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Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18
Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18
Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18
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Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18

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Mit dieser berühmten Analyse der umstrittenen Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland griff der Hamburger Historiker zum ersten Mal einen Fragenkreis auf, der, wie Fischer nachweist, eine zentrale Stellung in der deutschen Politik während des Ersten Weltkrieges einnahm. Fischers Ergebnisse, von maßgebendem Einfluß auf Forschung, Lehre und Öffentlichkeit, fußen auf bis dahin nicht erschlossenen Akten.
LanguageDeutsch
PublisherDroste Verlag
Release dateJan 1, 2014
ISBN9783770041152
Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18

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    Griff nach der Weltmacht - Fritz Fischer

    Fritz Fischer

    Griff nach der Weltmacht

    Die Kriegszielpolitik

    des kaiserlichen Deutschland

    1914/18

    Droste Verlag

    Mit einem Begleitwort des Verfassers von 1977.

    Der vorliegende Band folgt der Rechtschreibung der Erstausgabe von 1961.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 1961 und 2013 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

    Einbandgestaltung: Droste Verlag unter Verwendung eines Fotos von dpa

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN: 978-3-7700-4115-2

    www.drosteverlag.de

    VORWORT

    Das vorliegende Buch, das in erster Auflage im Oktober 1961 erschien, hat sowohl in der deutschen und internationalen Geschichtswissenschaft als auch in einer weiten politisch-historisch interessierten Öffentlichkeit des In- und Auslandes eine Kontroverse ausgelöst, die noch heute nicht abgeschlossen ist. Diese Kontroverse konzentrierte sich vornehmlich auf die folgenden Punkte:

    1.  Auf den von mir herausgestellten Zusammenhang zwischen deutscher Politik im Zeitalter der »Weltpolitik« und den Kriegszielen des kaiserlichen Deutschlands während des Krieges.

    2.  Auf meine Neuinterpretation der deutschen Politik im Juli 1914, die den deutschen Anteil an der Auslösung des Ersten Weltkrieges stärker hervorhebt, als es in der traditionellen deutschen Anschauung geschieht.

    3.  Auf die von mir betonte Kontinuität der deutschen Politik im Kriege und ihre Charakterisierung als Kriegszielpolitik und nicht als grundsätzliche Friedenspolitik eines weitgehenden Verzichts auf Kriegsziele.

    Die zeitweilige »Mäßigung« der deutschen Reichsleitung in ihrer Kriegszielpolitik ist nach der Niederlage in der Marneschlacht im September und nach der Niederlage in Flandern im November 1914 nicht so hoch zu bewerten, wie es die heutige deutsche Historiographie darstellt, berücksichtigt man die entscheidend veränderte Kriegslage nach dem Scheitern des deutschen Siegesplanes. Das kaiserliche Deutschland führte keinen Verteidigungskrieg, sondern ließ es im Juli 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen und sah in der Erreichung positiver Kriegsziele das notwendige Erfordernis seiner Politik. Nach außen und gegenüber der eigenen Nation wurde bei der Formulierung der Kriegsziele die Fiktion eines »Überfalls« (die von der deutschen Reichsleitung im Juli 1914 systematisch inszeniert worden war) dadurch berücksichtigt, daß man das defensive Moment der »Sicherungen und Garantien«, wie es der Reichskanzler Bethmann Hollweg im August/ September 1914 formulierte, hervorkehrte. Vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft übernahm unkritisch diese »Überfallthese« der deutschen Reichsleitung und gelangte daher nicht zu der entscheidenden Fragestellung nach der deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkriege.

    Abweichend von der deutschen Geschichtsanschauung möchte mein Buch über die vorwiegend diplomatische oder biographische Betrachtungsweise hinausführen und dagegen die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, institutionellen Gesichtspunkte sowie die ideellen Traditionen betonen. Die Einbeziehung der wirtschaftlichen und sozialen Faktoren erlaubte nicht nur eine Ergänzung der bisherigen Sicht, sondern eine grundsätzliche Neuinterpretation der historischen Wirklichkeit. Das Gewicht und die Richtung dieser wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Kräfte des Kaiserreiches blieben während des Krieges konstant und erwiesen sich gegenüber einer auf der Linken sich bildenden Opposition und gegenüber verspäteten Versuchen einer Korrektur von seiten einzelner Persönlichkeiten der Regierungsspitze als stärker.

    Wenn diese neue Betrachtungsweise die deutsche Politik im Ersten Weltkriege einerseits tief in der deutschen Geschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verwurzelt erscheinen läßt, so weist sie andererseits über den behandelten Zeitraum hinaus: Ideelle und hegemoniale Ansprüche werden sichtbar, die, wenn auch gesteigert und unmenschlich in den Methoden, in der deutschen Geschichte bis 1945 wirksam geblieben sind.

    Um einer breiteren Öffentlichkeit die Möglichkeit zu einem eigenen Urteil über diese Probleme zu geben, erscheint die vorliegende Sonderausgabe meines Buches. Der Text wurde auf Grund der dritten Auflage vollständig neu bearbeitet, übersichtlicher auf die Grundlinien konzentriert und unter Berücksichtigung sachlicher Kritik überprüft. Neu hinzugekommen ist eine synoptische Zeittafel über die wichtigsten Daten der militärischen Ereignisse, der Kriegszielpolitik und der allgemeinen politischen Geschichte 1914-1918.

    Für ihre Mitarbeit an der vorliegenden Ausgabe danke ich meinen beiden Schülern Hans-Jürgen Windszus und Peter-Christian Witt.

    BEGLEITWORT

    Das Buch »Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18« ist im Oktober 1961 in 1., 1962 in 2., 1964 in 3. überarbeiteter, 1971 in 4. Auflage erschienen und inzwischen vergriffen, ebenso wie die gekürzte Sonderausgabe von 1967. Ferner sind eine amerikanische, englische, französische, italienische und eine japanische Ausgabe herausgekommen. Nunmehr wird das Buch nach dem Text der Sonderausgabe 1967 neu aufgelegt.

    Dieses Buch hat nach dem Urteil des Historikers Jacques Droz von der Pariser Sorbonne nicht nur Geschichte geschrieben, sondern Geschichte gemacht. Es hat, wie er sagt, »das schmeichelhafte und bequeme Bild, das die Deutschen sich von ihrer Vergangenheit gemacht hatten«, zerstört und sie zu einer »einschneidenden Revision« gezwungen, was eine »unpopuläre, aber notwendige Aufgabe« war. Oder, wie Ralf Dahrendorf sagte, mit diesem Buch ist die Ideologie der Selbstrechtfertigung zerschlagen worden. Nicht zuletzt durch die bis heute fortgehende wissenschaftliche Auseinandersetzung*, die es auslöste, und durch zahlreiche neue Forschungen, die es anregte, hat es dazu beigetragen, das politisch-historische Bewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland zu verändern im Sinne einer größeren kritischen Distanz zur deutschen Vergangenheit und damit zur Bildung eines Bewußtseins der inneren Eigenständigkeit unseres gegenwärtigen Staates. Es hat aber auch dazu beigetragen, daß das Ausland eine höhere Achtung gewann vor der Selbstbesinnung des neuen Deutschland.

    Der vehemente, vielfach emotional geladene Widerspruch gegen dieses Buch bei seinem ersten Erscheinen 1961 ist nicht allein wissenschaftsintern zu begreifen, sondern nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die in den 20er und 30er Jahren entstandene amtlich geförderte apologetische Grundeinstellung der deutschen Geschichtswissenschaft zur Frage des Kriegsausbruchs 1914 – für die europäischen Völker noch immer der tiefste Einschnitt in der jüngeren Geschichte – und zu den deutschen Kriegszielen 1914/18 weiterlebte über die Zäsur von 1945 hinweg bis in die 60er Jahre. Die deutsche Öffentlichkeit hatte sich mit dem Diktum von Lloyd George beruhigt: »Wir sind alle hineingeschlittert«, und hielt sich für die Zielsetzungen im Krieg nach 1918 so sehr an die Auseinandersetzungen zwischen den (bösen) »Radikalen« und den (guten) »Gemäßigten«, daß darüber die Sicht verlorenging, welche Schichten, Gruppen, Interessen und Ideen vor dem Kriege und im Kriege die entscheidenden waren. Wie stark aber selbst jene »Gemäßigten« noch Vorstellungen und Zielen anhingen, die Europa und die Welt zu ertragen nicht bereit waren, vermochte jene Zeit noch nicht zu sehen. Die deutsche Geschichtswissenschaft war so auf die Kriegsschuldfrage fixiert, die man glücklich abgeschlossen glaubte und die zum Tabu geworden war, daß in der Kontroverse um das Buch sein eigentlicher Gegenstand: die deutschen Kriegsziele in ihrer Verwurzelung in industrie-kapitalistischen, agrarischen und überseeisch-kommerziellen Interessen zusammengebunden mit den strategischen Forderungen von Heer und Marine, weit zurücktrat gegenüber der Diskussion über die deutsche Politik im Vorkrieg und in der Julikrise, die nur in den zwei ersten von 23 Kapiteln behandelt werden.

    Nachdem ich schon 1964 in einem schmalen Band »Weltmacht oder Niedergang« meine auf dem Berliner Historikertag jenes Jahres vertretenen Thesen vorgelegt hatte (auch in einer amerikanischen und englischen Ausgabe), um die von mir gesehene Verzahnung außenpolitischer Aspirationen mit der innenpolitischen Machtbehauptung der privilegierten Schichten und ihren wirtschaftlichen Interessen kurzgefaßt deutlich zu machen, habe ich 1969 ein zweites umfangreiches Buch veröffentlicht über die deutsche Politik 1911-1914 unter dem Titel »Krieg der Illusionen« (ebenfalls auch in einer amerikanischen und englischen Ausgabe), in dem, aus den Quellen erarbeitet, die Voraussetzungen und Triebkräfte wie die innere und äußere Situation, die zum Kriege führten, aufgezeigt werden. Hier findet der Leser des »Griff« eine fundierte Untermauerung der zwei Eingangskapitel und damit zugleich eine Einführung in das Problem der Kontinuität von der Politik des Kaiserreichs vor dem Krieg zu der im Krieg. Da sich inzwischen Grundgedanken von »Griff nach der Weltmacht« durchgesetzt hatten, wurde das zweite Buch mit größerer Sachlichkeit aufgenommen. Allerdings geriet es in die Theoriewelle der 70er Jahre und in die Flut der Schriften der ›Kriegs- und Friedensforschung‹, die ihre Entstehung u. a. einer Fehlinterpretation der Ursachen des Ersten Weltkriegs (nämlich im mangelnden ›Krisenmanagement‹ der beteiligten Staatsmänner) verdankt.

    Darüber hinaus hat das Buch »Griff nach der Weltmacht« – ohne selbst zeitlich so weit zu führen – die Frage unausweichlich gemacht, die von Hajo Hol-born (†) im Vorwort zur amerikanischen wie von Jacques Droz im Vorwort zur französischen Ausgabe gestellt und bejaht wird, ob nicht vom kaiserlichen Deutschland in den gesellschaftlichen Formationen und den ideellen Traditionen Linien oder doch Elemente der Kontinuität festzustellen sind hin zum ›Dritten Reich‹, die erst begreiflich machen, wieso dieses möglich war und kein »Betriebsunfall« der Geschichte, wie so viele es sehen wollen. Aber eben diese immanente Frage läßt erkennen, warum sich die Kontroverse so verschärft hatte.

    Daß auch die anderen Großmächte im Zeitalter des Imperialismus expansive Politik betrieben und im Kriege ihre eigenen Kriegsziele verfolgt haben, habe ich nie in Frage gestellt. Ja, es ist eine erfreuliche Folge meiner Bücher, daß die Geschichtsforschung auch in den Ländern der früheren Kriegsgegner Deutschlands in den letzten Jahren sich intensiv mit dem Problem der Kriegsziele ihrer Staaten befaßt hat.

    Was nun die methodischen Aspekte betrifft, die durch die Auseinandersetzung um das Buch geweckt oder gefördert wurden, so gibt es Fort- und Rückschritte. Einerseits hat, teils angeregt durch meine Arbeit, teils ganz unabhängig von ihr, im letzten 1½ Jahrzehnt die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung zum Deutschen Kaiserreich Außerordentliches geleistet. Andererseits hat, entgegen der Konzeption meiner drei Bücher und in offenbarem Fortwirken älterer Denkformen, eine psychologisierende Personalisierung stattgefunden. Denn die überwiegende Zahl der kritischen Würdigungen dieser Bücher konzentriert sich auf die Persönlichkeit des ersten Kriegskanzlers Bethmann Hollweg, der gegen den Kaiser, gegen den Kronprinzen und die Fronde, gegen das Auswärtige Amt, gegen das Preußische Staatsministerium, gegen die Alldeutschen, die Konservativen, das Zentrum und die Nationalliberalen, gegen Großindustrie und Agrarier und vor allem gegen die Marine und die Militärs gekämpft haben soll, so daß am Ende das Bild eines ›Widerstandskämpfers‹ entsteht, eine inadäquate Vorstellung, da er doch immerhin der erste und der einzige politisch verantwortliche Beamte des Deutschen Reiches gewesen ist, berufen von Wilhelm II. und nur so lange im Amt, als er dessen Rückhalt besaß. Auf wen hätte er sich eigentlich stützen sollen, wenn er, wie viele es sehen wollen, so weit von all den anderen abweichende Ziele vertrat? Etwa auf die Sozialdemokraten oder die kleine Gruppe der Linksliberalen (die übrigens beide bei Kriegsbeginn entschiedene Gegner des zaristischen Rußland waren, darin ganz auf seiner Linie)? Das war freilich, wie man weiß, völlig ausgeschlossen, und er selbst wollte auch weder eine Parlamentarisierung noch eine Demokratisierung, sondern er erkannte nur, im Gegensatz zu vielen anderen, daß ein Krieg nicht ohne die Arbeiterschaft geführt werden konnte und daß im Interesse der Erhaltung des deutschen Regierungssystems Konzessionen gemacht werden mußten. Ist er nicht vielmehr ein Repräsentant dieser Gesellschaft und dieses Staates – und wie erst würde sein Bild in der Geschichte sich darstellen, hätte Deutschland gesiegt!

    Es geht in diesem Buch nicht um das Anprangern des deutschen Imperialismus als einer maßlosen Machtpolitik, sondern um die Analyse seiner Voraussetzungen und seiner Stellung im Staatensystem. Aber eben hier gibt es Grenzen der Machtentfaltung, die nicht überschritten werden dürfen durch ein »Periklitieren« (um ein Bismarcksches Wort zu gebrauchen) über das einem Staatswesen Zuträgliche und Mögliche hinaus; und es gibt ein Überwiegen des Militärischen in Staat, Gesellschaft und Geistesverfassung einer Nation (zumal wenn es sich noch steigert durch einen Wirtschaftsimperialismus), das selbstzerstörerisch sein kann. Schließlich hat das Deutsche Reich eine Politik geführt, die eine Überschätzung und eine Überspannung seiner Kräfte darstellte und zu seinem eigenen und Europas Niedergang führte. Solche Erscheinungen aufzuweisen gehört zu den legitimen und zentralen Aufgaben des Historikers.

    *  Aus der kaum mehr zu übersehenden Literatur der sog. Fischer-Kontroverse (über 300 Rezensionen und Aufsätze) seien die bibliographisch weiterführenden Darstellungen genannt: Deutsche Kriegsziele 1914-1918, hrsg. Von Ernst W. Graf Lynar, Frankfurt a.M./Berlin 1964; Fritz Fellner, Zur Kontroverse über Fritz Fischers Buch »Griff nach der Weltmacht«, Sammelreferat, Mitt. d. Inst.f. Österr. Geschichtsforschung LXXII. Bd. 1964, S. 507-514; Wolfgang J. Mommsen, Die deutsche Kriegszielpolitik 1914-1918, in: Kriegsausbruch 1914, München 1967, S. 60-100; John A. Moses, The War Aims of Imperial Germany: Professor Fritz Fischer and his critics, Univ. of Queensland Press, St. Lucia 1968; George W. Hallgarten, Deutsche Selbstschau nach 50 Jahren Fritz Fischer, seine Gegner und Vorläufer, in: Ders., Das Schicksal des Imperialismus im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1969, S. 57-135; Imanuel Geiß, Die Fischer-Kontroverse. Ein Kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historiographie und Politik, in: Ders., Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1972, S. 108-197; Arnold Sywottek, Die Fischer-Kontroverse, Ein Beitrag zur Entwicklung historisch-politischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in:Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Festschrift für Fritz Fischer, hersg. von I. Geiss und B. J. Wendt, Düsseldorf 1973, S. 19-47; Jacques Droz, Les causes de la Première Guerre mondiale. Essai d’historiographie, Paris 1973; John A. Moses, The Politics of Illusion. The Fischer Controversy in German Historiography, London, George Prior Publ. 1975.

    EINLEITUNG

    1. Kapitel

    DEUTSCHER IMPERIALISMUS

    Von der Großmachtpolitik zur Weltmachtpolitik

    Das Deutsche Reich von 1871, die Schöpfung Bismarcks, war eine Verbindung des preußischen Militär- und Obrigkeitsstaates mit den führenden Schichten des durch Handel und Industrie erstarkten liberalen Bürgertums. Die neue Staatsgründung gehört zwar ganz in die Geschichte der nationalstaatlichen Bewegung, die von 1789 bis in unsere Gegenwart reicht, sie nimmt jedoch in ihr eine Sonderstellung von welthistorischer Bedeutung ein. Die Deutschen waren die einzigen, die sich ihren Staat nicht von unten her im Bunde mit der Demokratie gegen die alten Mächte selbst schufen, sondern ihn aus den Händen dieser in der Abwehr der Demokratie »dankbar empfingen« (Heimpel). In dem neuen Reich waren der preußische Staat, Macht und Ansehen der preußischen Krone, die Stellung des preußischen Ministerpräsidenten als Reichskanzler, der preußische Landtag mit seinem Dreiklassenwahlrecht des Abgeordnetenhauses und sein überwiegend feudales Herrenhaus, waren Bürokratie, Schulen, Universitäten und die protestantischen Staatskirchen und nicht zuletzt die Armeen mit ihrer direkten Unterstellung unter die Monarchen Faktoren, die das Übergewicht der konservativen Kräfte über die heraufdrängenden Elemente des demokratischen Liberalismus, später des demokratischen Sozialismus, garantierten.

    Nach dem befristeten Zusammenspiel Bismarcks mit den Nationalliberalen in den Jahren 1867 bis 1876 kam mit der Schutzzollgesetzgebung und dem Sozialistengesetz der Umschwung in der Wirtschafts- und Innenpolitik: Die alte Agrar-Aristokratie verbündete sich mit der neuen industriellen Aristokratie gegen den oppositionellen Teil des Liberalismus und die Sozialdemokratie, Nach dem Abbau des Kulturkampfes repräsentierten die drei Parteien der Rechten, Deutschkonservative, Freikonservative, Nationalliberale und das Zentrum – auch ohne förmlichen Zusammenschluß in einem »Kartell« – die wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch entscheidenden Kräfte im neuen Deutschland, ohne daß sie aber ihren Einfluß durch den Reichstag gewonnen hätten und weiterhin gewannen. Der Sog dieser Machtkonzentration in Verbindung mit dem stetigen wirtschaftlichen Aufstieg seit 1890 sowie dem äußeren Glanz und der Machtentfaltung des Kaiserreiches war so stark innerhalb Deutschlands, daß am Ende der Wilhelminischen Epoche selbst die beiden ursprünglich oppositionellen Parteien, Links-Liberale und Sozialdemokraten, in die bestehende Ordnung weitgehend hineingewachsen waren, wie es der August 1914 und selbst der 9. November 1918 zeigten.

    Von Bismarck zu Wilhelm II.

    Der liberale Einschlag in der deutschen Nationalbewegung trat seit 1878 ganz zurück gegenüber den dynastisch-militärischen Elementen. Die Reichsgründung selbst erschien im Bewußtsein des Volkes fast ausschließlich als die Frucht dreier »siegreicher Kriege«. Die Staatsfeiertage, der Sedantag als Symbol des Sieges über Frankreich und Kaisers Geburtstag (Wilhelm II. 27. Januar 1859), waren lebendiger Ausdruck dieses Selbstverständnisses des Kaiserreiches.

    Neben dem militärischen Faktor bestimmte noch ein weiterer das spezifische Bewußtsein der neuen deutschen Nation. Die Abwehr von Demokratie und Sozialismus führte in den 70er Jahren zur Mobilisierung kleinbürgerlicher Schichten unter der alten, aber neubelebten Parole von »Thron und Altar«. Es waren jene Menschen, die durch die Wirtschaftsumbildung am stärksten betroffen waren und nun hofften, vor allem mit staatlicher Hilfe gegen die übermächtige Konkurrenz der entstehenden Großbetriebe ankämpfen zu können. Zugleich aber verband sich die Vorstellungswelt weiter nationaler Kreise mit dem erst religiös, dann rassisch begründeten Antisemitismus, durch den ein ganz neuartiger Nationalismus begründet wurde, der seit den 90er Jahren über den dynastischen Staat Preußen-Deutschlands hinaus völkisch-rassische Vorstellungen zu Wunsch- und Leitbildern machte.

    Diese Generation, aufgewachsen in der Spätbismarckzeit, war überzeugte Anhängerin jener »Weltpolitik«, die der junge Kaiser sehr bald als Programm mit dem Ziel des »deutschen Platzes an der Sonne« in einer Ansprache von 1896 verkündet hatte. Im Mittelpunkt seiner politischen Absichten stand der Aufbau einer Flotte. Nur mit diesem Mittel schien die Möglichkeit gegeben, neben England als Weltmacht aufzurücken und zugleich als gleichberechtigt von den Weltmächten anerkannt zu werden. Die Flotte, verbunden mit der wirtschaftlichen Macht, sollte die Grundlage dafür bieten, daß die deutsche Nation den Status quo der kolonialen Welt revidieren könnte, weil sie bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen und nach eigener Meinung nur unzureichend bedacht worden war. Von den 70er Jahren an war in Afrika und Asien eine Neuverteilung von Gebieten im Gange, die zur Ausweitung kolonialer Imperien führte und an der sich Deutschland im Zuge seiner strukturellen Wandlung immer drängender beteiligte. Vollends als der japanisch-chinesische Krieg (1895), der amerikanisch-spanische (1898) und der Burenkrieg (1899-1902) die Bedeutung der Seemacht als Voraussetzung einer Weltmachtstellung unwiderlegbar zu zeigen schienen, wurde das Ziel der Schaffung einer starken Flotte als Ausdruck der deutschen Ansprüche, von der Industrie und einer neuartigen Massenpropaganda gelenkt, zum Allgemeinbesitz des deutschen Volkes.

    Gerade in der Auseinandersetzung um die Flottenvorlage formulierten die Vertreter der führenden deutschen Bildungswelt, die Professoren der Universitäten, das Selbstverständnis der deutschen Nation in der neuen Epoche. Hervorragende Vertreter der deutschen Hochschulen: Gustav Schmoller¹, Hans Delbrück, Max Sering, Dietrich Schäfer, Max Lenz, Otto Hintze, Erich Marcks, Alfred Hettner, Friedrich Ratzel, um nur wenige zu nennen, urteilten übereinstimmend, daß das Zeitalter scheinbar friedlichen Wettbewerbs der Staaten (im Sinne von Adam Smith) endgültig vorbei sei und daß ebenso die Begrenzung der Großmächte auf das europäische Staatensystem der Vergangenheit angehöre.

    Was Schmoller, der Erzieher einer ganzen Generation von Nationalökonomen, Verwaltungsbeamten und Diplomaten, im Hinblick auf die Wirtschaft begründet hatte, das vertraten die Historiker im Hinblick auf die Machtstellung und das deutsche Kulturerbe. Für sie war die Ausweitung der Nationalstaaten zu Weltstaaten nicht nur bestimmt von »Wirtschaftsinteressen«, sondern vor allem vom »Streben nach Macht«. Sie sahen – wie etwa Hans Delbrück² erklärte – Deutschland zur »Weltmission« berufen kraft des durch Heer und Flotte gesicherten »gebührenden Anteil(s) an jener Weltherrschaft, die das Wesen der Menschheit und ihre höhere Bestimmung den Kulturvölkern zuweist«. Gegen das »Kulturmonopol« des Angelsachsentums – Englands und Nordamerikas – und die russisch-moskowitische Welt setzten die deutschen Professoren den Auftrag: die Behauptung der deutschen kulturellen und politischen Eigenart zu sichern und damit zugleich die Vielheit und Individualität der Völker sowie das Gleichgewiicht in einem neuen Weltstaatensystem (das nach ihrer Vorstellung das europäische ablösen sollte) zu garantieren.

    Dieser deutsche Anspruch brachte gleichzeitig aber auch die geopolitische Beschränkung der deutschen Basis ins Bewußtsein – wie es z. B. Paul Rohrbach und Rudolf Kjellén aussprachen – und führte in den Jahren unmittelbar vor dem Krieg zu einem Wiederaufleben der Mitteleuropaideen, die in den Bestrebungen zur Abwehr der amerikanischen Hochschutzzölle durch Bildung von Interessentenvereinigungen als Vorstufen politischer Organisationen ihren Niederschlag fanden³. Zunächst beschränkten sich die Konferenzen des »Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins« auf Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Einbeziehung gleichgerichteter Vereinigungen und Bestrebungen in Frankreich, Holland, Belgien, der Schweiz und (wenn auch gegen Bedenken der Ungarn) in Rumänien war aber von Anfang an geplant und wurde auch durchgeführt. Diese Bestrebungen erhielten ein besonderes Gewicht auf deutscher Seite durch die Beteiligung sämtlicher entscheidender Gruppierungen der deutschen Industrie, der Schwerindustrie, der verarbeitenden Industrie sowie der Großbanken, der Schiffahrt und der Landwirtschaft. Neben Bueck und Roetger (Centralverband Deutscher Industrieller) und Stresemann (Syndikus des sächs. Verbandes des Bundes der Industriellen) war es vor allem Jakob Riesser, der Direktor der Darmstädter Bank, Präsident des deutschen Bankiertages, der dem Verein sein Gewicht verlieh. Ziel der Bestrebungen war es, im Rahmen der deutschen Gesamtpolitik – wie es Max Schinkel, Geschäftsführer der zweitgrößten deutschen Bank, der Disconto-Gesellschaft, aussprach – die als »notwendig« erkannte »breitere Basis in Europa« für Deutschland zu erstreben, um »die volkswirtschaftliche Grundlage der deutschen Weltpolitik zu legen«.

    Wirtschaftsexpansion und Weltmachtanspruch

    Der Anspruch, zur Weltmacht berufen zu sein, gründete sich auf das Bewußtsein, eine im Aufstieg und im Wachstum begriffene »junge« Nation zu sein: war doch Deutschlands Bevölkerung vom Jahre 1871 mit etwa 41 Millionen auf etwa 68 Millionen im Jahre 1915 angewachsen, während Frankreich z.B. bei einer größeren geographischen Wohnfläche, in seinem Wachstum fast stagnierend, 1915 erst 40 Millionen erreichte. Hinzu kam, daß in Deutschland über ein Drittel der Bevölkerung unter 15 Jahre alt war und damit im Bewußtsein der Deutschen eine Bevölkerungsdynamik gegeben war, die den Ruf nach Lebensraum, nach Absatzmärkten und Industriebetätigung noch mehr stärken sollte. Trotz der hohen Auswandererzahl (1881-1890 z.B. 1,3 Millionen) war der Bevölkerungszuwachs mit über 800 000 Menschen im Jahre 1910, verbunden mit der Erhöhung des Lebensalters und der Verminderung der Säuglingssterblichkeit, erheblich positiver als z.B. in Frankreich (8,9‰ gegenüber 3,4‰). Der durch die steigende Industrialisierung Deutschlands in die Binnenwanderung umgebogene verebbende Strom der Auswanderer und die einsetzenden Zuwanderungen aus Österreich, Polen, Italien und anderen europäischen Ländern verstärkten die sich abzeichnende Entwicklung Deutschlands zu einem hochindustriellen Exportland und ließen damit die Aufgabe der Schaffung von Rohstoff- und Absatzmärkten als Ernährungsgrundlage der Bevölkerung noch brennender werden.

    Im Rahmen einer gleichbleibenden und stabilen Lohn- und Preisskala und einer in Überwindung verschiedener Krisen steigenden wirtschaftlichen Prosperität wurde in Deutschland trotz der starken Kapitalnot ein steigendes Nationaleinkommen⁴ (1896: 21,5 Milliarden; 1912: 40,0 Milliarden) erzielt, das seinen sichtbarsten Ausdruck in der Erhöhung des Realeinkommens und der Spareinlagen sowie der Investitionen gewann.

    Der Vermögenszuwachs aller Schichten, verbunden mit der Stabilität des Geldes, gab ein Gefühl der Sicherheit und stärkte den Glauben, daß der ungehemmte Aufstieg in einer fast als wirtschaftsgesetzlich vorgestellten Expansion sich weiterentwickeln würde. So wiesen schon die Zeitgenossen immer mit Stolz als Beweis der deutschen Wirtschaftsentfaltung auf die Zahlen des Im- und Exports hin:

    Daraus ergab sich eine passive Handelsbilanz. Die Herstellung einer aktiven Zahlungsbilanz wurde damit zu einer entscheidenden Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik. Die Zunahme des deutschen Imports in diesen 25 Jahren ist mit 243% mit keinem Land vergleichbar gewesen. England erreichte 108,7%, die USA 136,9% und Frankreich nur 95%. Dagegen war die Zunahme des Exports während des Vierteljahrhunderts in den USA mit 208,6% höher als in Deutschland mit 185,4%. Im ganzen gesehen aber intensivierte Deutschland seinen Handel (um 13,4 Milliarden = 214,7%) weitaus am stärksten, gefolgt von den USA (173,3%), England (113,1%) und Frankreich (98,1%).

    Wichtig für die deutsche Welthandelspolitik war aber noch ein weiteres Moment. Wohl rangierte 1913 der Austausch mit den europäischen Staaten noch an vorderster Stelle, jedoch hatte sich zwischen 1880 und 1912 eine gravierende Wandlung des deutschen Handels vollzogen: Im Jahre 1880 waren 80% der deutschen Ausfuhr nach England, Frankreich und Südosteuropa gegangen, und 77% der deutschen Einfuhr kamen auch aus europäischen Ländern. 1913 jedoch war der Im- und Exportanteil Europas um ⅓ gesunken; die überseeische Welt, die tropischen Gebiete, vor allem aber der südamerikanische Markt traten als Rohstofflieferanten Deutschlands immer mehr in den Vordergrund.

    Das in alle Welt vordringende deutsche Unternehmertum wurde energisch von einer am besten als »Neomerkantilismus« bezeichneten Politik der Reichsleitung unterstützt. Innen- und außenpolitisch war die Förderung der wirtschaftlichen Unternehmertätigkeit Maxime des Staates geworden; hatte sich dieser selbst mit der Verstaatlichung von Post-, Telegrafen- und Eisenbahnwesen umgeformt und sich eine wesentliche Position im wirtschaftlichen Prozeß Deutschlands ausgebaut, so schuf er mit der Sozialgesetzgebung, der Fortführung der Schutzzollgesetzgebung und der Prämiensteuerung des Exports die entscheidenden Grundbedingungen des deutschen wirtschaftlichen Aufschwungs, der zugleich die strukturelle Umwandlung des Deutschen Reiches bedingte. Mit dem Aufbau einer Reichsbank als Hauptclearingstelle des deutschen Geldmarktes war die Voraussetzung geschaffen worden, dem kapitalschwachen Land in Zusammenarbeit mit privaten Kreditinstituten bis zum Weltkrieg so reiche Mittel zur Verfügung zu stellen, daß Deutschland es wagen konnte, große, politisch wirksame Transaktionen durchzuführen.

    Grundlage dieses Aufschwungs war der ineinander verwobene und verflochtene Ausbau der Großeisen-, Stahl- und Bergbauindustrie. Der Aufschwung, den die Kohleförderung und die Eisen- und Stahlproduktion seit den 70er Jahren, konzentriert im Ruhrgebiet, Lothringen und Oberschlesien, nahmen, war gegenüber den anderen kontinentalen Ländern unvergleichbar stark. Angekurbelt durch die fünf Milliarden Mark der französischen Kriegsentschädigung, durch große Rüstungsaufträge, vor allem aber durch die gleichmäßige verkehrswirtschaftliche Erschließung Deutschlands und zugleich Europas, verachtfachte das Reich seine Kohleförderung im Zeitraum von 1870 bis 1914, während England die seine verdoppelte. Zugleich gelang es den deutschen Unternehmern, den kontinentalen Markt in sehr großem Maße zu erschließen; geschützt durch die Zollschranken von 1879, konnte der Export der Bergbauindustrie in Frankreich, in Belgien, in Holland, in der Schweiz, in Italien und in Österreich-Ungarn festen Fuß fassen. Der Förderungsaufschwung der deutschen Kohle, der nur von Amerika überboten wurde – er erreichte z.B. im Zeitraum der 25 Jahre vor 1912 eine Steigerung um 336,6% gegenüber Deutschland mit 218,1% (England 72,6%) –, war zugleich verbunden mit der noch bedeutsameren Intensivierung der Eisen- und Stahlproduktion. Der Anstieg der Roheisenerzeugung von 4,0 Millionen Tonnen (1887) auf 15,5 Millionen Tonnen war mit ihrer Zunahme von 387% nur noch vergleichbar mit der Amerikas (368,5%). England, und das war entscheidend für das deutsche Bewußtsein, konnte seine Eisenerzproduktion nur um 30,6% von 7,6 Millionen Tonnen auf 10,0 Millionen Tonnen erhöhen. Unvergleichbar auf der Welt war die Entwicklung der deutschen Stahlerzeugung. Auf Grund des neuen Herstellungsverfahrens von Thomas sowie der neuen Erfindungen von Siemens und Martin nahm die Stahlproduktion um 1335,0% von 0,9 Millionen Tonnen (1886) auf 13,6 Millionen Tonnen zu. Zugleich wurde aber Deutschland immer abhängiger von der Zufuhr von Rohstoffen (161,3 Millionen Mark Einfuhr 1910 gegenüber 5,7 Millionen Mark 1872).

    Zu diesem Aufschwung der Schwerindustrie gesellten sich vollkommen neue Industrien: die chemische, die Elektro- und die optische Industrie. Die chemische Industrie hatte, aufbauend auf den neuen Verfahren der Teerverarbeitungschemie, innerhalb weniger Jahrzehnte die führende Position der chemischen Fabrikation in Europa errungen und mit einem Export im Werte von etwa 125 Millionen Mark im Jahre 1913 einen starken Anteil an der deutschen Handelsbilanz. Mit ihren 150000 Beschäftigten, die seit dem Jahre 1904 durch Vorabsprachen der großen Firmen Bayer, Hoechst und Ludwigshafen schon ein Kartell errichtet hatten (1916 in den IG Farben vereinigt), war die chemische Industrie Sinnbild der hochkonzentrierten Industriebetriebsform. Ebenso befand sich die Elektroindustrie in wenigen Händen. Sie war besonders eng verbunden mit den Großbanken. Ausgestattet mit patentierten Erfindungen, erreichte sie bereits im Jahre 1910 ein Exportvolumen von über 120 Millionen Mark und eine Beschäftigtenzahl von über 107 000. Im Abstand wohl, aber an der Erzeugung und im wertmäßigen Anteil kaum zurückbleibend, folgte die optische Industrie mit 60 Millionen Mark (1912).

    Als einziger Industriezweig, der sich weniger in Ballungsräumen bewegte, behauptete sich in den 40 Jahren seit 1870 die Textilindustrie und verzeichnete einen gleichbleibend wachsenden Anstieg. Bei fast gleichbleibender Beschäftigtenzahl verzehnfachte sich das Produktionsergebnis: von 37 500 Tonnen im Jahre 1878 auf 370 000 Tonnen im Jahre 1905.

    Der Aufschwung der Schwerindustrie und der Elektroindustrie aber wäre unmöglich gewesen, wenn nicht zur gleichen Zeit der Ausbau der Verkehrswirtschaft Deutschlands, verbunden mit der Intensivierung von Handel und Gewerbe, vor sich gegangen wäre, der in der Großbankenkonzentration seinen prägnantesten Ausdruck fand. Im Jahre 1870 beherrschte der unternehmende Privatbankier noch durchaus den deutschen Kapitalmarkt. 1913 aber schon war die Struktur der deutschen Kreditinstitute gründlich gewandelt; sie wurde entscheidend bestimmt durch die vier »D-Banken« – die Deutsche Bank, die Disconto-Gesellschaft, die Dresdner Bank und die Bank für Handel und Industrie (Darmstädter Bank genannt). Als Mammutbanken standen diese Kreditinstitute, jedes verflochten mit den wichtigsten Industrien Deutschlands durch Aufsichtsratsstellen, am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit einer Kontrolle von 65% des Eigenkapitals aller deutschen Kreditbanken beispielhaft da für die vorangeschrittene Konzentration der deutschen Wirtschaft⁵.

    Auf der Grundlage der inneren Fusionen, Tochtergründungen usw. traten die Aktien-Banken unter Hinzuziehung der alten Privatbankhäuser wie Bleichröder, Rothschild, Levi, Stern, Warburg usw. in das Auslandsgeschäft ein, so z. B. die Deutsche Bank mit dem Bau der Anatolischen Eisenbahn, dem Bau der Gotthardbahn, der Übernahme von Transaktionen und Emissionen in Süd- und Nordamerika. Die Großbanken vermochten an den entscheidenden Börsenplätzen und den wichtigsten Märkten des Welthandels festen Fuß zu fassen. Durch die Gründung von Auslandsfilialen, z. B. der Banca Generala Romana, der Brasilianischen Bank, der Deutsch-Ostafrikabank, der Deutsch-Asiatischen Bank usw., gelang es, die Finanzierung der Otaviminen- und Eisenbahngesellschaft in Südwestafrika, der Bagdadbahn in Kleinasien, der Schantungeisenbahn- und Bergbaugesellschaft in China, der Neuguineakompanie, der Petroleumunternehmungen in Rumänien und in Mesopotamien, der Tientsin-Puckow-Bahn und der Venezuelabahn durchzuführen. Der Zusammenschluß der Banken in bedeutenden Konsortien ermöglichte die große Zahl der Anleiheemissionen sowohl im Reich und in den deutschen Bundesstaaten als auch in Österreich-Ungarn, der Türkei, Rußland, Finnland, Norwegen, Schweden, Italien, der Schweiz, Argentinien, Brasilien und China.

    Um in der steigenden Bewegung von Gütern unabhängig von der englischen Flotte zu werden, um die deutschen Waren, vermittelt über ein deutsches Kapitalnetz, ohne englische Zwischenschaltung auf die fremden Märkte bringen zu können, bedurfte Deutschland einer eigenen Handelsflotte. Deren Aufbau ging Hand in Hand mit dem Ausbau der wichtigsten Überseehäfen Bremen und Hamburg. Auch hier zeichnete sich wieder der Trend zum Großbetrieb ab: In der Hapag und dem Norddeutschen Lloyd als den beiden größten, in wenigen Jahren herausgebildeten Schiffahrtsgesellschaften stellte sich zum erstenmal eine deutsche konkurrenzbietende Handelsflotte vor, deren Initialzündung das Auswanderergeschäft gewesen war und die nach dessen Abklingen ihr Interesse den regelmäßigen Passagier- und Stückgutlinien zuwandte. An dem mit den Banken eng verflochtenen Aufbau der Handelsflotte war eine schnell emporgewachsene deutsche Werftindustrie maßgebend beteiligt, die ihrerseits wiederum die Voraussetzung für den Bau einer Kriegsflotte war.

    Unter dem Schutz der 1879 eingeführten Zölle wurde es möglich, durch Kartellvereinbarungen eine heimische wie ausländische Konkurrenz auszuschalten. Die Führer der neuen Kartellorganisationen waren jetzt meistens »Angestellte« von Aktiengesellschaften und bildeten einen neuen Typus des Unternehmertums, der nicht mehr wie die Pioniergeneration Eigentümer und Leiter der Werke selbst war.

    Persönlich rücksichtsloser und mit allen kapitaltechnischen Finessen der Börsen vertrauter als Krupp, Stumm oder Röchling z. B., bauten Hugo Stinnes und August Thyssen ihre großen Filialbetriebe vertikaler Konzentration auf. Wie in der Schwerindustrie, so traten sowohl in der Bankwelt als auch im Handel an die entscheidenden Positionen Wirtschaftsführer, für die meistens eine betont »vaterländische« Haltung kennzeichnend war. Diese neue meinungsbildende, die Regierung in steigendem Maße beeinflussende Schicht war für das neue Deutschland charakteristisch. Sie erhielt um so mehr Einfluß, je mehr sich in der deutschen Politik neomerkantilistische Maximen durchsetzten.

    Charakteristisch für die deutsche Unternehmerschicht ist es, daß diese Männer keineswegs, wie so oft behauptet worden ist, vollkommen abseits von den politischen Belangen und Zielsetzungen der Reichspolitik standen, sondern daß sie aktiv in die politische Meinungs- und Willensbildung einzugreifen vermochten. Sieht man die Listen der Abgeordneten der Parteien im Reichstag und noch mehr die des Preußischen Abgeordnetenhauses⁶, der Konservativen, Freikonservativen, der Nationalliberalen und des Zentrums durch, so scheint der hohe Prozentsatz interessengebundener Vertreter von Landwirtschaft, Industrie, Handel usw. fast eine Identität von Wirtschaft und Politik darzustellen (waren doch z.B. die Vertreter der Interessengruppen in den meisten Fällen zugleich Abgeordnete, am häufigsten als Nationalliberale).

    Das Verhältnis von Wirtschaft und Politik wurde im Laufe der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts immer enger, und zwar je mehr die politischen Grundanschauungen der führenden Industriellen, Bankiers und Verbandssekretäre mit denen des Bildungsbürgertums, der hohen Bürokratie sowie der Armee und Marine übereinstimmten. Die »Nationalisierung« der deutschen Unternehmerschicht führte aber leicht zu einer Überhöhung der politischen Krisen.

    Ausdruck dieses Ineinandergreifens von wirtschaftlichem Denken, emotionalen Elementen und Weltmachtstreben ist die breite Unterstützung, die die Flottenpolitik Wilhelms II. und des Admirals von Tirpitz, vor allem durch die Agitation des Flottenvereins⁷, fand. Ursprünglich eine rein industrielle Gründung des Centralverbandes Deutscher Industrieller, der in einer Flottenrüstung vornehmlich einen auf Jahre hinaus gesicherten Auftragsbestand sah, wurde der Flottenverein zum ersten großen Beispiel staatlich gelenkter Propaganda. Gefördert in den preußischen Provinzen von den Oberpräsidenten, in den Bundesstaaten von den Fürsten, war der Flottenverein mit seiner Mitgliedschaft aus der hohen Bürokratie, den mittleren Beamten (Lehrern usw.) durchgegliedert über den Land- und Schulrat bis in jedes Dorf und von da aus wieder auf die großen Parteien wirkend, jedenfalls bis zum Jahre 1908, ein »Staatsverein«, in dem sich Industrie und Verwaltung an dem gleichen nationalen Ziel begeisterten. Die Ablösung des Großagitators, General Keim⁸, der über die Zielsetzung von Tirpitz hinausging und eine zu weit gegen die Regierung geführte Opposition betrieb, brachte keinen Bruch in den Charakter des Vereins. Das Ergebnis war, daß dieser nunmehr staatlicher Aufsicht, nämlich dem Reichsmarineamt, unterstellt wurde. General Keim aber wurde neben General Litzmann Gründer und Hauptagitator des 1912 ins Leben gerufenen »Wehrvereins«, der mit seiner Forderung, das lange vernachlässigte Heer zu vermehren und mit dem Flottenbau gleichzuziehen, an Breitenwirkung den Flottenverein bald übertraf.

    Die Flotte, für die der Flottenverein die Nation gewann, sollte den deutschen Handel schützen, Gleichberechtigung, »Bündnisfähigkeit« und »Freundschaft« mit England erzwingen und eben dadurch Symbol des deutschen Weltmachtanspruchs sein. Dennoch war die Flotte selbst ohne die dahinterstehende Wirtschaftsmacht Deutschlands, ohne den Druck weiter Wirtschaftskreise auf anerkannte Partnerpositionen in Übersee und Führerstellung in Europa undenkbar.

    Je größer das Produktionsvolumen der deutschen Wirtschaft wurde, desto stärker machte sich die eingeschränkte Basis des deutschen Rohstoffmarktes bemerkbar, und je weiter Deutschland in den Weltmarkt hinausgriff, desto mehr wurde diese Enge empfunden. Durch Aufkauf von Gruben, durch Erwerb von Konzessionen, durch Beteiligungen, durch Unterwanderungen, durch Zerstörung des Absatzmarktes der fremden Betriebe gelang es, im Westen sowohl in das große Minettegebiet von Longwy-Briey als auch in das Erzgebiet der Normandie einzudringen und dort festen Fuß zu fassen. Aus Sachsen griff die deutsche Industrie nach Böhmen hinüber und verband das industrielle Hauptzentrum Österreich-Ungarns mit dem mitteldeutschen. Zugleich bewirkte dieses Eindringen der deutschen Handelsbetätigung in die noch agrar-ökonomisch ausgerichtete Doppelmonarchie für deren Wirtschaft eine ständig deutlicher werdende kapitalmäßige Abhängigkeit von Deutschland. Österreich-Ungarn selbst aber war nur eine Brücke zu Südosteuropa, wo sich die deutsche »Kommerzialisierung«, wie Conrad sie nannte, in immer stärker werdendem Umfang gegenüber der österreich-ungarischen, französischen, englischen und belgischen Konkurrenz durchsetzte. Vor allem in der rumänischen Steaua Romana verstanden es die Großbanken, unter Führung der Disconto-Gesellschaft, eine mit überwiegend deutschern Kapital finanzierte Erdölproduktionsgesellschaft zur ausschließlichen Verwendung des Öls auf dem Kontinent aufzubauen. Dieses Unternehmen war, verbunden mit einer Abnehmerorganisation, die Frankreich, Belgien, Holland, Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland einschließen sollte, als Gegengewicht zu den übermächtigen Erdölkonzernen der Royal Dutch-Shell und der Standard Oil Company gedacht. Die Betätigung der deutschen Industrie im Gefolge staatlich unterstützter Großbankenpläne beim Bau der Anatolischen und der Bagdad-Bahn brachte ein immer stärker werdendes Engagement der deutschen Industrie auch in der Türkei mit sich. Im Osten selbst stieß vor allem die oberschlesische Industrie vor, die, angewiesen auf einen kontinentalen Absatzmarkt, sich Ost- und Südosteuropa erschloß. Ihr Ziel war es, polnische Gruben und polnisches Erz bis hinauf nach Radom unter ihre Kontrolle zu bringen. Zugleich stieß die Schwerindustrie aus der Not, in Deutschland keinerlei Stahlveredler zur Verfügung zu haben, in die ukrainischen und kaukasischen Rohstoffgebiete von Krivoi Rog und Tschiaturi (Mangangruben) vor.

    In den Jahren nach 1900 wurde eine ständig tiefer werdende Kluft zwischen dem von der Wirtschaftsentwicklung her angetriebenen deutschen Geltungsanspruch und den politischen Erfolgen des Reiches sichtbar.

    Diplomatie der Weltpolitik

    Schon im Zeitalter Bismarcks bahnte sich trotz seines kunstvollen Bündnissystems eine außenpolitische Selbstisolierung Deutschlands an: die Option für das problematische Gebilde der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns 1879 bedeutete einen ersten Schritt in diese Richtung, zumal es bereits in den 80er Jahren nicht gelang, zu einer der drei anderen Großmächte – England, Rußland oder Frankreich – ein engeres Verhältnis zu gewinnen, wenn auch mit dem England Disraelis und Salisburys trotz der Kolonialpolitik durch die Oriententente ein achtungsvolles Nebeneinander bestand. Deutschland besaß zu dem Rußland Gortschakows und Giers’ zwar eine bis 1890 vertragliche, aber wegen der steigenden wirtschaftspolitischen Entfremdung doch nur schwache Bindung. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch den »neuen Kurs« der 90er Jahre, in denen nacheinander eine Entfremdung von Rußland (russisch-französische Militärallianz von 1894) und England eintrat.

    Der deutsche Weg zur »Weltpolitik« von 1897 an, dem Jahr, in dem Bülow Staatssekretär des Äußern (1900-1909 Reichskanzler), Tirpitz Staatssekretär des Reichsmarineamtes wurden, führte erst recht in die Isolierung.

    Gleich die ersten Schritte, die Deutschland unternahm, führten im Fernen Osten und im Pazifik (Pachtung von Kiautschou 1897, Versuch einer Festsetzung auf den Philippinen 1898 sowie vorher schon die Erwerbung einiger Samoa-Inseln) zu heftigen Reibungen mit England, Rußland, Japan und den USA. Zur gleichen Zeit kam es zu noch stärkeren Friktionen der deutschen Orientpolitik mit Rußland und England. Die Orientreise Wilhelms II. und seine Rede in Damaskus im November 1898, in der er sich zum Schutzherrn über 300 Millionen Mohammedaner aufwarf, mußten als eine Herausforderung an das britische und russische Reich mit ihrer großen Zahl mohammedanischer Untertanen empfunden werden. Ebenso konnte das Unternehmen des Bagdadbahnbaues (erneute Konzession 1899) nur das Mißtrauen Englands und Rußlands wachrufen. Es wurde noch verstärkt durch die Bestrebungen Deutschlands, Kohle- und Handelsstationen auf dem Seeweg nach Indien in Aden, im Jemen und an der Küste von Südpersien zu errichten. Das deutsche Bemühen, Konzessionen für Ölbohrungen und Bewässerungsanlagen in Mesopotamien zu erlangen, bedeutete ebenfalls einen Einbruch in die englische Interessenzone. Die deutsche wirtschaftliche Aktivität im Orient erschien für englische und russische Interessen um so bedrohlicher, als Deutschland gleichzeitig mit der Reorganisation der türkischen Armee durch von der Goltz (1886-1895 und 1909-1913) sowie zuletzt in äußerst kritischer Lage 1913/14 durch die Mission Liman von Sanders das Osmanische Reich zu stabilisieren unternahm.

    Neben der Orient- und Ostasienpolitik führten die deutschen Interessen in Ost- und Südwestafrika (Schiffahrt, Eisenbahnen, Häfen, Bergbau) vornehmlich aber in den Burenrepubliken während der 90er Jahre zu Friktionen mit England (Krüger-Telegramm 1896). Zu diesem Engagement auf dem ganzen Erdball, das Deutschland mit den schon etablierten Mächten in Konflikt kommen ließ, bahnte sich mit der Forderung nach einer deutschen Schlachtflotte der unmittelbare Gegensatz zwischen Deutschland und England an. Der deutsche Flottenbau (1. Flottengesetz 1898, 2. Flottengesetz 1900) kreuzte sich mit den englisch-deutschen Bündnissondierungen (1898/1901) und trug neben der starren deutschen Haltung in der Bündnisfrage (Deutschland glaubte, weil es den russisch-englischen Gegensatz für unüberbrückbar hielt, eine Politik zwischen Rußland und England führen zu können) mit dazu bei, daß seit 1901 England sich endgültig für andere Parmer entschied. Die unmittelbaren englischen Reaktionen waren die Sicherung Japans in dem englisch-japanischen Bündnis vom Jahre 1902 sowie die Annäherung an Frankreich (1903) und der Ausgleich mit ihm in der englisch-französischen Entente (1904).

    Bereits der Gegenstoß Deutschlands gegen die sich abzeichnende Isolierung, die weniger mit dem zeitgenössischen Begriff der »Einkreisung« als vielmehr mit dem Terminus der »Auskreisung« zu bezeichnen wäre, zur Wahrung wirklicher oder erhoffter Wirtschaftsinteressen in der ersten Marokkokrise (1905/06) zeigte, zumindest bei Holstein und Schlieffen, den Willen, Frankreich gegebenenfalls mit Gewalt aus der Entente zu lösen. Der Verzicht auf die kriegerische Lösung (der der Schlieffenplan zugrunde gelegen hatte) durch den Kaiser und Bülow wurde nicht zuletzt durch die Hoffnungen Wilhelms II. auf friedliche Herbeiführung eines Kontinentalblocks Deutschland–Rußland– Frankreich (Bjoerkoe) bestimmt.

    Welche Erregung die russische Revolution, besonders der blutig niedergeworfene Moskauer Arbeiteraufstand im Dezember 1905 auch in Deutschland anfachte, zeigt der berühmte Neujahrsbrief Wilhelms II. an Bülow, den der Kaiser schrieb, um gleichsam seine »schlappe« Haltung während der Krise auszuwetzen. Symptomatisch verband er inneres und äußeres Geschehen, wenn er seinem Kanzler die Direktive gab:

    »Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht a tempo⁹.«

    In diesem Neujahrsbrief hatte der Kaiser den Eintritt in einen großen Krieg an den vorherigen Abschluß eines Bündnisses mit der Türkei und an die Revolutionierung der Islam-Welt, seinen Lieblingsgedanken seit Ende der 90er Jahre, geknüpft.

    Die Enttäuschung über den Verlauf der Algeciras-Konferenz von 1906, die von Deutschland in der Hoffnung auf amerikanische Hilfe durchgesetzt worden war, veranlaßte Deutschland, fürderhin keiner Konferenz mehr als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten zuzustimmen. Es hatte erhofft, in Algeciras England und Amerika gegeneinander ausspielen zu können.

    Gerade die Algeciras-Konferenz zeigte die Risse im Dreibund: Italien hatte sich auf die Seite der Entente gestellt, Österreich-Ungarn nur zögernd Deutschland unterstützt. Hinzu kam, daß die Niederlage Rußlands im russisch-japanischen Krieg 1904/05 und die Erschütterung durch die Revolution der russischen Außenpolitik den Anstoß gaben, sich von Ostasien ab- und mehr Europa zuzuwenden. Dadurch verschärfte sich der Gegensatz zu Österreich-Ungarn und Deutschland; zugleich wurde eine Verständigung Rußlands mit England möglich: die Abgrenzung ihrer Interessensphären in Asien (Persien, Afghanistan, Tibet) führte 1907 zur englisch-russischen Entente. War diese englischrussische Annäherung von russischer Seite mit gefördert worden durch die Angst vor deutschen Aspirationen auf die baltischen Provinzen, wie sie während und nach der russischen Revolution hervortraten, so war sie von englischer Seite herbeigeführt worden als Antwort auf die deutsche Flotten- und Orientpolitik.

    Die »Einkreisung« machte Deutschland wiederum in steigendem Maße abhängig von der Politik seines Bundesgenossen Österreich-Ungarn. Das wird deutlich an der deutschen Reaktion auf die Aehrenthalsche Politik bei der Annexion von Bosnien und Herzegowina im Sommer 1908: Sowohl Bülow als auch der von ihm bewußt spät unterrichtete Kaiser waren durch diese zunächst aufs unangenehmste berührt. Der Kaiser sah seine »seit 20 Jahren verfolgte Orientpolitik« von Grund auf zerstört und fühlte sich durch die protürkische Haltung Englands überboten. Bülows Hoffnung, durch den effektvollen Einsatz der deutschen Macht sowohl den Bundesgenossen Österreich-Ungarn zu decken als auch die Verbindung zur Türkei nicht abreißen zu lassen, erfüllte sich einmal durch Rußlands Nachgeben (das selbst aber nunmehr um so fester der Triple-Entente verbunden war) und zum andern durch das Einschwenken der jungtürkischen Führung, insbesondere der Offiziere.

    Im März 1909 war Deutschland erneut willens – oder gab sich den Anschein –, mit »schimmernder Wehr« eine Balkanlösung zugunsten Österreich-Ungarns zu erzwingen, um nach den Erfahrungen von Algeciras zu verhindern, daß sein Verbündeter gedemütigt würde.

    Zugleich versuchte Deutschland mit der Stärkung Österreich-Ungarns als Brücke zur Türkei, den Ausbau seiner kontinentalen Macht durch diplomatische Mittel zu intensivieren. Mit dem Abschluß des französisch-deutschen Kolonialabkommens vom 9. Februar 1909 und dem Besuch des Zaren sowie des den russischen Außenminister Iswolski ablösenden Sasonow in Potsdam am 3./4. November 1910 schien die deutsche Diplomatie ihrem alten Ziel, dem Kontinentalblock, greifbar nahe zu sein, versprach doch Rußland ein Abrükken von der Entente – Deutschland eines von Österreich-Ungarn – und stimmte dem seit Jahren aus politischen Gründen blockierten Bagdadbahnbau zu; die Gegengabe Deutschlands bestand darin, daß Nordpersien als russisches Einflußgebiet bestätigt und der Bau persischer Stichbahnen zur Bagdadbahn bezahlt wurde. Diese Ansätze einer kontinentalen Verständigung in Ost und West fanden in der zweiten Marokkokrise (Juni bis Oktober 1911) ihr Ende.

    Bei den Verhandlungen im Sommer 1911 zwischen dem deutschen Staatssekretär des Auswärtigen, Kiderlen-Wächter, und dem französischen Botschafter Jules Cambon ging es zunächst um eine Interessenabgrenzung in Marokko selbst; dann aber, als am 15. Juli Kiderlen die Forderung auf den ganzen Französischen Kongo als »Kompensation« für ein deutsches Desinteressement in Marokko erhob, trat ein neues Ziel der deutschen diplomatischen Aktion zutage: nämlich das Ziel eines geschlossenen zentralafrikanischen deutschen Kolonialbesitzes. Dahinter stand die noch weitergehende Absicht, durch einen deutsch-französischen »Ausgleich« die Entente cordiale zu sprengen, zumindest aber zu schwächen. Die Engländer begegneten dieser Gefahr durch eine öffentliche Intervention zugunsten Frankreichs mit der berühmten Mansion-House-Rede von Lloyd George und durch englisch-französische Militärabsprachen von großer Tragweite. Daraufhin gab Deutschland im Herbst 1911 nach und begnügte sich mit dem »Prestigeerfolg« einer in ihrem Werte umstrittenen Ausdehnung Kameruns. England hatte eine Demütigung in einem direkten deutsch-französischen »Ausgleich«, der die Festigkeit des Dreiverbandes und am Ende die englische Politik des Gleichgewichts zugunsten einer deutschen Hegemonialstellung in Europa zu erschüttern drohte, nicht zugelassen. Damit war England zum Angelpunkt für die weitere Bewegung der deutschen Politik geworden.

    »Schlüssel England«

    Stärker noch als die mehr diplomatischen Krisen der Jahre 1905/06 und 1908/09 wirkte die zweite Marokkokrise auf die breite Öffentlichkeit Deutschlands, weil in ihrem Verlauf auf ganz andere Weise als früher mit dem Mittel der Propaganda und der Presseaufputschung von seiten des Auswärtigen Amtes gearbeitet und auch in weit höherem Maße das nationale Empfinden der breiten Massen angesprochen wurde. Um so heftiger war die Enttäuschung über das ausgehandelte Ergebnis, das Deutschland statt des erhofften Französischen Kongo als Grundpfeiler eines erstrebten großen geschlossenen afrikanischen Kolonialbesitzes nur zwei dürftige Landstreifen zum Kongo und zum Ubangi einbrachte. Hatte man sich des Erfolges gegenüber Frankreich schon sicher geglaubt, so richtete sich nach dem Mißerfolg die Erregung in erster Linie gegen England, durch dessen Hilfe sich Frankreich allein habe behaupten können. Der Kriegswille war auf beiden Seiten da. Nach dem Abbruch der diplomatischen Besprechungen Mitte August – während der französischen, englischen und russischen Militärbesprechungen – kennzeichnet eine Aufzeichnung des deutschen Generalstabschefs die Situation in Deutschland, die von Erregung und Enttäuschung gleichermaßen geprägt war. Moltke schrieb¹⁰:

    »Die unglückliche Marokkogeschichte fängt an, mir zum Halse herauszuhängen. Wenn wir aus dieser Affäre wieder (wie 1906) mit eingezogenem Schwanze herausschleichen, wenn wir uns nicht zu einer energischen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind, mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches. Dann gehe ich.«

    Im gleichen Sinne waren auch die wirtschaftlichen und politischen Führungskreise Deutschlands aufs höchste über Frankreich und England erbittert. Fürchtete man doch, gegen einen möglichen Dreifrontenkrieg, der sich abzeichnete, finanziell und militärisch nicht gerüstet und daher in Zukunft ohnmächtig zum Nachgeben gezwungen zu sein.

    Die ganze Wut und Enttäuschung, auch über das Nachgeben des Kaisers, den alldeutsche Organe offen angriffen – gegen Kiderlen-Wächter wurde ein Prozeß angestrengt –, entlud sich in den hitzigen Reichstagsdebatten des November 1911. Der Führer der Konservativen, von Heydebrand und der Lasa, sprach auf öffentlicher Bühne das provozierende Wort aus: »Wir wissen jetzt, wo der Feind steht.« Es war etwas wie eine nationale Revolution, die sich in Deutschland vollzog, ein »Erwachen«, geschürt von den »pressure groups« des Flottenvereins, der Kolonialgesellschaft, des Alldeutschen Verbandes, bald auch – in höchstem Maße wirksam – des neugegründeten Wehrvereins. Die »starke Antwort«, die die Reichsleitung im Juli nicht gegeben hatte, fühlte sich der Reichstag berufen nunmehr von sich aus zu geben: Stärker zu werden als bisher; zu rüsten sowohl auf der See gegen England als auch auf dem Land gegen Frankreich und Rußland. Zu dieser Erregung kam im Januar 1912 in den Reichstagswahlen mit dem Sieg der Sozialisten (die der Kaiser sechs Jahre vorher noch hatte abschießen lassen wollen) die Gefahr einer schleichenden Demokratisierung und mit ihr die Angst vor der Zerstörung der sozialen Grundlagen und Privilegien der »staatserhaltenden« Parteien und Schichten noch hinzu. Nachdem sich in Preußen gegen zaghafte Reformversuche des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg die konservativen Kräfte behauptet, vor allem eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts abgewehrt hatten (und darin auch erfolgreich blieben bis 1918), drohte jetzt für die Solidarität von Thron, Altar, Großlandwirtschaft und Schwerindustrie die Gefahr einer sozialdemokratisch-ultramontan-demokratischen Dominanz im Reich, die jeder Schritt zu einer Parlamentarisierung unweigerlich gebracht haben würde (worauf der Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück, warnend hinwies).

    Eine der nationalen Erregung in Deutschland parallele Entwicklung vollzog sich in Frankreich mit dem Sturz des ausgleichsuchenden Ministeriums Caillaux und der Berufung des Lothringers Poincaré zum Ministerpräsidenten im Januar 1912.

    In England war die Reaktion gespalten. Oppositionsgruppen im Unterhaus und in der City traten für eine Verständigung mit Deutschland ein und lehnten eine rein auf Frankreich ausgerichtete Politik ab. Die deutsche Diplomatie ergriff diese Möglichkeit, anstatt eines Kontinentalblocks gegen England ein Bündnis mit England gegen den »Kontinent« zu schaffen. Schon im Herbst 1911 erklärte der Botschaftsrat von Kühlmann, damals der aktivste auf einen Ausgleich hinarbeitende deutsche Diplomat in London, daß es möglich sei, in den deutsch-englischen Beziehungen einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Durch die Initiative zweier Wirtschaftsführer, des mit dem Kaiser und Bethmann Hollweg befreundeten Ballin und des naturalisierten Deutsch-Engländers Cassel, der wiederum in engster Beziehung zu offiziellen Kreisen in England stand, kam es im Februar 1912 zur Haldane-Mission, deren Verlauf und deren Zielsetzung hier weniger als ein mißglückter Versuch deutsch-englischer Annäherung, sondern als Vehikel der deutschen Zielsetzung auf dem Kontinent gesehen werden muß.

    In der Dreiheit von Flottenfrage, politischem Abkommen und Kolonialverständigung legten die Deutschen von vornherein das größte Gewicht auf den politischen Ausgleich, während für Haldane die Flottenerörterungen der entscheidende Ausgangspunkt der Verhandlungen waren. Noch am Abend vor der Ankunft Haldanes hatte der Kaiser in einer Thronrede die neue Flottennovelle angekündigt und damit die Gespräche, bevor überhaupt mit ihnen begonnen worden war, erheblich belastet. Dazu kam, daß die Frage der Flottenvermehrung von ihm und Tirpitz allein, ohne Hinzuziehung des Kanzlers, mit Haldane besprochen wurde und beide hier grundsätzlich zu einem Nachgeben nicht bereit waren, ja, in den nächsten Wochen sich über englische Kritik und englische Gegenmaßnahmen sogar aufs höchste verstimmt zeigten. (»Meine und des deutschen Volkes Geduld ist zu Ende.« 5. März.)

    Obwohl also die Deutschen in der Frage des maritimen Wettrüstens zu einem Entgegenkommen nicht bereit waren, forderten sie in der Diskussion über einen politischen Ausgleich eine sehr weitgehende Bindung Englands. Bethmann Hollweg, als der formell verantwortliche Leiter der Reichspolitik, wie der Kaiser wollten sich nicht mit der englischen Neutralität im Falle eines unprovozierten Angriffs auf Deutschland begnügen, sondern forderten vielmehr von England – neben einem Deutschland adäquaten Kolonialreich – eine Neutralitätszusage, die nach einer von Kiderlen-Wächter ausgearbeiteten Formel¹¹ dahin lautete,

    »daß jeder der Vertragspartner, wenn er in einen Krieg mit einer oder mehreren Mächten verwickelt werden sollte, sich verpflichtete, zumindest eine wohlwollende Neutralität zu beobachten und für die Lokalisierung des Konflikts bemüht zu sein«.

    Diese von Deutschland verlangte gegenseitige vertragsmäßige Zusage hätte Deutschland freie Hand gegenüber Frankreich gegeben, da England sich auch aus einem von Deutschland provozierten Kontinentalkrieg hätte heraushalten müssen, ganz abgesehen davon, daß es durch ein so weitgehendes Versprechen seine eigenen Ententen, die in ihren Abmachungen weniger strikt waren, gefährdet hätte. Für England war es aber gerade – wie Haldane bereits im ersten Gespräch am 8. Februar gegenüber Bethmann Hollweg betonte und Nicolson in einer scharfsinnigen Stellungnahme wiederholte – wichtig, zu verhindern, daß Frankreich durch Deutschlands Macht erdrückt würde. Obwohl Haldane den Belgischen Kongo und Angola – es war die Rede von einem »Gürtel« deutschen Besitzes quer durch Afrika –, ferner Sansibar und Pemba sowie ein Entgegenkommen bei der Bagdadbahn anbot, ging Bethmann Hollweg nicht von der Forderung seiner Neutralitätsformel ab.

    Ganz in der Tradition preußisch-deutscher Geschichte stehend – schon Bismarck hatte 1879 die Bildung eines mitteleuropäischen Bundes abhängig gemacht von einer Zustimmung Englands, die dieses sicher geben würde – entwickelte der Kaiser zwei Tage nach der Haldane-Mission im Gespräch mit Walther Rathenau seine Ideen einer wirtschaftlichen Einigung des Kontinents zur Abwehr der amerikanischen Hochschutzzoll-Repressalien: »Sein Plan, Vereinigte Staaten von Europa gegen Amerika.«¹² Wenn auch offenbleiben muß, ob hier der Kaiser Rathenau inspiriert hat oder Rathenau mit seinen Ideen den Kaiser, Rathenau jedenfalls hat dieselben Gedanken kurze Zeit später in Hohenfinow (25.7.1912) dem Kanzler vorgetragen und die grundsätzliche Zustimmung Bethmann Hollwegs gefunden, wie er ausdrücklich bemerkt, auch wenn dieser vielleicht nicht so weit ging, die Annäherung Englands bis zu einem formellen Bündnis zu wünschen. Rathenau berichtet darüber:

    »Ich entwickelte: 1. Wirtschaft. Zollunion mit Österreich, Schweiz, Italien, Belgien, Niederlande etc., gleichzeitig mit engerer Association. 2. Äußere Politik. Ihr Schlüssel: der Konflikt Deutschland–Frankreich, der alle Nationen bereichert. Schlüssel: England. Heute Abrüstung unmöglich. Situation zunächst weiterspannen: – obgleich gefährlich –, ferner Englands Position im Mittelmeer verderben. Dann Bündnis. Ziel: Mittelafrika, Kleinasien.«

    Alle Generalpunkte deutscher »Weltpolitik« sind in diesem Gespräch vereinigt: Mitteleuropa, Mittelafrika und Kleinasien. Vor allem aber sind hier, im Juli 1912, die zwei Jahre später im September-Programm Bethmann Hollwegs 1914 wieder erscheinenden zwei Kernziele in Europa und Afrika genannt: Mitteleuropa und Mittelafrika.

    Der unvermeidliche Krieg

    Nachdem der Reichstag Mitte Mai die auf die Forderungen vom Herbst zurückgehende noch relativ bescheidene erste Heeresvermehrung (von 595000 auf 622000 Mann) am 10. Mai und die in der Haldane-Mission umstrittene Flottennovelle am 15. Mai angenommen hatte, womit Deutschland eine neue Rüstungswelle auslöste, machte der neue österreichische Außenminister Graf Berchtold vom 24. bis 26. Mai seinen Antrittsbesuch in Berlin. Das verbündete Österreich hatte, noch stärker als in Algeciras, während der zweiten Marokkokrise mit Sorge die sich zuspitzende Gegensätzlichkeit Deutschlands zu England und Frankreich registriert und durch seine Zurückhaltung Deutschland enttäuscht. Wegen der ganz anders gelagerten Interessen Österreich-Ungarns reagierte Berchtold sehr empfindlich auf die antiwestliche Stimmung in Berlin¹³:

    »Es ist dies in erster Linie das Bestreben, England durch diplomatische Mittel in eine prekäre Situation zu bringen, die es den deutschen Annäherungsversuchen gefügiger zu machen geeignet wäre. Daher die Förderung der italienischen Mittelmeerpolitik, die systematische Ignorierung der austro-italienischen Interessengegensätze in der Adria, ferner gehört hierher die allen Berechnungen der deutschen Außenpolitiker zum Ausgangs- und Schlußpunkte dienende Eventualität eines Zusammenstoßes mit Frankreich, eine Eventualität, auf welche die deutsche Diplomatie sozusagen ihr ganzes Kombinationstalent aufwendet, die aber bei uns, bei dem Mangel eines realen politischen Interessengegensatzes zwischen uns und Frankreich, keinem Verständnis begegnen kann.«

    Um die von Berchtold ausgesprochene Divergenz in den Zielen der beiden verbündeten Mächte voll zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Deutschland seit dem Ausgang der zweiten Marokkokrise, also seit Ende 1911, in Rom um die vorfristige Erneuerung des Dreibundes verhandelte. Sein Ziel war dabei, Italien in doppelter Weise als Faktor in der erwarteten Auseinandersetzung mit Frankreich und Rußland einzusetzen: Einmal sollten die italienischen Divisionen französische Streitkräfte an der Alpenfront binden (1912 wurde sogar über die Entsendung dreier italienischer Korps in das Oberelsaß im Kriegsfall Abrede getroffen), um die Deutschen beim Zusammenstoß mit Frankreich zu entlasten; zum andern aber hoffte Deutschland, durch eine Verstärkung der italienischen Position im Mittelmeer einen Druck auf England ausüben zu können, um England an den Dreibund heranzuziehen und auf diese Weise zu neutralisieren.

    Anders als für Deutschland lagen Österreich-Ungarns primäre Interessen im Südosten. Seit der Annexion Bosniens und der Herzegowina 1908/09 war die südslawische Bewegung eine ständig zunehmende Bedrohung für die Existenz der Donaumonarchie, was um so bedrohlicher war, als die russische Politik, der Tradition Rußlands als Beschützer der slawischen Völker folgend, jene Bewegung als Vehikel ihrer imperialen Bestrebungen benutzte.

    Die überraschenden Siege der Balkanstaaten (Bulgarien, Serbien, Griechenland) gegen die Türkei im sogenannten ersten Balkankrieg Oktober/November 1912 ebenso wie im Jahr vorher der Sieg der Italiener in Tripolis erweckten den Eindruck, besonders in Paris, daß damit auch die deutsche Rüstung und Strategie eine empfindliche Schlappe erlitten habe, war doch die türkische Armee von deutschen Offizieren erzogen und von deutschen Firmen ausgerüstet worden – man sprach vom Sieg Creuzots über Krupp. Dies hatte die kriegerische Stimmung im Frankreich Poincarés gestärkt. Auch auf Rußland, den Protektor des Balkanbundes, wirkte der türkische Zusammenbruch zurück. Serbien, dessen Selbstbewußtsein nicht minder gestiegen war, forderte einen Zugang zur Adria. Österreich-Ungarn war zwar bereit, einer Vergrößerung Serbiens zuzustimmen, keinesfalls aber wollte es seine Festsetzung an der Adria dulden und forderte darüber hinaus die Konstituierung eines »selbständigen« Albaniens. Aus dem Krieg gegen die Türkei drohte sich ein Krieg Serbiens gegen Österreich-Ungarn zu entwickeln, der die Gefahr in sich barg, daß die zwei Gruppen der Großmächte in einen gesamteuropäischen Krieg gezogen würden. In dieser angespannten Situation ergab sich ein Zusammenspiel von England und Deutschland. Beide waren um einen Ausgleich bemüht auf der Botschafterkonferenz, die Anfang Dezember 1912 in London zusammentrat.

    Während Bethmann Hollweg¹⁴ sicher war, daß ein über dem Balkan ausbrechender Krieg mit Rußland auch einen Krieg mit Frankreich bedeuten würde, schien es ihm am 18. Dezember, einen Tag nach Beginn der Londoner Konferenz, »nach vielfachen Anzeichen zum mindesten zweifelhaft, ob England aktiv eingreifen würde, wenn Rußland und Frankreich direkt als die Provozierenden erschienen«; er glaubte, daß, sofern Deutschland seinerseits jede Provokation vermeide, England vielleicht zugunsten eines »niedergeworfenen Frankreich (erst) nachträglich – zunächst wohl diplomatisch – eintreten würde«. Diese Kombination zeigt die Kontinuität im Denken Bethmann Hollwegs von 1912 an bis hin zum Juli 1914, wo es ihm weniger um die Erhaltung des Friedens als vielmehr um die Belastung Rußlands mit der Kriegsschuld ging, weil seine Politik auf der Vorstellung basierte, England werde jedenfalls zunächst aus einem Kontinentalkrieg herauszuhalten sein, wenn Rußland als der Provozierende erscheinen würde. Außerdem würde in einem solchen Falle das verbündete Österreich mit Sicherheit auf Deutschlands Seite stehen.

    Der Gedanke, daß auf diese Weise Frankreich von Deutschland zumindest im Anfang eines Krieges ohne ein Eingreifen Englands niedergeworfen werden könnte, widersprach – genauso wie im Juli 1914 – den Warnungen Lichnowskys aus London (der Anfang November 1912 sein Amt antrat). Gerade im Hinblick auf den möglichen serbisch-österreichischen Konflikt und damit eine europäische Konflagration hatte Grey ausdrücklich durch Haldane wiederholen lassen¹⁵, daß die englische Politik, um »das Gleichgewicht der Gruppen einigermaßen aufrechtzuerhalten, unter keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen dulden könne«, und wenige Tage später (am 9. Dezember), als sich Grey beunruhigt zeigte durch Bethmann Hollwegs Reichstagsrede, in der dieser von »Bündnistreue« und »fechten« gesprochen hatte, formulierte Lichnowsky Greys Gedanken mit den Worten, daß

    »Englands Politik uns gegenüber eine friedliche und freundschaftliche ist, daß aber keine britische Regierung es mit den Lebensinteressen des Landes vereinbar halten würde, eine weitere Schwächung Frankreichs zuzulassen«.

    Das britische Volk werde sich unter allen Umständen dagegen schützen, daß es nach einem zweiten Zusammenbruch Frankreichs wie 1870 »einem einzigen, übermächtigen festländischen Machtfaktor sich gegenüber befinden würde«. Und wenig später hieß es: »England könne und wolle sich nicht nachher einer einheitlichen kontinentalen Gruppe unter Führung einer einzigen Macht gegenübersehen.«

    Die Marginalien des Kaisers zu diesen Berichten und die Konsequenzen, die er aus ihnen zog, zeigten, daß Wilhelm II. von vornherein England auf seiten von Frankreich und Rußland im Kriege sah, trotzdem aber zur kriegerischen Auseinandersetzung auch unter dieser Konstellation bereit war. Sein Kommentar zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts lautete: »Wird sich ändern!«, zur Warnung, daß die Engländer die Niederwerfung der Franzosen nie dulden würden: »Sie werden es doch müssen.« Den kommenden Krieg betrachtete der Kaiser als den »Endkampf der Slaven und Germanen«, der »die Angelsachsen auf seiten der Slaven und Gallier« finden werde.

    »England wird aus Haß und Neid gegen Deutschland unbedingt Frankreich und Rußland beistehen. Der ev. Existenzkampf, den die Germanen in Europa (Österreich, Deutschland) gegen die von Romanen (Gallier) unterstützten Slaven (Rußland) zu fechten haben werden, findet die Angelsachsen auf der Seite der Slaven … Grund: Neidhammelei, Angst unseres Zugroßwerdens¹⁶!«

    Der Kaiser hielt eine dauernde Lösung für unmöglich:

    »Cap. 2 der Völkerwanderung ist geschlossen. Cap. 3: kommt der Kampf der Germanen gegen Russo-Gallien um ihre Existenz. Das kann keine Conferenz mehr lindem, weil das keine große politische, sondern eine Rassenfrage ist … Denn es handelt sich um Sein oder Nichtsein der germanischen Rasse in Europa.«

    Die Überzeugung des Kaisers vom Rassengegensatz der Russo-Gallier gegen die Germanen¹⁷, der den aktuellen politischen Konflikten zugrunde liege, wurde von seinem Generalstabschef, Helmuth von Moltke¹⁸, dem von Gerhard Ritter eine »grundsätzliche Friedensliebe« zugesprochen wird, geteilt; als im Winter 1912/13 Österreich-Ungarn gegen eine mögliche Vergrößerung Serbiens zur Adria hin mobilisierte, warnte zwar Moltke in einem Brief vom 10. Februar 1913 seinen österreichischen Kollegen Conrad, der zum Präventivkrieg drängte, vor einem solchen Schritt zu diesem Zeitpunkt, weil er zum Weltkrieg führen würde, ein »Krieg der Nationen« aber nur geführt werden könne, wenn die Regierungen auf das volle Verständnis der Völker zählen könnten. Moltke ist dennoch

    »nach wie vor der Ansicht, daß ein europäischer Krieg über kurz oder lang kommen muß, in dem es sich in letzter Linie handeln wird um einen Kampf zwischen Germanentum und Slawentum. Sich hierauf vorzubereiten, ist Pflicht aller Staaten, die Bannerträger germanischer Geisteskultur sind. Der Angriff muß aber von den Slawen ausgehen. Wer diesen Kampf kommen sieht, der wird sich darüber klar sein, daß für ihn nötig ist die Zusammenfassung aller Kräfte, die Ausnutzung aller Chancen, vor allem aber das volle Verständnis der Völker für die weltgeschichtliche Entwicklung.«

    Diesen Überlegungen entsprechend hatte der Kaiser bereits am 8. Dezember 1912 in einer Besprechung der »militärpolitischen Lage¹⁹« bestimmte Anweisungen über Presseaktionen gegeben, in denen er die propagandistische Mobilisierung des eigenen Volkes forderte: Bei einem aus dem serbisch-österreichischen Konflikt resultierenden »Ausbruch eines großen europäischen Krieges« müsse das Volk »schon vorher« aufgeklärt sein, für welche Interessen es zu kämpfen habe, damit es »mit dem Gedanken an einen solchen Krieg vertraut gemacht« werde.

    Die Jahrhundertfeiern des Jahres 1913, beginnend mit der Erinnerung an den Aufruf »An mein Volk« bis zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals im Oktober können durchaus als Realisierung dieser Befehle gesehen werden, ebenso der militärische Charakter der Feiern zum 25jährigen Regierungsjubiläum des Kaisers im Juni des Jahres 1913. Das Empfinden der nationalen Kreise fand seinen prägnantesten Niederschlag in Bernhardis Buch »Deutschland und der nächste Krieg«, das 1912 erschien und 1913 bereits in 6. Auflage vorlag. Das Buch, von der deutschen Geschichtsschreibung gemeinhin als Ausstreuung eines disziplinlosen Alldeutschen abgetan und in weiter Distanz zu den Plänen sowohl des Generalstabes als auch der Reichsleitung gesehen, trifft mit großer Präzision die Intentionen des offiziellen Deutschland, wenn der Verfasser die Summe seiner Überlegungen und Forderungen zusammenfaßt unter der Überschrift »Weltmacht oder Niedergang«. Den Durchstoß Deutschlands zur Weltmacht sieht Bernhardi in drei Punkten gesichert: 1. Ausschaltung Frankreichs: Frankreich muß »völlig niedergeworfen werden, daß es uns nie wieder in den Weg treten kann« – eine Formulierung, die fast wörtlich auf das wenige Wochen nach Kriegsausbruch aufgestellte September-Programm Bethmann Hollwegs hinweist. 2. Gründung eines mitteleuropäischen Staatenbundes unter Deutschlands Führung. Bernhardis Erwartung, daß die kleineren Staaten, »die schwächeren Nachbarn«, den Schutz der deutschen Waffen und den »Anschluß an Deutschland« suchen würden, wird im Krieg von weiten Kreisen der deutschen Reichsspitze geteilt. Seine Forderung, daß sich der Dreibund zu einem mitteleuropäischen Bunde erweitern müsse – eine Machtkonzentration, die zugleich ein Abgehen von dem Prinzip des europäischen Gleichgewichts bedeute –, wird ebenso Maxime des deutschen Handelns werden. Und schließlich 3. Deutschlands Ausbau als Weltmacht durch Gewinnung neuer Kolonien. Im Einklang stehend mit den führenden Historikern, Nationalökonomen, den tätigen Wirtschaftsführern sowie den Leitern der »Weltpolitik«, formuliert Bernhardi seine letzte Forderung: »Nicht um ein europäisches Staatensystem kann es sich heute handeln, sondern um ein Weltstaatensystem, in dem das Gleichgewicht auf wirkliche Machtfaktoren aufgebaut ist.« Dies sieht er gewährleistet durch »eigene Kolonien und überwiegenden politischen Einfluß in den Abnehmerstaaten«. Weltmacht ist ihm auch zugleich

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