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Glory: Das längste Pferderennen der Welt
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Ebook397 pages5 hours

Glory: Das längste Pferderennen der Welt

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About this ebook

Eine extreme Herausforderung an Mut und Reitkunst führt zwei zusammen, die sich sonst nie begegnet wären: Alexandra aus England und Will aus Tennessee. Für beide hängt alles davon ab, das »Glory«, diesen 1200-Meilen-Marathonritt von Colorada nach Idaho, zu gewinnen. Aber es fällt ihnen immer schwerer, sich als Rivalen zu fühlen … Für die sechzehnjährige Alex, die von ihren Eltern als Erziehungsmaßnahme in ein Bootcamp am Rande der Rocky Mountains geschickt wird, gibt es nur einen Gedanken: Flucht – mit einem Pferd. Aber wie weiter? Zufällig hat ein junger Unternehmer das längste Distanzreiten aller Zeiten organisiert. Und das beginnt in Boulder | Colorado. Warum nicht das ganz große Risiko wagen? Den siebzehnjährigen Will dagegen hat die Aussicht auf das hohe Preisgeld angelockt, mit dem er die Operation seines Vaters bezahlen könnte. Und dann beginnt für diese zwei jüngsten Teilnehmer der enorm gefährliche, strapaziöse und doch so wunderbare Ritt durch atemberaubende Landschaften – gegen 297 Konkurrenten und gegeneinander.
LanguageDeutsch
Release dateOct 7, 2016
ISBN9783772541209
Glory: Das längste Pferderennen der Welt
Author

Lauren St John

Lauren St John grew up surrounded by horses, cats, dogs and a pet giraffe on a farm and game reserve in Zimbabwe, Africa, the inspiration for her bestselling White Giraffe series. At seventeen, she spent a year working in the UK as a veterinary nurse before becoming a sports and music journalist. Dead Man's Cove, the first in her Laura Marlin Mysteries series, won the 2011 Blue Peter Book of the Year Award. She is also the author of the Kat Wolfe series. A passionate conservationist, Lauren is an ambassador for the Born Free Foundation and founder of the Authors4Oceans anti-plastics campaign. When not writing or rescuing leopards, she is a full-time valet to her not-in-the-least-demanding Bengal cat, Max.

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    Book preview

    Glory - Lauren St John

    Lauren St John

    GLORY

    Das längste Pferderennen der Welt

    Aus dem Englischen

    von Eva Riekert

    Verlag Freies Geistesleben

    Im Andenken an Chiara Sanfilippo, die Pferde liebte und von dem Buch One Dollar Horse begeistert war.

    Ich wurde in der Prärie geboren, wo der Wind freies Spiel hatte und das Licht der Sonne durch nichts verstellt wurde. Ich wurde geboren, wo es keine Gatter gab und jeder und alles frei atmen konnte. Dort möchte ich sterben, nicht hinter Mauern.

    Ten Bears, Komantschenhäuptling

    Prolog

    Jonas B. Ellington war mit der schlimmsten Charaktereigenschaft geschlagen, die einen Geschäftsmann treffen kann: Er war ein Romantiker. Er hatte nur ein Semester Betriebswirtschaft in Harvard durchgehalten, wo ihm der einzige Dozent, der ihn nicht am liebsten erwürgt hätte, nahegelegt hatte, einen alternativen Berufsweg einzuschlagen − Malerei oder Schriftstellerei oder ersatzweise Landschaftsgärtnerei.

    Doch Jonas hatte nichts dergleichen gemacht. Stattdessen hatte er die eintausend Dollar, die ihm sein Vater, ebenfalls ein Romantiker, vererbt hatte, investiert und einen preisgünstigen, umweltfreundlichen Fußbodenreiniger erfunden, den er bei sich in der Küche zusammengemixt hatte. Sein Argument war gewesen, dass die Menschen selbst in härtesten Zeiten den Boden aufwischen müssten und dass sie das Produkt am ehesten kaufen würden, wenn es billig wäre. Genauso wichtig war ihm Umweltfreundlichkeit. Jonas verbrachte jede freie Minute in der Natur, und alle, die nicht das ersehnte Lebensziel mit ihm teilten, den Planeten für zukünftige Generationen zu retten, waren ihm ein Rätsel.

    Wie sich herausstellte, waren Millionen von Menschen seiner Meinung, wenn auch nicht im Hinblick auf Bäume und Tiere, so doch auf billigen Bodenreiniger. Da er keine Ehefrau hatte, die protestieren konnte, verwandelte Jonas seine Küche in eine provisorische Fabrik. Von dort war sein Green Power-Putzmittel-Unternehmen in ein stillgelegtes mexikanisches Restaurant umgezogen und inzwischen in einem riesigen Kornspeicher in Dinosaur in Colorado gelandet.

    Jonas’ Geschäftssinn hatte sich nie weiterentwickelt, aber der Siebenundvierzigjährige hatte ein unfehlbares Händchen fürs Geldverdienen. Obwohl er für wohltätige Zwecke ein kleines Vermögen gespendet hatte, war er immer noch unzufrieden. Als er an einem Freitagnachmittag in seinem Büro saß, dachte er wehmütig an seinen Großvater, der seine Kindheit mit spannenden Geschichten aus dem Wilden Westen bereichert hatte. Sie hatten die Leidenschaft für wilde Mustangs geteilt.

    Sein Großvater liebte es, Frank T. Hopkins zu zitieren, einen Reiter aus dem neunzehnten Jahrhundert, den viele für den größten Langstreckenreiter aller Zeiten hielten. «In der gesamten Pferderasse geht nichts über die Intelligenz von Mustangs. Diese Tiere waren über Generationen auf sich selbst gestellt. Sie mussten ihr Schicksal meistern oder umkommen. Die Tiere, die überlebten, waren von außergewöhnlicher Intelligenz.»

    An Jonas’ Bürowand hing ein Ölgemälde, das Hopkins als Teilnehmer am sogenannten Längsten Rennen zeigte. Hopkins hatte behauptet, dass er im Jahre 1886 seinen Mustanghengst Joe von Galveston in Texas bis Rutland in Vermont geritten habe − eine Strecke von 1800 Meilen −, und zwar in nur 31 Tagen, 13 weniger als der zweitplatzierte Reiter.

    Jonas kippte seinen Stuhl zurück und betrachtete das Bild. Darüber, ob Hopkins ein Hochstapler und Schwindler gewesen war, gingen die Meinungen auseinander. Es gab diejenigen, die überzeugt waren, dass er wohl kaum vierhundert Distanzrennen gewonnen hatte, ebenso wenig, wie er auf dem Mond gewesen war. So oder so, das kümmerte Jonas nicht. Ob aus dem Bereich der Mythen oder nicht, ihm gefiel die Vorstellung, dass Hopkins seinen Verstand und die Stärke und den feurigen Willen seines Mustangs gegen die Elemente gestemmt hatte.

    Es klopfte an der Tür. Herein trat Wayne Turnbull, sein neuer Angestellter, ein dünner Mann mit beunruhigend ausgeprägter Stirnglatze.

    «Spärlich bekleidete Berühmtheiten», murmelte Jonas vor sich hin.

    Der Angestellte zuckte zusammen. «Sir?»

    Jonas ließ seinen Stuhl mit einem Krachen nach vorne fallen. «Entschuldigung − Wayne, so heißt du doch? −, ich habe nur laut nachgedacht. Nicht über unbekleidete Popstars und Schauspielerinnen, muss ich schnell hinzufügen, sondern darüber, dass die Gesellschaft so besessen ist von untalentierten Möchtegern-Stars, die nur berühmt sind, weil sie in die Schlagzeilen gekommen sind. Manchmal wünsche ich mir die schlimmen alten Zeiten zurück − du weißt schon, den Wilden Westen. Ich meine nicht Revolverhelden und Überfälle, sondern den Geist des Wilden Westens.»

    Der Angestellte horchte auf. Turnbull hatte selbst Gründe, sich immer mal wieder nach den Zeiten zu sehnen, als das Gesetz noch ein korrupter Sheriff mit Blechstern gewesen war. Er betrachtete seinen Boss mit wachsendem Interesse.

    Jonas machte ein verträumtes Gesicht. Er deutete auf das Gemälde. «Nimm mal Frank Hopkins. Im neunzehnten Jahrhundert behauptete er, ein Pferd über 1800 Meilen quer durch die Vereinigten Staaten geritten zu haben − mit einem Tagesdurchschnitt von 57 Meilen. Keine historischen Quellen, daher ist es wahrscheinlich Unsinn, doch darum geht es nicht. Distanzreiten ist heutzutage ungeheuer beliebt, aber abgesehen von dem Shahzada, dem

    250-Meilen

    -Ritt in Australien, liegt bei den meisten Rennen die längste Strecke bei rund 100 Meilen. Immer noch eine harte Herausforderung. Die Teilnehmer werden bis an ihre Grenzen gebracht. Trotzdem, mit den Anforderungen, denen die Reiter im Wilden Westen ausgesetzt waren, nicht zu vergleichen.»

    Turnbull hasste Pferde. Seiner Erfahrung nach biss das eine Ende zu, das andere schlug aus und produzierte Mist, und der Mittelteil war sowohl gefährlich als auch unbequem. Dennoch, es konnte nicht schaden, den Spinnereien vom Boss nachzugeben. Man konnte doch nicht wissen, wann das mal zu einer Gehaltserhöhung führte.

    «Wäre nicht schlecht, wenn jemand das Hopkins-Rennen wieder aufleben lassen würde, Sir. Auf der alten Strecke oder so.»

    Er verstummte. Ein Diamantenfeuer flackerte in Jonas’ Augen auf. Als er zu sprechen begann, bebte seine Stimme regelrecht.

    «Wayne, du bist ein Genie. Ein totales Genie. Wir lassen das Rennen wieder aufleben. Nicht ganz so wie im Original. Das wäre nicht romantisch genug. Galveston und Alabama haben zwar ihre Reize, aber es sind große Ballungsräume. Für unser Rennen entwickeln wir eine Route, die durch das Herz des Wilden Westen führt − von Colorado nach Oregon durch Wyoming und Idaho.»

    Jonas befragte kurz seinen Laptop. «1200 Meilen. Das klingt doch nach einem anständigen Rennen. Was meinst du, Wayne? Green Power könnte als Sponsor auftreten. Wir bieten einen Anreiz, der der Herausforderung gerecht wird. Eine goldene Schnalle, auf der Hopkins auf einem Mustang als Emblem abgebildet ist, plus

    100.000

     

    Dollar

    . Nein, besser 250.000. Und zwar alles für den Sieger.»

    Turnbull lief das Wasser im Mund zusammen. Eine glatte Viertelmillion für ein Pferderennen. Der Boss war eindeutig übergeschnappt.

    «Ich würde einen Cheforganisator benötigen, Wayne. Eine rechte Hand. Hast du zufällig Erfahrung mit der Organisation von Events?»

    Turnbull nahm sich kurz Zeit, um zu überlegen. Immerhin hatte er den schiefgegangenen Überfall auf den Juwelierladen durchgeplant, der ihm einen längeren Aufenthalt im Staatsgefängnis von Colorado eingebracht hatte. Aber nicht seine mangelhafte Federführung war daran schuld gewesen. Es hatte an der unerwarteten Blödheit des Fluchtfahrers gelegen, der den Autoschlüssel in einen Gully hatte fallen lassen, als sie abzuhauen versuchten. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte sein sorgfältig ausgearbeiteter Plan dazu geführt, dass er jetzt an einem Strand sitzen und Cocktails schlürfen würde.

    «Um genau zu sein …»

    «Du bist angeheuert, Wayne. Ehe das Jahr um ist, stellen wir das Rennen auf die Beine. Wir haben jetzt Mai. Wir könnten den Oktober anpeilen, den Scheitelpunkt zwischen Herbst und Winter. Dann spielt das Wetter auch eine Rolle.»

    «Gute Idee, Sir. Nichts geht über Hochwasser, Schnee und Stürme, um die Spreu vom Weizen beziehungsweise die Männer von den Grünschnäbeln zu trennen.»

    «Und die Frauen von den Mädchen, Wayne. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert und es geht darum, den Besten oder die Beste zu finden. Es gibt genauso viele begabte Reiterinnen wie Reiter. Wahrscheinlich sogar mehr. Ich will außerdem, dass sich auch Teenager angesprochen fühlen − die Art von Jugendlichen, die dazu beigetragen haben, unser Land zu formen. Zu vielen unserer Teenager fehlt es heutzutage an Zielen. Sie haben nur ihre Handys und das Internet im Kopf. Die Natur kennen sie höchstens von ihrem Bildschirmschoner. Sie müssen mal richtig wachgerüttelt werden. Bei unserem Rennen hat jeder Jugendliche über sechzehn die Chance, sich hervorzutun.»

    Sein blasses Gesicht glühte. «Wie sollen wir es nennen? Ein großes Rennen braucht einen großen Namen.»

    «Der Green Power-Langstreckenritt?», schlug Turnbull vor. Sprache war nun mal einfach nicht sein Ding.

    Jonas’ Blick fiel auf die winzige Flagge der Vereinigten Staaten, die aus einem Becher auf seinem Schreibtisch ragte. ‹Old Glory›, wie sie genannt wurde, ‹die Ruhmreiche›. «Weswegen nehmen die Menschen an Rennen teil, Wayne?»

    «Geld», war Turnbulls prompte Antwort.

    Jonas runzelte die Stirn. «Nein, Wayne. Pferde, Menschen und sogar Huskys machen es um des Ruhmes willen. Sie möchten die Ziellinie überqueren in dem Bewusstsein, dass sie mit jeder Faser gekämpft haben und die Besten der Besten sind.»

    «Das Ruhmreiche – das Glory. Klingt nicht schlecht, Sir.»

    Der verträumte Ausdruck erschien wieder auf Jonas’ Gesicht. «Dann also das Glory

    1

    Reitstall Dovecote, Surrey, England

    An einem stürmischen Septembernachmittag, der so leuchtend wie eine frisch geprägte Münze war, galoppierte eine junge Reiterin im Teenageralter auf ein Hindernis zu. Alexandra Blakewood bewegte ihr achtes Pferd an diesem Tag, dennoch verriet kein Anzeichen ihres Körpers, dass sie auch nur im Geringsten erschöpft war. Sie hob sich leicht im Sattel, während der dunkelbraune Vollblüter mit viel Luft zwischen Huf und Hindernis den Sprung nahm und auf das nächste Hindernis zu galoppierte.

    Das war sonst der Zeitpunkt, an dem alle außer Clare, der Besitzerin und Cheftrainerin des Reitstalls, die Kontrolle über ihn verloren. Alex hingegen konnte das Pferd mit einer Reihe von halben Paraden im Tempo zurücknehmen, damit es den Oxer sprang, sie wiederholte diesen Vorgang bei den beiden nächsten Hindernissen, obwohl das Pferd versuchte, zwischen ihnen hindurchzuschießen, und konnte den Parcours mit nur einer abgeworfenen Stange beenden. Sie parierte es durch zum Schritt und tätschelte und lobte es. Dabei hatte sie ein so breites Grinsen aufgesetzt, dass jeder hätte meinen können, sie hätte gerade bei der Olympiade gewonnen.

    Sie reitet wie ein Engel, gestand sich Clare widerwillig ein, die sehr wohl wusste, dass Alex in jeder weiteren Beziehung alles andere als ein solcher war. Im Reitstall Dovecote war Alex eine Musterschülerin, begierig darauf (fast verzweifelt begierig, dachte Clare bisweilen) zu lernen. Immer fleißig und die einzige Fünfzehnjährige, die sie kannte, die auch nur im Entferntesten talentiert oder einsatzbereit genug war, um jeden Sonntag freiwillig mit sieben oder acht Pferden zu arbeiten, ob es nun regnete oder die Sonne schien. Sie drückte sich auch nicht vor schwierigen Pferden. Im Gegenteil, zu ihnen fühlte sie sich am meisten hingezogen.

    Doch Alex hatte die Neigung, zu waghalsig zu reiten und zu große Risiken einzugehen. Wenn man sie ermahnte, wurde sie bockig. Aber sie achtete darauf, niemals ausfallend zu werden. Denn sie wusste, dass Clare nach dem Null-Toleranz-Grundsatz verfuhr, was Unverschämtheiten oder patzige Antworten anging. Die kurzen Auseinandersetzungen zwischen Alex und ihrer Mutter, die Clare mitbekommen hatte, sagten ihr, dass sich Alex zu Hause wohl nicht so zusammenriss. Im Gegenteil. Clare hatte das Gefühl, dass sich im Pritchard/​Blakewood-Haushalt Ärger anstaute, der sich eines Tages mit Orkanstärke entladen würde.

    «Ich verstehe gar nicht, warum sich Mrs Priestly über ihn aufregt», sagte Alex, als sie aufs Gatter zugeritten kam. «Er springt doch traumhaft. Sie sollte vielleicht lieber einen alten Gaul reiten. Ich persönlich mag Pferde mit ein bisschen Feuer.»

    Clare versteckte ihr Lächeln hinter einem Stirnrunzeln. «Es besteht ein Unterschied zwischen einem feurigen Pferd, das gerne springt, und einem, das für sich und seine Reiter zum Risiko wird. Außerdem wird er im Springen nie besser, wenn du nicht mehr Seitwärtsgänge mit ihm übst. Die entscheidenden Muskeln sind bei ihm nicht genügend ausgebildet. Was deinen Sitz bei dem letzten Sprung angeht …»

    «Schon, aber …»

    Alex kam nicht weiter. Der Jaguar ihres Stiefvaters, Farbe Wintergold, kam auf den Parkplatz gebraust und blieb mit quietschenden Reifen auf dem Kies stehen. Ihr Stiefvater stürzte aus dem Fahrzeug, gefolgt von ihrer Mutter.

    «Ich glaube, sie suchen nach dir», begann Clare, aber Alex hörte sie nicht mehr. Sie galoppierte in die entgegengesetzte Richtung davon und näherte sich dem ersten Hindernis mit gefährlicher Geschwindigkeit.

    Der Orkan, den Clare vorausgeahnt hatte, brach also gerade los.

    «Was fehlt dir bei uns, Alex?», fragte ihr Stiefvater. «Sag es mir. Ich würde es nämlich gerne wissen. In diesem Jahr haben wir dir schon ein zweites iPhone gekauft, nachdem du das erste in die Badewanne hast fallen lassen, ganz zu schweigen von dem neuen Laptop und einem ganzen Schrank voller Reitklamotten. Außerdem waren wir auf Urlaub in Devon und in der Toskana und haben fürchterlich viel Schulgeld für dich ausgegeben.»

    Trotz wiederholter Ermahnungen, so etwas sein zu lassen, hatte Alex die Füße auf den Sessel gezogen. Sie presste das Gesicht an die Knie, um ein Gähnen zu unterdrücken. Ihr karamellfarbenes Haar, lang und zerzaust, war noch feucht von ihrem Reithelm. Auseinandersetzungen mit ihren Eltern liefen immer nach demselben Muster ab. Ihre zunächst eindeutig aufgebrachten Eltern bemühten sich immer, vernünftig zu klingen. Warum sie getan habe, was auch immer es gerade war, wollten sie jedes Mal wissen.

    Die Lehrer an ihrer letzten Schule waren bemerkenswert tolerant gewesen. Alex hatte immer wieder geschwänzt und ihre Klausurbögen mit Pferden vollgezeichnet − ohne größere Folgen. Vonseiten der Schule zumindest. Mit ihren Eltern war es ganz anders. Alex war ja bereit einzusehen, dass es im Hinblick auf Schulnoten nicht unbedingt der geeignete Weg war, Vielseitigkeitspferde auf Testbögen zu malen, aber sie fand, dass ihre Mutter über ihr Schwänzen hinwegsehen und auf der anderen Seite hätte anerkennen können, dass Alex weder heimlich rauchte noch sich mit Jungen traf oder Schlimmeres; sie hatte sich schließlich nur mit einem Buch in eine Abstellkammer verkrochen. Stattdessen hatte ihre Mutter überall im Haus Broschüren über die katastrophalen Auswirkungen von Drogenkonsum herumliegen lassen.

    In Alex’ jetziger Schule hatte man keinen Sinn für Humor. Die Schulleiterin war nach ihrer letzten Eskapade ausgerastet. Alex selbst hatte ihren Trick ziemlich genial gefunden. Als an der Schule eine neue Sportlehrerin anfing, hatte sich Alex überlegt, dass diese nie merken würde, dass sie fehlte, wenn sie von Anfang an nicht erschien. Da sie Musik und den Theaterkurs sowieso schon schwänzte, bedeutete das, dass sie an mehreren Tagen eine oder ein paar Stunden mit zwei Pferden auf einer Koppel zubringen konnte. Sie hatte mitbekommen, wie Clare jemandem erzählt hatte, dass diese Pferde einem Banker-Ehepaar gehörten, das lange arbeitete und selten Zeit hatte, die Tiere zu bewegen.

    Zunächst hatte sie sich nur unter einen Baum gesetzt oder, wenn es regnete, in einen Stall, und hatte gelesen, aber im Lauf des Schuljahrs war sie dazu übergegangen, diverse Techniken im Pferdeflüstern an ihnen auszuprobieren und sie ohne Sattel zu reiten. Das hatte wunderbar geklappt bis zum vorigen Freitag, als die Besitzerin der Pferde unerwartet aufgetaucht war. Alex hatte ihr entwischen können, aber ihre Schuluniform hatte sie verraten. Die Schulleitung hatte nicht lange gebraucht, um die Missetäterin ausfindig zu machen. Das Resultat war der jetzige Krach.

    «Ich weiß, dass ihr mich liebt», sagte Alex gelangweilt. «Und ich weiß, dass ich alles habe, was ich mir je wünschen könnte − abgesehen von dem, was ich mir am meisten wünsche, ein Pferd −, und natürlich seid ihr die besten Eltern der Welt, bla-bla-bla.»

    «Nun werde nicht unverschämt», sagte ihr Stiefvater. «Was soll das, mich gegen dich aufzubringen und deine Mutter zu verletzen?»

    Wie immer hatte Alex das Gefühl, sich selbst aus der Ferne zu beobachten, als würde sie in ein Goldfischaquarium starren. Was sie sah, war ein schlankes Mädchen in schwarzer Reithose und einem weiten grauen

    V-Ausschnitt

    -Pullover, das in Abwehrhaltung in einem Zimmer saß, das direkt aus Country Living stammen konnte: vollgestopft mit weißen Möbeln, riesigen Blumenarrangements in Vasen und kunstvoll verteilten Läufern und Gemälden. Alles war so sauber, dass sich die Putzfrau, die einmal pro Woche kam, vier Stunden lang ausdenken musste, was sie machen könnte.

    Natalie, ihre Mutter, und Jeremy, seit zwei Jahren ihr Stiefvater, saßen starr vor Erbitterung auf dem Sofa. Jeremy, der eine Größe in der Versicherungsbranche war, hatte seine Version von lässigen Wochenendklamotten an − gebügelte Jeans, Nadelstreifenhemd und hochglanzpolierte schwarze Schuhe.

    «Tut mir leid», sagte Alex. «Was wollt ihr noch hören? Ich habe mich doch schon tausend Mal entschuldigt. Woher sollte ich wissen, dass sich die Besitzerin des Pferdes den Knöchel verstauchen würde, als sie hinter mir her lief? Es tut mir leid, dass sie sich verletzt hat, aber das konnte ich nun wirklich nicht vorhersehen.»

    «Das nicht, aber du hättest von Anfang an nicht in ihr Grundstück eindringen und ihr Pferd reiten dürfen», sagte Jeremy. «Du hättest dich auf die Schule konzentrieren sollen wie alle anderen. Wenn ich ihren Mann nicht aus dem Golfclub kennen würde, hätten wir jetzt womöglich eine Klage am Hals.»

    Ihre Mutter sah sie verzweifelt an. «Warum tust du so was, Liebling?»

    Alex starrte durchs Fenster in den parkartigen Garten, in dem jeder Quadratzentimeter durchgestylt war. Ja, warum tat sie so was? Die Wahrheit war, sie wusste es selbst nicht. Teilweise, um zu verbergen, wie schüchtern sie war und wie unwohl sie sich in ihrer eigenen Haut fühlte. Sie hatte nie richtig das Gefühl gehabt, dazuzupassen, und dieses Gefühl war nach der Scheidung ihrer Eltern schlimmer geworden.

    Wenn sie schwänzte, um mit Pferden zusammen zu sein, bekam sie zwar Ärger, aber das Entscheidende war, dass sie sich eine Weile weniger einsam fühlte. Kurze Zeit fühlte sie sich so, wie sie sich eben nur in der Nähe von Pferden fühlte. Von innen her warm. Gebraucht. Wertvoll.

    Und eine Weile fühlte sie sich auch weniger frustriert, was gut war, denn die stetig glimmende Wut, die als Schwelbrand angefangen hatte, als sich ihr Vater vor vier Jahren davongemacht hatte, wütete inzwischen wie ein Waldbrand. Und dass ihre Mutter zuerst geweint und getobt und kurz darauf ihre Hochzeit mit Jeremy geplant hatte, war auch nicht gerade hilfreich gewesen.

    Alex hatte sich allmählich in sich selbst zurückgezogen. Ihre Schulzeugnisse sprachen von einem klugen, aber verschlossenen Teenager, der sich mehr bemühen müsse. Ihre Eltern regten sich darüber auf, dass sie so abweisend sei. So kalt. Dass Dinge, die ihr wichtig sein sollten, sie nicht berührten, wie zum Beispiel Prüfungen. Und dass ihr unwichtige Dinge wie Pferde zu sehr am Herzen lagen.

    Als ob irgendwas wichtiger sein konnte als Pferde.

    «Antworte deiner Mutter», befahl Jeremy. «Warum tust du das? Schließlich bist du fast sechzehn. Höchste Zeit, erwachsen zu werden. Warum machst du dauernd Ärger?»

    Alex zuckte die Schultern. «Aus Spaß.»

    Jeremy sprang auf. Seine schwarzen Haare sträubten sich. «Tja, dann wollen wir mal sehen, wie spaßig du es findest, wenn wir deine Reitstunden sperren. Ab sofort hast du drei Monate Hausarrest. Nein, es hat keinen Zweck, dich an deine Mutter zu wenden. Sie und ich haben das bereits besprochen. Du kommst uns nicht in die Nähe einer Reitschule, bis du lernst, dich zu benehmen.»

    Alex fing zu zittern an. «Nein, bitte, alles, nur das nicht. Ich erledige alle Arbeiten im Haushalt und lerne jedes Wochenende stundenlang. Ich leg mich krumm, damit ich in allen Prüfungen Einsen bekomme. Ich muss einfach reiten. Sonst sterbe ich.»

    «Sei nicht albern, Alex», fuhr ihre Mutter sie an. «Außerdem bleibt uns keine Wahl. Clare hat kurz mit mir gesprochen, als du deine Tasche aus der Sattelkammer geholt hast. Du bist in Dovecote leider nicht mehr willkommen nach dem, was du dir da geleistet hast − auf Mrs Priestlys Vollblüter davonzupreschen. Clare war gezwungen, eine Stunde abzusagen, weil sie hinter dir her musste. Sie lässt sich von keinem ihrer Schüler das Wohl ihrer Pferde und den Ruf ihrer Reitschule gefährden, selbst wenn du eine der begabtesten bist.»

    «Und da ist noch was.» Jeremy übertönte Alex’ Protestgejammer. «Da du wieder mal bewiesen hast, dass man sich nicht auf dich verlassen kann, nehmen wir dich nächstes Wochenende nicht nach Paris mit. Und wir lassen dich auch nicht allein im Haus. Du kommst zu Rich und Barbara. Es könnte dir Schlimmeres passieren, als dir mal anzusehen, wie sich ihre Töchter Chloe und Tiffany benehmen, und du könntest versuchen, ihnen nachzueifern.»

    Alex konnte kaum an sich halten, um nicht loszuschreien. Rich war ebenfalls ein großer Fisch im Versicherungswesen und er und seine Plastik-Frau mit ihren geklonten Töchtern, die alle drei glänzten, als hätte man sie mit Abrazzo geschrubbt und von Geburt an mit nichts als Biomilch und Honig ernährt, waren die langweiligsten Menschen des Universums.

    Aber als es ihr nicht gelang, ihre Eltern zum Einlenken zu bewegen, weder in Bezug auf Paris noch auf die Reitstunden, stürmte Alex in ihr Zimmer, wo sie über eine Stunde lang heulte. Auf Frankreich konnte sie verzichten, aber Pferde waren ihr Ein und Alles. Sie waren das Erste, an das sie am Morgen, und das Letzte, an das sie am Abend dachte.

    Für Alex gab es keinen Zweifel: Ihre Mutter und Jeremy, alle beide, hatten ihr Leben ruiniert. Indem sie ihr nahmen, was sie am meisten liebte, hatten sie das Beste zerstört, das ihr je begegnet war.

    Sie setzte sich auf und wischte sich die Tränen am Ärmel ab.

    Dann zog sie ihren Laptop unter ihrem Kopfkissen hervor. Summend leuchtete der Bildschirm auf und warf einen blauen Schein auf ihr Bett. Alex lächelte, als sie Facebook aufrief. Sie würde dafür sorgen, dass es ihren Eltern leidtat. Mann, würde es ihnen leidtun.

    2

    «The Beeches», Virginia Water, Surrey

    Als es zum siebzehnten Mal an der Haustür klingelte, wurde Alex von Panik ergriffen, so sehr, dass sie sich fragte, ob sie vielleicht hyperventilierte.

    Ihr Plan war gewesen, sich an ihren Eltern zu rächen, indem sie eine Party schmiss, solange diese in Paris waren. Sie hatten einen ganzen Schrank voller alkoholischer Getränke. Daraus wollte sie mit Fruchtsaft, Kirschen und einer Dose Pfirsichen eine gigantische Bowle mixen. Sie hatte Plastikbecher und ein paar Tüten Chips gekauft und eine Playlist zusammengestellt. Sobald Rich und Barbara und ihre widerlichen Töchter schlafen würden, wollte sie sich um die Ecke zu ihrem Haus davonmachen, die Lichter anknipsen und ihre Gäste begrüßen. Falls überhaupt welche kamen.

    Die ganze Woche hatte sie befürchtet, dass die Party ein Reinfall werden könnte. Sie hatte nur wenige Freunde. Wer sollte denn schon aufkreuzen? Bis Donnerstag hatte sie erst drei Zusagen auf ihre Facebook-Einladung. Eine kam von einem Jungen, der schrecklich unter Schuppen litt, zwei von Mädchen aus ihrer alten Schule, an die sie sich kaum erinnerte. Ein paar der beliebteren Mitschülerinnen hatten zu ihrer Überraschung geantwortet, sie würden kommen, wenn sie Zeit hätten, aber insgesamt gab es kaum Reaktionen auf ihre Einladung.

    Alex war jedoch nicht so enttäuscht, wie sie gedacht hatte. Sie hatte nämlich schon kalte Füße bekommen. Was, wenn die Party aus dem Ruder lief? An jenem Abend postete sie noch eine Nachricht über Facebook, diesmal mit dem Inhalt, dass die Party wegen unvorhergesehener Umstände verschoben werden müsse. «Verschoben» klang besser als «abgesagt». So konnte sie zumindest ihr Gesicht wahren.

    Ihre Wut darüber, dass Jeremy und ihre Mutter ihr das Reiten untersagt und ihre Beziehung zu Clare und dem Dovecote Reitstall kaputt gemacht hatten, war um keinen Deut schwächer geworden. Wenn überhaupt, war sie zum GAU angeschwollen. Aber die Realistin in ihr wusste nur zu gut, dass sie erheblich größere Chancen hatte, sie umzustimmen, wenn sie sich eine Zeit lang engelsgleich verhielt, statt wie ein Monster zu handeln.

    Samstagmorgen waren ihre Mutter und ihr Stiefvater nach Paris aufgebrochen, ohne sich richtig von ihr zu verabschieden. Alex war gezwungen, einen qualvollen Tag mit Rich und Barbara und ihren Töchtern zu verbringen. Unter ihrem mustergültigen Deckmantel waren Chloe und Tiffany zwei kleine Hexen. Sie hatten die ganze Zeit damit verbracht, durchtriebene Sticheleien auf sie abzulassen und das mit einer überschwänglichen Freundlichkeit zu kaschieren. Vor Dankbarkeit hätte sie heulen können, als die ganze Familie um Punkt zehn Uhr abends zu Bett ging.

    Da sie nicht schlafen konnte, loggte sich Alex in Facebook ein. Was sie sah, überwältigte sie. Die Einladung zur Party, die sie eigentlich abgesagt hatte, hatte inzwischen 82 Zusagen. Das war an sich schon beunruhigend, vor allem da ihre zweite Nachricht, mit der sie die Party aufgeschoben hatte, anscheinend verschwunden war. Aber das wirklich Beunruhigende war, wie viele Leute versprachen, sich um elf Uhr nachts vor ihrem Haus treffen. «Das wird der HAMMER!!!», schrieb ein Junge, von dem sie noch nie gehört hatte.

    Übelkeit überkam sie. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Jeans und einen Pullover, schnappte sich ihren Hausschlüssel und schlich nach unten. Zum Glück war der dicke Golden Retriever von Rich und Barbara so mit Leckerli vollgestopft, dass er sich kaum rührte, als sie in die Nacht hinaustrat.

    Voller Schrecken malte sie sich aus, dass sie Horden von randalierenden Nachtschwärmern vor ihrem Haus antreffen würde, doch zu ihrer Erleichterung lag das Haus ungestört da. Ruhige Schatten fielen auf den Rasen. Sie kramte gerade den Schlüssel aus der Hosentasche, als ein Auto ankam. Eine Frau, die eindeutig schon betrunken war, stakste den Gartenweg entlang.

    «Sieht ja nicht gerade nach ’ner Party aus. Sind wir zu früh dran oder was ist los?» Ohne eine Antwort abzuwarten, schrie sie in Richtung Auto: «Dominic, ist das auch die richtige Adresse? Hier ist tote Hose.»

    «Es gibt keine Party.» Die Angst verlieh Alex Bestimmtheit. «Sie ist abgesagt worden. Verschwindet also vom Grundstück, sonst rufe ich die Polizei. Das ist widerrechtliches Betreten.»

    «Entspann dich», sagte die Frau und hielt die Hände hoch, als wolle sie einen Schlag abwehren. «Bleib locker. Ich geh ja schon, aber du solltest lieber chillen.»

    Der Motor heulte auf und das Auto raste davon.

    Alex war so entnervt, dass sie eine ganze Minute brauchte, um aufzuschließen. Als sie drin war, stand sie einen Augenblick da und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie hatte einen riesigen Fehler gemacht, die Party in Facebook zu stellen, aber anscheinend war es ja noch mal gut gegangen. Nie wieder würde sie so was Blödes machen. Was hätte nicht alles passieren können. Die Leute hätten das Haus womöglich zerlegt.

    Aufgewühlt ging sie in die Küche und stellte den Kessel auf. Sie würde sich Kaffee machen, alle, die ihre Absage nicht mitbekommen hatten, fortschicken und wieder zu Rich und Barbara zurückkehren. Immer noch besser, als mit ihren Gedanken allein zu sein.

    Sie nahm gerade die Milch aus dem Kühlschrank, als es klingelte. Alex versuchte es zu überhören, aber wer immer das war, drückte so dauerhaft auf den Klingelknopf, dass Alex schnell reagieren musste, ehe das Klingeln die ganze Nachbarschaft weckte. Zu ihrer Überraschung waren es die beiden Mitschülerinnen, die noch nicht gewusst hatten, ob sie Zeit hätten.

    «Wo ist denn die Party?», fragte Gemma und sah sich im Wohnzimmer um, als ob sie erwartete, dass die Leute hinter dem Sofa hervorspringen und «Überraschung!» schreien würden.

    «Ich, äh, hab sie doch abgesagt.»

    Gemma machte ein enttäuschtes Gesicht. «Abgesagt? Hast du eine Ahnung, wie viele Lügen ich erzählen musste, um herzukommen? Hast du eine Ahnung, wie kompliziert das war? Hast du eine Ahnung, was ich für Ärger kriege,

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