatte, wollte er nicht für sich behalten. Wenn er dann etwas sagte - und in seinen Briefen schrieb - von dem, was ihm Jesus Christus bedeutete, war das wiederum so bedeutungsschwer, dass auch seine Worte, Paulus’ Worte, Teil der Schrift geworden sind, die für viele Menschen, für Milliarden von Menschen, zur Heiligen Schrift geworden ist.
Die Bibel ist eine Schatzkiste guter Worte. Es sind nicht nur Worte voller Lebensweisheit - die gibt es auch in der Bibel, einige sind zum Schmunzeln: „Wem eine tüchtige Frau beschert ist, die ist viel edler als die köstlichsten Perlen zum Beispiel. Aber Lebensweisheit ist oftmals recht pessimistisch: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
In der Bibel stehen aber nicht nur - und überhaupt nicht in erster Linie - Lebensweisheiten. Vielmehr ist uns mit den Texten der Bibel in vielfältiger Entfaltung ein grundlegendes Lebensverständnis und ein Menschenbild gegeben, das geprägt ist von der „Liebe zum Leben und der „Liebe zum Menschen
.
Was in dieser Hinsicht in der Bibel formuliert ist, erschien und erscheint manchen Menschen allerdings nicht als Lebensweisheit, sondern eher als Torheit. Eine oftmals als weltfremd belächelte Aufforderung Jesu lautet: „Liebt eure Feinde!" Ein solches Wort macht uns besonders nachdrücklich deutlich, dass uns die Bibel mit einem offenbar radikal alternativen Lebens- und Menschenbild konfrontiert. Man mag das belächeln. Aber ein auch nur oberflächlicher Blick in die Menschheitsgeschichte bis in den heutigen Tag hinein kann auch die Frage nahelegen, ob da nicht vieles so grundlegend falsch gelaufen ist, dass eine radikale Überprüfung und Änderung unserer Denk- und Verhaltensmuster eigentlich schon immer nötig gewesen ist.
Die Bibel ist eine Schatzkiste guter Worte. Einige dieser Worte haben wir auf Spruchbänder geschrieben und draußen aufgehängt. Vielleicht kommen nachher noch ein paar dazu, Worte des Zuspruchs und des Anspruchs. „Friede auf Erden allen Menschen" - ein göttlicher Zuspruch, den einlösen zu helfen ein hoher Anspruch an uns alle ist.
Oder dieser Satz: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Ein geniales Wort Jesu, zurecht als die „Goldene Regel
bezeichnet. Das bedeutet: „Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest." Gegen dieses Wort lässt sich überhaupt nicht argumentieren, ohne dass man sich damit selbst gleich als Egoist entlarvt. Natürlich möchte ich von den anderen gut, ja bestmöglich, behandelt werden. Und muss ich den anderen dann nicht das gleiche Recht auf eine ebenso gute, bestmögliche Behandlung zubilligen?! Wenn wir diesen Satz zur Leitlinie unserer zwischenmenschlichen Beziehungen machen würden, dann wäre das doch wunderbar.
Oder dieser Satz: „Überwindet das Böse mit Gutem!" Das müsste das Leitmotiv jeder Konfliktlösung sein. Wo Böses getan wird, da sollte nicht mit gleichen Mitteln oder noch Schlimmerem vergolten werden. Denn das führt - das zeigt doch alle Erfahrung - zur Spirale der Gewalt. Und diese findet oftmals erst dann ihr Ende, wenn die Gegner tot am Boden liegen. Es folgt dann die Versöhnung über den Gräbern.
Nein, es müssen im Konfliktfall sogleich Maßnahmen zur De-Eskalation ergriffen werden. Alle Fantasie und guter, bester Wille müssen aufgeboten werden, dem Gegner den Weg zur Umkehr zu eröffnen. Versöhnung muss das Ziel sein, bevor es nötig wird, Gräber auszuheben.
Natürlich ist das alles nicht einfach. Wir dürfen es uns aber auch nicht zu einfach machen. Vielleicht ist es erforderlich, dass wir uns immer wieder Gedanken machen, welches denn die Grundsätze unseres zwischenmenschlichen Verhaltens sind. Vielleicht fehlt es uns an inneren Leitlinien. Vielleicht denken wir, das regelt sich schon alles von allein. Oder andere werden’s schon richten. Die Wertefrage dürfen wir nicht unterschätzen, die Frage: „Nach welchen Werten richten wir uns?"
Wenn der Führer der mächtigsten Nation unseres Erdballs, der uns vor kurzem noch in eine Wertegemeinschaft einbezogen hatte, über seine Gegner sagt: „Wir werden sie vor uns hertreiben und wir werden sie zur Strecke bringen", dann können wir doch gar nicht mehr anders, als dass wir uns noch einmal ganz intensiv auf unsere Werte besinnen und uns fragen, ob sich eine solche Äußerung wirklich mit unserem Menschenbild vereinbaren lässt.
Die Frage: „Wer ist der Mensch?, war ja übrigens auch die Frage gewesen, die sich für Paulus nach seinem sog. Damaskuserlebnis ganz neu beantwortet hatte, und zwar in folgender Weise: „Der Mensch ist
, ich sage das jetzt mal theologisch, „der Mensch ist Sünder, der Mensch ist auf Vergebung angewiesen und der Mensch hat die tägliche Chance zur Umkehr." Das war sein Aha-Erlebnis. Eine Einsicht, die von da ab jegliche Selbstgerechtigkeit ausschloss und die Vorstellung, schuld seien immer nur die anderen.
Es verbot sich für Paulus künftig die Vorstellung, dort seien die Bösen und hier die Guten, dort seien die Schurken und hier die Engel, die anderen gehörten in die Hölle und