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Die schlafenden Farben
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Ebook284 pages3 hours

Die schlafenden Farben

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Der Roman ist eine Hommage auf das vorwiegend im 17. Jahrhundert beliebte Genre des Schelmenromans.
Ende des 19. Jahrhunderts stolpert ein ehrgeiziger Hochstapler, dessen wahrer Name niemals genannt wird, von einem Abenteuer ins andere. Derb, elegant und oft äußerst delikat sind seine Erlebnisse, die ihn von Paris über die Schweiz letztlich nach Wien bringen.
Die Erzählung ist voll überraschender Wendungen und besitzt, ganz im Stil ihrer traditionellen Vorgänger, eine inhaltlich charakteristische Struktur als zeitloses Sittenbild des menschlichen Miteinanders mit all seiner Dünkelhaftigkeit und all seiner Schönheit.

Alfred Polansky ist ein österreichischer Autor, Komponist, Konzertgitarrist und Lautenist. Lebt in Wien und Debrecen.

Es handelt sich um eine aktualisierte Auflage! (14. Februar 2016)
LanguageDeutsch
Release dateApr 20, 2015
ISBN9783990414521
Die schlafenden Farben

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    Die schlafenden Farben - Alfred Polansky

    Alfred Polansky

    Die schlafenden Farben

    Von Geöffnetem und Geschlossenem

    (Roman)

    Copyright © 2015 Der Drehbuchverlag, Wien

    Alle Rechte vorbehalten

    eBook: Die schlafenden Farben - Von Geöffnetem und Geschlossenem (Roman)

    ISBN: 978-3-99041-452-1

    Inhaltsverzeichnis

    I. Prolog

    II. Madame Bracquemond

    III. Hakennase und das makabere Modeensemble

    IV. Auf Beschaffungstour

    V. Die Begegnung

    VI. Die Abfahrt. Niki Lanar. Béla Földren

    VII. Erstaunlicher Triumph

    VIII. Die Annäherung

    IX. Die hochmütige Löwin und andere Unverfrorenheiten

    X. Die mysteriöse Geschichte des Meldereiters

    XI. Grausame Vorführungen und andere Genüsse

    XII. Auf Beobachtungsposten

    XIII. Im Wald. Doppeltes Verhör.

    XIV. Eine weitere Begegnung

    XV. Befreiung und Flucht. Bertrands Offenbarung. Argwohn.

    XVI. Genf. Madame Fleureaux.

    XVII. Laura Fleureaux. Die Falle.

    XVIII. Im Rausch der Zugeständnisse

    XIX. Elisalex Fleureaux. Das Wiedersehen. Schmerzhafte Demaskierungen.

    XX. Ein Mord. Inspektor Häutinger.

    XXI. Der tückische Plan und sein Anfang

    XXII. Ein Plan biegt ab. Ansteckungsgefahr.

    XXIII. Jurij und die Abstellkammer

    XXIV. Die Untersuchung der Elisalex Fleureaux

    XXV. Fluchtvorbereitungen. Die Zauberkutsche.

    XXVI. Sonderbare Kunststücke. Weitere Begegnung. Wien.

    XXVII. Dvorak

    XXVIII. Beim Heurigen. Julius Felix und Mizzi Caspar. Die Einladung.

    XIX. Die Fahrt zurück in die Stadt

    XXX. In der Heumühlgasse. Gewichtige Denunziationen. Strenge Erziehung.

    XXXI. Traumhafte Begegnung. Das leere Duell.

    XXXII. Mizzi, der Kronprinz und ich

    XXXIII. Mayerling. Eine schreckliche Nachricht. Bratfisch und Zwerger.

    XXXIV. Schloss Schönbrunn. Die Kaiserin und Graf Taaffe.

    XXXV. Baronin Vetsera. Das Drama von Mayerling.

    XXXVI. Begräbnis. Baron Bergamenter.

    XXXVII. Verlorene Liebe. Polizeikommissar Piloty.

    XXXVIII. Die Huldigung. Melancholie.

    XXXIX. Epilog: Die Fürstin von Hohenberg. Der neue Innenminister.

    I. Prolog

    1888 war kein gutes Jahr. Zumindest bis zu jenem Tag im August, ich glaube, man schrieb damals den zweiten, als es leise und vorsichtig an meiner Tür klopfte. Ich hatte mich seinerzeit in einer billigen Dachkammer in der Rue de Belleville am Stadtrand von Paris eingemietet und harrte ängstlich meiner Zukunft, die, sollten sich meine Angelegenheiten weiterhin so übel gestalten wie bisher, mehr als aussichtslos zu werden versprach. Diese elende Vision war die einzige Sicherheit, die ich noch besaß, und so kann man verstehen, dass ich voll verwirrtem Neid und Eifersucht die beiden Schaben betrachtete, wie sie unbeschwert und sorglos in mysteriöser Einigkeit am Fußboden kriechend den Raum durchquerten, um schließlich in irgendeiner dunklen Ritze zwischen Wand und Parkett zu verschwinden. Weg waren sie. Lediglich dieses lästige Pochen war noch zu hören, immer wieder, als wolle jemand partout nicht wahrhaben, dass ich um nichts in der Welt gewillt war, die Tür zu öffnen.

        Klopf, klopf, klopf. Argwöhnisch verstört vor dem, was dieses trostlose Pumpern in sich barg, kaute ich nervös an meinen Fingernägeln. Nein, ich werde ganz sicher nicht aufmachen, räudige Welt! Was kannst du mir denn schon bringen außer düsteres Grausen und Kälte, dachte ich. Von beiden hatte ich bereits mehr als genug. Gerade du solltest das wissen. Also, verschwinde.

        Klopf, klopf, klopf. Ja, da wollte mir wohl irgendjemand ausführlich seine Halsstarrigkeit darlegen. Was für ein bedrängendes Schicksal sich doch an diesem Morgen meiner fürsorglich annahm, schoss es plötzlich bitter durch meinen Kopf. Trotzdem, Ohren anlegen! Was soll’s? Bis zum heutigen Tag hatte das immer noch funktioniert.

        Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war es da, dieses erbarmungslos deutliche Stimmchen. 

        „Herr Marquis!, hechelte nervös das Dienstmädchen durch die Tür. „Ihr Onkel und Ihre Tante sind hier. Wollen Sie nicht aufmachen und runterkommen?

        Ich dachte nicht daran. Weder war ich Marquis, noch hatte ich Onkel und Tante. Was sollte das also? Mir wurde sofort klar, dass dies eine Falle war und musste grimmig auflachen. Aber so einfach würde ich mich meinen Gläubigern, oder wem auch immer, nicht ausliefern. Nicht mit mir, meine Herren! Mit einem entschlossenen Satz sprang ich aus dem Bett, lief zum Fenster und öffnete, so lautlos es sich bewerkstelligen ließ, beide Flügel. Niemand war auf der Straße zu sehen. Gut, dachte ich. Sehr gut. Leise fuhr ich nun in meine Schuhe, warf mir den Rock über und stieg schleunig durchs Fenster, hinaus aufs Dach. Ich musste nach ein paar unsicheren Schritten wohl ausgerutscht sein, denn plötzlich verlor ich das Gleichgewicht, und obwohl ich hektisch versuchte, mich an der einen oder anderen Unebenheit festzuhalten, glitt ich machtlos dem Dachrand entgegen, dessen erfolgreiche Überwindung eigentlich den freien Fall eröffnen sollte, wäre da nicht diese schlampig montierte Dachrinne gewesen. Mit dem Kragen meines Rocks blieb ich nämlich am oberen Ende daran hängen, als sie sich unerwartet aus der Verankerung löste und unter dem Einfluss meines stattlichen Gewichts langsam nach vorne zu knicken begann. Beinahe würdevoll transportierte mich dieser rostige Abfluss nach unten und blieb schließlich, etwa zwei Meter über der Straße, mitten in der Bewegung, krächzend stehen.

        Endstation. Ja, aber für wen? Wie ein anstelliger Köder begann ich augenblicklich zu zappeln und zu strampeln, was die verhängnisvolle Situation, in der ich mich befand, jedoch in keiner Weise verbesserte. Meine, im wahrsten Sinn des Wortes, verhängnisvolle Stellung schien hoffnungslos, zumal sich schon bald eine Tür öffnete und zwei vage Figuren heraustraten, die sich mir argwöhnisch näherten. Die düsteren Schemen blieben stehen und starrten mich mit ihren Halunkenvisagen unverwandt an. Als sie allerdings meiner schaukelnden Not gewahr wurden, fingen beide an frech zu grinsen.

        „Aha, sagte der Eine und dehnte diese lakonische Bekundung unerträglich lang aus. „Der Herr Marquis.

        Der Andere, ein ähnlich übler Ganove wie sein Kumpan, nickte nachdenklich. „Ob er uns jetzt wohl eine Audienz gewährt?", fragte er und begann, während er so spöttisch sprach, mir, der ich nach wie vor hilflos wie eine Fahne im Wind vor ihm hing, die Stiefeletten auszuziehen. Er betrachtete sie eine zeitlang äußerst skeptisch, bog sie überdies in alle Richtungen, um ihre Geschmeidigkeit festzustellen, roch sogar daran und warf sie schließlich verächtlich seinem Begleiter zu.

        „Die passen wohl eher deiner Tante, meinte er und blickte böse lächelnd zu mir hoch. Doch dann schien ihn ein genialer Gedanke zu überkommen, und so nickte er mit seinem Kopf gebieterisch dem Gefährten zu. „Komm her, hilf mir.

        Die unrasierte Tante schlurfte nun näher. Als die windige Gestalt direkt unter mir zu stehen kam, steckte sie beide Pranken zu einer Art Räuberleiter zusammen und hievte damit den Kumpan, der diesen Dienst auf der Stelle gekonnt in Anspruch nahm, zu mir hoch. Nun befand sich dieser Elende mit mir Aug’ in Aug’. Schon wollte ich aufschreien, wobei Entsetzen und Empörung sich dabei die Waage hielten, da stockte mir plötzlich angewidert der Atem, denn dieser dreiste Kerl stank aus allen Poren nach Schweiß und billigem Fusel. Mir schwanden beinahe vor Abscheu die Sinne, und so begann ich mit meinen Händen wie wild herumzufuchteln. 

        „Halt still, du Lump", bemerkte der Räuber beiläufig, als er meine Hosen- und Rocktaschen durchsuchte. Er fand ein paar Centimes, die ich gestern Abend geschickt der Wirtstochter entwendet hatte, als diese mir den Wein auf den Tisch stellte. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte ich resigniert und merkte aus lauter Selbstmitleid vorerst gar nicht, wie ich mich langsam aus dem Rock, dessen vermaledeiter Kragen ja noch immer an der abgeknickten Dachrinne verheddert war, löste.

        Doch trotzdem war es so. Ich rutschte also kurz darauf mit einem erlösenden Ruck, zur Überraschung aller, jäh aus der fatalen Fixierung heraus und fiel wie ein Stein nach unten, direkt auf die Zehen des einen Schurken, welcher nun schmerzhaft verwundert seine ineinander verschlungenen Arme löste und somit folglich den Körper desjenigen, der mich eben erst in luftiger Höhe genüsslich beraubte, dem freien Fall preisgab. Die beiden Galgenvögel krachten augenblicklich mit ihren Schädeln ungeschickt zusammen und blieben halbtot auf der lehmigen Straße liegen. Ich musterte sie misstrauisch und wartete. Vorsichtig stieß ich sie schließlich nach geraumer Zeit mit meinen Zehenspitzen an, und als ich merkte, dass keiner der beiden sich rührte, raubte ich sie aus, was so viel bedeutete, dass ich ihnen alles abnahm und ihre nackten Körper einfach an Ort und Stelle zurückließ. So ist das nun einmal, meine Herren! Pech gehabt! Die Gesetze der Straße sind eben rau.

        Mit der Kleidung der beiden in Händen lief ich nun etwa eine halbe Stunde wie von Furien gehetzt durch Gassen und Straßen, hastete quer über Plätze und über Brücken, nur, um weit genug vom Ort dieses an sich triumphalen Ereignisses entfernt zu sein, welches mir aber andererseits, sollte man meiner doch noch habhaft werden, durchaus zum Nachteil gereichen konnte. Folglich gab ich einmal noch ordentlich Fersengeld. Als ich mich endlich in Sicherheit wähnte, blickte ich mich keuchend um und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass ich mich vor den Eingangstoren des Cimetière du Père Lachaise befand. Dieser riesige Friedhof kam wie gerufen, um die Beute, die ich nach wie vor mit meinen zitternden Händen fest an mich presste, in aller Ruhe zu begutachten.

    II. Madame Bracquemond

    Eigentlich war ich sehr zufrieden. Man konnte das Spektakel drehen und wenden, wie man wollte, das nüchterne Resümee blieb bestehen: ich überwältigte und beraubte die jämmerlichen Schergen meiner Gläubiger, am Vorabend bestahl ich in der Herberge die Wirtin und bezahlte schließlich, was man nicht unterschätzen sollte, meine Zimmermiete nicht. Eine vom Schicksal gemarterte Existenz, wie ich nun einmal eine war, konnte sich keinesfalls mehr an den Wertidealen eines selbstgerechten, satten Bürgertums orientieren. Die Verzweiflung, so behaupte ich, erschafft eigene Träume und einen eigenen Stolz, und die trostlose, erzwungene Intimität mit Not und Elend, welche die Pforten der Hölle sichtbar macht, erzeugt einen verhängnisvollen Fatalismus, der sehnende Helden und erhabene Kämpfer gebiert. Die Gebote echter Finsternis sind nämlich anders als diejenigen heuchlerischen Scheinens. Obwohl mir momentan klar wurde, dass ich trotz aller eigennützigen Erfolge nun die Stadt verlassen musste, konnte ich nicht umhin zu lächeln. Was für ein Tag, und er begann erst!

        Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, setzte ich mich auf den gemauerten Rand eines Grabes und betrachtete ausgiebig meine neue Habe. War das ein Fang! Speziell dieses Paar Stiefel hatte es mir besonders angetan, denn abgesehen davon, dass die ledernen Langschäfte bis ins kleinste Detail wunderbar verarbeitet waren, passten sie mir noch dazu ausgezeichnet.

        Und dann war da noch eine nicht unbeträchtliche Menge an Bargeld. Mich überkam auf der Stelle ein wohliges Zittern, und so blickte ich dankbar zum Himmel. Mir war durch Gottes Hilfe anscheinend das gesamte Jahressalär dieser Schurken in den Schoß gefallen, schoss es mir durch den Kopf. Danke vielmals, wohl bekomm’s! Ich, auf jeden Fall, konnte es gut gebrauchen. Sorgfältig verstaute ich nun meinen neuen Reichtum in den Hosentaschen, aber auch teilweise in meinen Strümpfen. Die übrige Kleidung, die, bedingt durch die absente Hygiene ihrer niederträchtigen Vorbesitzer, eigentlich nicht mehr als muffige Fetzen war, warf ich samt meinen alten, ausgetretenen Stiefeletten in ein offenes Grab.

        „Was soll denn das?", rief zu meiner Überraschung plötzlich eine Stimme aus der Grube. Ich beugte mich vorsichtig über deren Rand und spähte hinein, aber so sehr ich mich auch bemühte, konnte ich niemand darin entdecken. Als ich erstaunt wieder den Kopf hob, bemerkte ich freilich meinen Irrtum, denn auf der anderen Seite der Gräberreihe nahm ich eine Dame wahr, wie sie verzweifelt mit einem öligen Strolch zu kämpfen hatte, der versuchte, ihr das Ridicule zu entreißen. Er zog und zerrte an ihrer Handtasche, schnaubte dabei wie ein Ross, und als er durch die heftige Gegenwehr seines Opfers endlich die Ausweglosigkeit seines gemeinen Unterfangens kapierte, ließ er von dem Frauenzimmer ab und lief davon. Im gleichen Augenblick trat ich engelsgleich zwischen den Grabsteinen hervor und somit in das Leben von Madame Bracquemond, die sich entzückt dazu hinreißen ließ, mich als ihren Retter zu betrachten.

        „Sie schickte der Himmel, Monsieur!", rief sie, und deutete mit ihrem Schirmchen dem flüchtenden Halunken nach.

        Die Chancen standen gut, denn das Weib schien ganz allein zu sein. Mir waren momentan wohl die Sterne nicht schlecht gesinnt. Diese schicksalhafte Glückssträhne, in welcher ich mich offensichtlich nach langen Jahren ungeduldigen Wartens befand, machte mich ziemlich keck. Ich trat also auf sie zu, um das Werk des dilettierenden Stümpers von vorhin zu vollenden, als Madame hinter mir jemanden bemerkte, dem sie nun aufgeregt zuwinkte. Sofort ließ ich erschrocken von meinem frivolen Vorhaben ab und legte beruhigend meine Hände auf ihre Schulter.

        „Madame, sprach ich mit noblem Pathos, „stets zu Diensten!

        In diesem kurzen Moment der Nähe, als ich ihr Gesicht betrachtete, wurde ich jäh ihrer Schönheit gewahr. Ich schluckte betreten. Sie war zwar nicht mehr jung, so Mitte vierzig schätzte ich, aber die Anmut ihrer Züge, die Sanftheit ihres Blickes, der milde Liebreiz ihrer Stimme, all das hatte mich verzaubert.

        „Madame, wiederholte ich wie hypnotisiert, „stets zu Diensten.

        „Das haben Sie doch schon einmal gesagt", lachte sie auf, und ihre Äugelein funkelten mich heiter an.

        Mittlerweile war auch jenes Individuum keuchend bei uns eingetroffen, dessen ungünstiges Erscheinen meinen ursprünglichen Plan zunichte gemacht hatte. Aber das störte mich nun nicht mehr, zu sehr war ich von der Harmonie zwischen dem, was ich sah, und dem, was ich fühlte, betört. 

        „Marie, meine liebe Marie, ich bin untröstlich", japste der ältere Herr und nahm erschöpft seinen Hut ab.

        „Das war meine Schuld, Charles, erwiderte Madame, „ich bin ja viel zu früh hier gewesen.

        „Und sogleich in die Hände von räuberischem Gesindel und Lumpen gefallen!"

        „Ja, aber dafür durfte ich auch einen Helden kennen lernen, mein lieber Charles." Sie wendete graziös ihr Haupt, und in ihren Blicken, mit denen sie mich nun gnädig bedachte, merkte ich eine tiefe Dankbarkeit.

        „Madame, stets zu Diensten", hörte ich mich erneut, diesmal jedoch verlegen, stottern.

        „Aber, aber, mein Held! Jetzt müssen Sie schon mehr von sich geben", tadelte mich Madame neckisch.

        „Verzeih, Marie, wenn ich mich einmische, aber zuvor, so glaube ich, bin ich an der Reihe." Der älter Herr verneigte sich höflich vor mir und zeigte elegant auf Madame.

        „Namenloser Monsieur und Heroe. Da Sie es bis jetzt nicht machten, erlaube ich mir, den ersten Schritt zu tun. Darf ich Ihnen hiermit die zauberhafte Madame Marie Bracquemond vorstellen? Ihres Zeichens eine wahre Göttin! Unübersehbar! Aber was rede ich denn da für Unsinn, das alles haben Sie ja sicherlich schon bemerkt, nicht wahr?"

        Unwillkürlich musste ich nicken.

        „Meine Wenigkeit nennt sich Charles Chaplin, seines Zeichens unwürdiger Adorant."

        „Aber Charles, lachte Madame Bracquemond herzlich auf, „du bist wirklich unverbesserlich! Was soll sich denn Monsieur nur denken?

        „Wenn wir seinen Namen wüssten, könnten wir ihn ja eventuell danach fragen!", entgegnete Monsieur Chaplin und vollführte mit seinen Armen schwungvoll ratlose Bewegungen.

        Auch ich war momentan etwas perplex, einerseits der launigen Leichtigkeit der Sprache wegen, welcher sich der alte Bonvivant ironisch bediente, andererseits aber auch aufgrund der begierig direkten Anfrage um meine Identität.

        Ich blickte fahrig zu Boden und sah, wie meine Füße in den kürzlich eroberten, wertvollen Stiefeln steckten, ein Umstand, der mich blitzartig wieder beruhigte und welcher mich nun geradewegs in den glorreichen Zirkel der Aristokratie aufsteigen ließ. 

        Kurz räusperte ich mich, nahm Haltung an und neigte blasiert grüßend mein Haupt in Richtung meiner beiden neuen Bekannten.

        „Nix, sagte ich umgehend, „Freiherr von Nix. Es war mir eine Ehre, Madame behilflich sein zu dürfen.

        „Freiherr von Nix?, grübelte Monsieur Chaplin argwöhnisch. „Darf ich fragen, woher Sie kommen?

        „Ich? Aus Österreich", antwortete ich leichthin. Dies war das Einzige, was an mir stimmte. Ich stand da und blickte ihm stolz in die Augen. Warum zweifelte dieser alte Kretin an meinen Angaben, dachte ich mir aber insgeheim und spürte plötzlich, wie eine gewisse Verzagtheit mein Herz erfasste, ein kaltes Zittern, das nichts Gutes verhieß. Jetzt war es ratsam, rasch zu handeln, und so startete ich eilig die Flucht nach vorne.

        „Was treibt denn Sie zu so früher Stunde an so einen ernsten Ort?" Ich stellte diese Frage mit nasalem Klang und versuchte mich dabei in einem gnädigen Lächeln. Dies alles vollführte ich in der listigen Absicht, eine gepflegte Langeweile zu übermitteln, lediglich eine höfliche Konvention, die auch von meinem Gegenüber als solche verstanden werden sollte.

        „Mein Grab, antwortete Monsieur Chaplin, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. „Ich habe vor kurzem hier meine künftige Grabstätte erworben, wissen Sie, und wollte Madame Bracquemond um Rat bezüglich deren Lage fragen.

        „Aha". Mir blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.

        „Ja, bekräftigte die Dame seine Ausführung. „Und Sie? Was treibt denn Sie an so einen ernsten Ort, Herr Baron? Als Ausländer noch dazu.

        Obwohl mir immer unbehaglicher in meiner Rolle wurde, antwortete ich in festem Ton. „Ich wollte Sie retten, Madame!"

        „Oh, wie charmant", rief sie aus. Ihr Begleiter jedoch, welchem ich offensichtlich ziemlich fragwürdig vorkam, zog skeptisch die Augenbrauen zusammen.

        Marie Bracquemond schien das wenig zu kümmern. „Ist das auch wirklich wahr?", fuhr sie übermütig fort, und ihre Augen blitzten mich fröhlich an.

        „So wahr ich hier stehe, Madame." Ohne rot zu werden, beugte ich mich galant nach vor, nahm ihr zartes Händchen und bedachte dieses mit einem formvollendeten Kuss.

        „Ich befürchte, unter diesen flatterigen Umständen kommt eine ernsthafte Besichtigung meines künftigen Domizils nicht in Frage, Marie. Monsieur Chaplins überaus gespreizte Anmerkung samt Stimme klang recht eingeschnappt. „Der Herr Baron wird dich sicherlich nach Hause begleiten, denn ich bin unabkömmlich, habe noch ein geschäftliches Treffen. Adieu! Er machte nun unversehens kehrt und verschwand eiligen Schrittes zwischen den Grabsteinen.

        „Er ist immer so schrecklich empfindlich, sagte Madame Bracquemond, nachdem sie ihm eine zeitlang nachgeblickt hatte. „Armer Charles.   Bekümmert schüttelte sie den Kopf.

        Mein Herz pochte wie wild. Die Dame schien eindeutig eine gewisse Empfänglichkeit meinem affektierten Getue gegenüber zu haben, sei es wegen meines ersonnenen Adelsprädikats oder meines elegant distanzierten Benehmens oder wegen beidem. Letzten Endes war mir das auch egal. In diesem Augenblick beschloss ich, die Gunst der Stunde mit beiden Händen zu ergreifen, und so heuchelte ich aufrichtiges Interesse an ihrer Person vor, um mich dadurch bei ihr einzuschmeicheln. Meiner Karriere als Hochstapler, dessen war ich mir jetzt sicher, stand nichts mehr im Wege.

        „Madame blicken so traurig. Darf ich fragen, ohne aufdringlich zu wirken, in welchem Verhältnis Sie zu diesem Herren stehen?"

        Langsam hob sie den Kopf und lächelte mich an. „In einem durchaus freundschaftlichen. Monsieur Chaplin war mein Lehrer."

        „Lehrer?"

        „Ja. Er ist Maler und ein begnadeter Kupferstecher."

        Ich war erstaunt. „Ja, aber …? Brachte er Ihnen gar die Techniken der Kupferstecherei bei?"

        „Nein, mein Herr, antwortete sie entrückt, „die der Malerei.

        „Madame sind doch keine Künstlerin?" Vorsichtig sah ich sie von der Seite an. Das hätte mir gerade noch gefehlt, einer mittellosen Malerin, bei der es nichts zu erben gab, den Hof zu machen. Andererseits war sie von durchaus begehrenswerter Schönheit. Ich saß also zwischen zwei Stühlen.

        „Doch, erwiderte sie leise. „Haben Sie schon einmal etwas von Degas, Renoir oder Monet gehört, Monsieur le Baron?

        Ich schluckte. „Ehrlich gestanden, muss ich diese Frage verneinen."

        „Und Gauguin?"

        „Auch dieser Begriff ist mir fremd. Worum handelt es sich dabei? Dem Klange nach dürfte es sich dabei um Ortschaften und Dörfer handeln, wonach Sie mich fragen, Madame Bracquemond? Ich, als

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