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Alma Rose!
Alma Rose!
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Ebook389 pages7 hours

Alma Rose!

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About this ebook

Pat führt ein beschauliches Leben in Kilgore, einem verschlafenen Farmerstädtchen irgendwo an der Interstate im Mittleren Westen. Gemeinsam mit ihrem Vater betreibt sie die örtliche Tankstelle mitsamt Gemischtwarenladen. Pats Alltag verläuft wenig ereignisreich. Bis eines Tages ein Truck vor der Tür hält, eine blondgelockte Frau in spitzen Cowboystiefeln hereinstürmt und lauthals eine Coke und Tampax verlangt: Alma Rose! Voller Überschwang und Abenteuerlust ist die Truckerin das genaue Gegenteil der scheuen Pat. Alma Rose umwirbt sie, weckt ihr Begehren, macht sie kühn und kreativ. Doch dann werden die Pausen zwischen Alma Roses Besuchen länger, und Pat verfällt auf eine geniale Idee, um die Geliebte zurückzugewinnen.

Ein bezaubernder kleiner Roman über das große Thema Liebe – zeitlos schön!
LanguageDeutsch
Release dateOct 12, 2016
ISBN9783959172035
Alma Rose!
Author

Edith Forbes

Edith Forbes grew up on a family ranch in Wyoming. She graduated from Stanford University with a degree in English. After a short career in computer programming, she abandoned computers for more earthbound pursuits, including farming and writing. Forbes is the author of the novels Alma Rose, Nowle’s Passing, Exit to Reality, and Navigating the Darwin Straits. Her work is characterized by skillful writing, poignant observations, and quiet yet evocative explorations of the human heart. Recently retired from her farm, she works as a writer and plays as a cross-country skier, gardener, musician, reader, and moviegoer. She lives in Vermont. Tracking a Shadow is her first memoir.

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    Book preview

    Alma Rose! - Edith Forbes

    FRAUEN IM SINN

    Verlag Krug & Schadenberg

    Literatur deutschsprachiger und internationaler

    Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

    historische Romane, Erzählungen)

    Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

    rund um das lesbische Leben

    Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

    Edith Forbes

    Alma Rose!

    Roman

    Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Mill

    K&S digital

    Für meine Mutter Sal

    Prolog

    Als Alma Rose nach Kilgore kam, lebten hier fast nur noch diejenigen, denen die Interstate ein Auskommen verschaffte. Alle anderen waren weggezogen. Im Zentrum waren die meisten Häuser mit Brettern vernagelt, und um die Auffahrt- und Abfahrtspuren des Highways drängten sich die übriggebliebenen Geschäfte wie Zecken, die ihren Rüssel in eine Vene gebohrt haben. Wir besaßen ein Pizza Hut, ein Motel 6, eine Fernfahrer-Raststätte, drei Tankstellen, ein Royal Comfort Inn und ein Country Kitchen.

    Vor langer, langer Zeit, als die Straßen noch schmaler und holpriger waren und die Menschen noch nicht so weit und schnell reisten, war Kilgore eine Drehscheibe gewesen. Eine sehr kleine zwar nur, aber immerhin. Ringsum erstreckten sich mehrere hundert Quadratmeilen weit rotbraune, felsige Spitzkuppen, Krüppelkiefern, Beifuß, Staub und hie und da auch genügend Grasbüschel, um eine Kuh zu ernähren, sofern ihr längere Fußmärsche nichts ausmachten. Von den Kühen lebten die Ranches und von den Ranches wir, die Menschen, die »in der Stadt«, also in Kilgore, wohnten und arbeiteten.

    Auch als Kilgore noch eine Drehscheibe gewesen war, hatte es nicht viel zu bieten gehabt: etwa acht bis zehn Läden und ebenso viele Bars. Damals besaßen wir jedoch mehr als eine Straße, was Kilgore zu einer richtigen Kleinstadt machte und somit von den zahlreichen Pünktchen unterschied, die zwar auf Straßenkarten eingezeichnet, aber nicht mehr als ein Streckenabschnitt mit Fünfunddreißig-Stundenmeilen-Tempolimit inklusive Bar und Tankstelle sind.

    An die Jahre vor dem Bau der Interstate erinnere ich mich nur noch verschwommen. Sie erreichte uns, als ich acht oder neun Jahre alt war. Zu Anfang begrüßte das Städtchen ihre Ankunft so begeistert, wie vielleicht frühe Siedlerinnen und Siedler die Postkutsche empfangen haben, nämlich als einen Boten aus der glamourösen, modernen großen Welt. Die Café- und Tankstellenbesitzer malten sich schon die Touristenschwärme aus, die mit prallen Geldbeuteln aus dem Osten über uns hereinbrechen würden. Die Ladenbesitzer deckten sich mit Andenken und Geschenkartikeln ein. Und alle waren wir ganz entzückt darüber, wie leicht es nun sein würde, die fünfundsechzig Meilen nach Seco Springs, der Kreisstadt, zurückzulegen, die mit ihren zehntausend Einwohnern, zwei Kinos, der Kegelbahn, der Rollschuhbahn und dem Rodeoplatz in Originalgröße fast schon eine kleine Großstadt war.

    Eine Zeitlang brachte die Interstate erstaunlich wenig Veränderungen. Es ergossen sich keine Touristenströme nach Kilgore. Die Vergnügungen der Großstadt verloren rasch ihren Reiz. Man kehrte wieder in die alten Geleise zurück und lebte genau wie zuvor. Als die Veränderung dann kam, geschah dies so schleichend, dass wir sie zuerst gar nicht bemerkten. Vermutlich begann alles mit ein paar mageren Jahren im Viehhandel. Den Ranchern, die dies zu spüren bekamen, erschien es jetzt lohnend, die fünfundsechzig Meilen nach Seco Springs zu fahren und ihre Futtermittel und Gerätschaften in den größeren und billigeren Geschäften dort einzukaufen. Und wenn sie den weiten Weg schon einmal gemacht hatten, kauften sie auch gleich noch Kleider und Lebensmittel. Der Laden für Rancherbedarf war das erste Geschäft in Kilgore, das seine Pforten schloss. Dann folgte Dan’s Western Wear und dann der Supermarkt und schließlich noch einige andere. Etwa zur gleichen Zeit fuhren wohl einige Konzernmanager über die Interstate, um in den Rockies Urlaub zu machen. Und als sie die Schilder mit der Aufschrift »Nächste Tankstelle 65 Meilen« erblickten, rochen sie das große Geld. Ehe wir uns versahen, ragten ein halbes Dutzend riesiger Leuchtreklamen mit schreiend bunten Werbelogos auf Pfählen in den Himmel – eines immer noch ein wenig höher als das vorherige – und winkten die erschöpften Fahrer von der Straße herunter. Auf Reisende aus dem Osten, die von Hunderten von Meilen scheinbar öder Landschaft ganz betäubt waren, müssen sie wie Leuchttürme gewirkt haben, die sie in einem vertrauten Hafen willkommen hießen.

    Die Landschaft erschien einem wahrscheinlich tatsächlich öde, wenn man mit Höchstgeschwindigkeit auf der Interstate daran vorbeibrauste. Anders als die alten Bundesstraßen folgte sie nicht den Spuren der Siedler. In diesem Landstrich bedeutete Besiedlung Wasser, und die alten Straßen folgten den mäandernden Routen der gelegentlich vorkommenden Wasserläufe. Die Interstate dagegen war eher so etwas wie eine Kreisgrenze, ein Strich auf der Landkarte. Die Planer entschieden, welche Kleinstädte groß genug waren, um eine Ausfahrt zu rechtfertigen, und entwarfen dann mit Hilfe des Kompasses die Verbindungsrouten, ohne Rücksicht auf Bewohner oder Topographie – immer vorausgesetzt natürlich, die stellten kein Hindernis für die Bauarbeiten dar. Kilgore war zwar kaum groß genug, um die Kriterien für eine Ausfahrt zu erfüllen, doch war es für die nächsten fünfzig Meilen in beiden Fahrtrichtungen das einzige Städtchen, das größer als ein Pünktchen war, und daher musste die Interstate hindurchführen.

    Nach der Ankunft jenes ersten Schwungs greller Leuchtreklamen gewöhnte sich der Ort an einen Zustand, der sich im Grunde nicht mehr veränderte. Besagte Gastronomiebetriebe krallten sich alle Leute, die – schon wegen der Entfernung bis zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit – von der Straße zu locken waren. Und wir besaßen eben auch keine anderen natürlichen oder von Menschen geschaffenen Reize, die ihre Zahl hätten vergrößern können. Wir hatten weder ein Schlachtfeld noch prähistorische Felsenwohnungen, weder einen Reptilienpark noch Höhlen, weder Wasserfälle noch verlassene Goldminen noch ein Cowboymuseum, einfach nichts, was die Stadt auf einer Werbetafel hätte anpreisen können, um dem Gast nach all der Monotonie zwischen Kilgore und dem Mississippi ein wenig Abwechslung in Aussicht zu stellen.

    Im ehemaligen »Zentrum« von Kilgore hatten nur zwei Geschäfte überlebt. Das eine war das Cloverleaf Donut Hole, ein Café, das Marge Gorzalka praktisch als Ein-Frau-Betrieb führte. Wahrscheinlich hatte sie sich nie hingesetzt und ausgerechnet, was ihr Stundenverdienst gewesen wäre, hätte sie ihre kleinen Gewinne durch die Arbeitsstunden – von vier Uhr früh bis drei Uhr nachmittags und das sechs Tage in der Woche – geteilt. Wahrscheinlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Denn hätte sie diese Rechnung je angestellt, so hätte sie der Tatsache ins Auge blicken müssen, dass sie weniger als die Schulmädchen bei Pizza Hut verdiente.

    Sie betrieb das Donut Hole seit fast dreißig Jahren, jedenfalls so lange, wie meine Erinnerung zurückreichte. Fast alle, die in Kilgore arbeiteten, schauten irgendwann am Tag einmal bei ihr vorbei, ob nun zum Frühstück, zur Kaffeepause oder zum Lunch. Und jedes Jahr arbeiteten ein paar Leute weniger hier, so dass Marge jedes Jahr ein bisschen weniger verdiente.

    »Wenn ich mir meinen Lebensunterhalt nur noch damit verdienen kann, dass ich einen Papierhut aufsetze und Touristen und LKW-Fahrern Fertigpizzas serviere, dann kann ich mich ja gleich einschläfern lassen«, sagte sie. Wenn auch immer etwas anders, sagte sie das Gleiche alle drei Monate, wenn sie mal wieder ihre Buchhaltung machen musste. Ich kannte Marge ziemlich gut, denn ich war eine ihrer wenigen verbliebenen Stammkundinnen. Jeden Tag um halb zwei kam ich auf einen Kaffee und ein Sandwich vorbei. Der Kaffee und ich erreichten die Theke immer zur selben Zeit, und dann sagte sie: »Tag, Pat. Das Übliche?«

    An den meisten Tagen nickte ich, was bedeutete: Truthahn und Käse auf Vollkornbrot und Krautsalat. Manchmal verlangte ich aber auch Schinken oder einen Cheeseburger, und dann lächelte Marge immer und eilte geschäftig hin und her, als handele es sich um einen besonderen Anlass.

    Die halbe Stunde, die ich mit Essen verbrachte, füllte Marge mit Geplauder, hauptsächlich aus den Neuigkeiten bestehend, die sie früher am Tag von den anderen Stammgästen erfahren hatte. Sie stellte eine einzige ritualisierte Frage, nämlich: »Wie läuft das Geschäft im Mercantile?« Und ich antwortete: »Nicht übel.« Darüber hinaus erwartete sie keinen Gesprächsbeitrag von mir.

    Ich war als stiller Mensch bekannt. Über die Jahre hatte ich mich auf angenehm-bequeme Weise mit diesem Ruf arrangiert. Niemand erwartete von mir, dass ich etwas sagte, also sagte ich auch nichts. Die Leute mochten mich recht gern, auch ohne dass ich mich groß äußerte. Hätte ich plötzlich das Maul aufgerissen, es hätte meinem Ansehen nur schaden können.

    Ich arbeitete im zweiten noch übriggebliebenen Geschäft im Ortszentrum, dem Kilgorer Mercantile – eine dreisilbige Bezeichnung für etwas, das im Grunde nicht mehr als eine Tankstelle und ein Lebensmittelladen war. Wir leisteten uns auch ein paar Regale mit Kleidung, Haushaltswaren und Sportartikeln, doch die waren größtenteils nur Staubfänger und machten bloß zusätzliche Arbeit bei der Inventur. Die Lebensmittel und das Bier brachten den Gewinn.

    Pops, mein Vater, war der Besitzer des Ladens, so dass ich zumindest einen sicheren Arbeitsplatz hatte. Wir teilten uns in die Ladenzeiten. Er arbeitete vormittags, ich nachmittags beziehungsweise abends. Tagsüber hatten wir zwei Teilzeitlageristen und einen Aushilfskassierer, aber nach halb sieben Uhr abends war ich ganz allein.

    Obwohl Pops, sobald ich angekommen war, sofort hätte gehen können, blieb er oft bis zum Abendessen und manchmal sogar bis zum Ladenschluss. Nach Moms Tod hatte er keinen Grund mehr, nach Hause zu gehen. Er war ein Witzbold und Geschichtenerzähler, und er war nicht gern allein.

    Pops war ein kleiner, verhutzelter Mann, der immer kahler wurde. Er war kleiner als ich, und ich war nicht einmal besonders groß für eine Frau. Vom Temperament her gehörte er zu denen, die in der Kneipe einem doppelt so großen Kerl eines verpassen, aber völlig zusammenbrechen, wenn ihre Frau stirbt. Da ich sein einziges Kind war, brachte er mir bei, wie man jagt, fischt und einen Baseball wirft, aber weil ich eine Frau war, traute er es mir nicht so ganz zu, den Laden ordentlich zu führen. »Frauen haben keinen Sinn fürs Geschäftliche«, meinte er. Das sagte er sogar noch zu Zeiten, als ich schon fast alle notwendigen Entscheidungen traf. »Wie auch immer, die Leute hier bei uns erwarten, dass ein Mann die Verantwortung trägt«, fügte er dann stets hinzu, und damit hatte er recht.

    Das Gleiche hatte er zwanzig Jahre lang – solange sie als Angestellte in seinem Laden arbeitete – zu meiner Mutter gesagt. Falls sie sich je darüber ärgerte, so zeigte sie es nicht. Sie hatte in den Büchern, die sie kiloweise von einem Discount-Taschenbuch-Club bezog, in ihrem Garten und in den vielen Stunden am Klavier Trost gefunden. Sie war zu früh geboren, als dass sie je zu der Überzeugung hätte gelangen können, sie dürfe mehr für sich fordern. Spät genug jedoch, um sich für ihre Tochter mehr zu wünschen. Sie war entschlossen, mich aufs College zu schicken. Als man gegen Ende meines vorletzten High-School-Jahres Krebs bei ihr feststellte, sah ich den verzweifelten Blick in ihren Augen. Er entsprang nicht dem Wissen, dass sie sterben musste, sondern der schmerzlichen Überzeugung, dass sie sterben würde, ehe sie sichergestellt hatte, dass ich eine andere Laufbahn einschlug als sie.

    Den ganzen Sommer und Herbst hindurch ertrug sie jede Art von Chemo- und Strahlentherapie, jede Operation, von der die Ärzte behaupteten, dass sie ihr Leben um ein paar Wochen oder Monate verlängern könnte. Die kurzen Zwischenzeiten, in denen sie genügend Kraft und Geistesklarheit besaß, verbrachte sie damit, mich zum Schreiben der Aufsätze und zum Ausfüllen der Bewerbungsformulare für die nächstgelegene Universität und mehrere angesehene Westküstenuniversitäten anzutreiben. Den ganzen Winter hielt sie noch durch, mit einer besessenen Energie, die die Ärzte erstaunte. Im Januar hörte ich zufällig mit an, wie sie meinem Vater mitteilte, der Krebs habe alle wichtigen Organe ihres Körpers befallen und sie werde keinen Monat mehr leben.

    Die erste Zusage von einem College traf am 18. April ein, am Morgen ihres Begräbnisses.

    Wäre es die Beerdigung meines Vaters gewesen und hätte meine Mutter mit dem Alleinsein zurechtkommen und sich und den Laden über Wasser halten müssen, während ich tausend Meilen weit weg war, so hätte sie gesagt: »Jetzt mach, dass du ins Flugzeug kommst. Ich komme schon zurecht.«

    Mein Vater hingegen brach weinend zusammen und wimmerte: »Lass mich nicht allein, Schätzchen!«

    Teil I

    1

    »Du warst schon immer ein merkwürdiges Kind, Pat.« Mrs. Chase hatte das viele Male gesagt, doch damals, als ich erklärte, dass ich jetzt doch nicht aufs College ginge und sämtliche Zusagen zerrissen hätte, sagte sie es mit besonderem Nachdruck.

    Mrs. Chase war die Geschichtslehrerin an der High-School von Kilgore. Gleichzeitig war sie auch für die Schülerberatung zuständig, da die Schule nicht groß genug war, um sich eine extra Stelle dafür leisten zu können. In ihrer Ausbildung lernt eine Beratungslehrerin ja vielleicht tatsächlich, wie man Heranwachsenden durch ihre eigentümlichen Qualen hindurchhilft. Im Falle von Mrs. Chase wurde der Posten jedoch zu einer Art Sortiertor, wie auf dem Viehhof. Die Schülerinnen und Schüler liefen über eine aus vier Klassen bestehende Rampe und erwarben sich unterwegs Notenpunkte und einen gewissen Ruf. Wenn sie am Ende der Rampe bei Mrs. Chase anlangten, schwang sie das Tor in die eine oder die andere Richtung. Du bist klug genug für die Universität. Du solltest dich mit einem Community College zufriedengeben. Und du solltest dir am besten einen Job suchen.

    Sie kannte uns alle recht gut, da sie uns zumindest ein Jahr und manchmal sogar bis zu drei Klassen in Sozialkunde und Geschichte unterrichtet hatte. Und vielleicht trafen ihre Urteile eher zu als die der Spezialisten, die jeden Schüler nur bei Beratungsgesprächen erlebten. Problematisch war nur, dass sie keine Zeit hatte, mehr zu tun, als uns in die ihrer Meinung nach richtige Richtung zu schubsen. Ihr Unterrichtspensum war nur um einen Kurs reduziert worden, und in der daher knapp bemessenen Beratungszeit verhandelte sie zum Beispiel mit dem Sheriff darüber, wie man mit Fred McNeil und Marty Alderman verfahren solle, nachdem sie im Suff jeden Briefkasten zwischen Kilgore und Wister, dem fünfzehn Meilen weiter nördlich gelegenen Pünktchen auf der Landkarte, mit einem Dutzend Kugeln durchlöchert hatten.

    Mrs. Chase kannte mich fast so gut wie Marty und Fred – nicht weil ich auf Briefkästen ballerte, sondern weil ich, wie sie sagte, ein merkwürdiges Kind war. Ich gehörte zu jenen Schülerinnen und Schülern, die für eine Beratungslehrerin leicht zur Obsession werden. Offensichtlich war ich gescheit – gescheit genug, um gute Noten zu bekommen, wenn ich es darauf anlegte, und die Erwartung zu wecken, dass ich es möglicherweise noch einmal weit bringen würde. Gleichzeitig war ich auf irritierende Weise verschroben. Meine Wunderlichkeit beschränkte sich nicht nur auf eine gewisse Maulfaulheit, obwohl die bereits ausreichte, um die meisten Lehrer glauben zu machen, sie müssten mich ändern. Es gab noch etwas anderes an mir, das den Erwachsenen Sorge bereitete. Die Kinder bezeichneten mich lediglich als komisch und beließen es dabei. Die Erwachsenen aber fühlten sich verantwortlich. Sie glaubten, mich vor Kummer bewahren zu müssen.

    Oft wurde ich in Mrs. Chases Büro gerufen, vorgeblich, um meine großartige Zukunft zu planen, tatsächlich aber nur deshalb, weil sie die Ursachen meiner mangelnden Anpassung erforschen wollte. »Warum nimmst du nie an irgendwelchen Unternehmungen teil? Magst du keine Partys?«, fragte sie.

    »Eigentlich nicht. Manchmal gehe ich aber doch zu einer.« Ich konnte schon reden, wenn jemand mich geradeheraus etwas fragte.

    »Hast du Freundinnen?«

    »Eigentlich nicht.«

    »Magst du denn keines von den anderen Mädchen?«

    »Die meisten kichern mir zu viel.«

    »Lachst du denn nicht auch gerne?«

    »Lachen ist nicht das gleiche wie Kichern.«

    »Hast du einen Freund?«

    »Nein.«

    »Und was ist mit Chuck?«

    »Ich bin mit ihm befreundet, aber er ist nicht mein Freund.«

    Chuck wollte mein Freund sein. Er hatte mich einmal – sehr vorsichtig – geküsst, und ich hatte ihn aus wissenschaftlicher Neugier wiedergeküsst. Sein Mund war feucht und schmeckte nach Zigaretten. Ich war nicht gerade in Leidenschaft entbrannt und schlug ihm daher so taktvoll wie möglich vor, dass wir doch lieber Freunde bleiben sollten. Damals dachte ich, er sei einfach nicht der Richtige. Später, als die Jahre vergingen und keiner mich auch nur gelinde zum Beben brachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich eben kein Interesse an Sex hatte.

    »Warum trägst du eigentlich immer so düstere Farben?«, fragte mich Mrs. Chase bei einer anderen Gelegenheit.

    »Weil sie mir gefallen.«

    »Mit deinem dunklen Haar würdest du in Rot oder einem leuchtenden Blaugrün sehr hübsch aussehen. In Braun wirkst du so traurig.«

    Ich zuckte die Achseln.

    »Hübsch auszusehen ist wichtig. Das ist ein Zeichen von Selbstachtung.«

    Wieder zuckte ich die Achseln.

    »Du stößt die Menschen ab, wenn du dich wie ein Penner anziehst und dich immer so ernst gibst. Ist es dir denn egal, ob man dich mag oder nicht?«

    Und wieder zuckte ich die Achseln. Mrs. Chase stotterte schon fast vor lauter Frust. Sie sah doch so deutlich, was mir zu meinem Glück fehlte, und ich stand steif, stur und dumm da und ließ mir einfach nicht helfen. Es war doch so simpel. Wäre ich nur nett zu den Leuten, würde ich lächeln und reden und mich hübsch anziehen, dann würden sie mich auch mögen. Und mochten einen die Leute, dann war man auch glücklich. Das war doch eine ganz einfache Rechnung.

    Was Mrs. Chase aber nicht verstand und was ich ihr auch nicht erklären konnte, war die Tatsache, dass ich mich gar nicht unglücklich fühlte. Sie nahm an, dass jedes Mädchen, die in weiten braunen Flanellhemden herumlief, den größten Teil ihrer Zeit allein mit Lesen und Zeichnen verbrachte und deren einziger Freund ein raubeiniger, zwei Jahre älterer Junge war, per definitionem unglücklich sein musste. Der Begriff »geringes Selbstwertgefühl« war noch nicht zur populären Sammeldiagnose geworden, wie seitdem geschehen, so dass Mrs. Chase das passende Etikett fehlte. Dennoch war sie überzeugt, dass ich ein Problem hatte. Da ich dies aber nun durchaus nicht glaubte, konnte man wohl auch nicht von mir erwarten, dass ich darauf erpicht war, mir helfen zu lassen.

    Als ich ihr erzählte, dass ich nun doch nicht aufs College ginge, gab sie es schließlich auf und kam zu der Überzeugung, ich sei einfach ein hoffnungsloser Fall. Ich war nicht nur merkwürdig, sondern auch undankbar. Drei Jahre lang hatte sie größte Hoffnungen in mich gesetzt, auf eine Schülerin, die intelligent genug war, um vielleicht nach Stanford oder Berkeley zu gehen. Während der Bewerbungszeit hatte sie mit mir gebangt. Hatte sich persönlich darum gekümmert, dass ich die notwendigen Empfehlungen erhielt. Von den verzweifelten Ambitionen, die meine Mutter auf dem Krankenbett für mich hegte, hatte sie zumindest einen Eindruck erhalten. Als die Zusagen dann schließlich kamen, waren sie ein Triumph, nicht nur für mich, sondern auch für sie, für die Schule und für die ganze Stadt. Und ich hatte sie zerrissen.

    »Du warst schon immer ein merkwürdiges Kind, Pat«, sagte sie. Anstatt Verständnis oder den Wunsch, mir zu helfen, zum Ausdruck zu bringen, spuckte sie mir die Worte voller Zorn und Enttäuschung ins Gesicht.

    Ich antwortete nicht. Eigentlich sah ich Mrs. Chase weder an, noch hörte ich ihr zu. Zwei Bilder standen mir vor Augen. Ich sah das Gesicht meiner Mutter: kalt, reglos und abgemagert. Die Haut spannte sich wie Seidenpapier über ihre zarten Knochen. Das Gesicht sah aus wie die gedörrten Überreste eines toten Vogels. Und in mir war die gleiche Reglosigkeit, die tief in den Knochen sitzende Überzeugung, dass Anstrengung und Ehrgeiz sinnlos waren, ein Trick Gottes, um uns abzulenken, während er uns seine letzte Falle stellte und sie zuschnappen ließ.

    Dann sah ich meinen weinenden Vater vor mir, wie er sich an mich klammerte und flehte: »Lass mich nicht allein, Schätzchen!«

    Das erste Bild war mein ganz privates und ging niemanden etwas an. Das zweite war nicht meines, und doch konnte ich nicht darüber sprechen. Ich brachte es nicht fertig, das Schauspiel, das Smoky Lloyd, der muntere, sympathische Smoky, geboten hatte, als er sich schluchzend und hilfesuchend an seine Tochter klammerte, publik zu machen. Es war ein peinlicher Anblick, und ich wollte nicht, dass jemand davon erfuhr. Also sagte ich nichts, weder zu Mrs. Chase noch zu sonst jemandem.

    Nach dem Schulabschluss begann ich ganztags im Mercantile zu arbeiten. Und von einem kurzen Experiment abgesehen, blieb ich auch dort.

    Das Experiment startete ich vor etwa zwölf Jahren, als ich zweiundzwanzig war. Pops hatte seinen Verlust inzwischen verschmerzt und fühlte sich ganz glücklich in seiner Rolle als nicht festzunagelnder Junggeselle, die er für alle Witwen, geschiedenen Frauen und alten Jungfern in Kilgore und Umgebung spielte. Ich kam zu dem Schluss, dass ich fortmusste, um einmal in der Stadt zu leben. Ein wichtiger Teil der menschlichen Erfahrung entginge mir, so glaubte ich, wenn ich immer in dem Ort blieb, in dem ich aufgewachsen war. Außerdem war ich überzeugt, dass alle »merkwürdigen Kinder« in die Städte zogen, wo sie nicht so sehr auffielen, und dass ich vielleicht ein paar von ihnen dort treffen würde. Also zog ich nach Chicago.

    Sechs Monate lang hielt ich es aus. Den ersten Monat verbrachte ich in einem Zustand nervöser Verstörung, die letzten fünf in einer Abwärtsspirale der Einsamkeit und Apathie. Durch den Lärm, die dauernde Bewegung, die Allgegenwart von Menschen gerieten all meine normalen Denkprozesse völlig durcheinander. Umgeben von Mauern, Autos, Reklametafeln und Menschen konnte ich nicht mehr träumen. Und ohne meine Träume war ich verloren. Ohne meine Tagträume besaß ich nur noch die äußere Realität. Die aber bestand aus einem geistlosen Job, einsamen Abenden in einem winzigen und anonymen modernen Apartment und aus Langeweile, endloser, ununterbrochener, abstumpfender Langeweile.

    Ich hatte keine Ahnung, wie man in der Großstadt überlebt. Ich war so hilflos wie ein Junge aus der Bronx, den man mit dem Hubschrauber über der Wildnis Alaskas abwirft. Auf mich wirkte diese Million fremder Menschen so unbelebt und unergründlich wie dem ungeübten Auge eine Million Bäume ununterscheidbar erscheinen. Falls es unter dieser Million »merkwürdige Kinder« wie mich gab – ich hätte nicht gewusst, woran ich sie hätte erkennen sollen. Und hätte ich sie erkannt, so wäre ich viel zu scheu gewesen, um sie anzusprechen. Abgesehen von den Leuten, die ich bei der Arbeit sah, lernte ich keinen – weder einen merkwürdigen noch sonst einen – Menschen kennen.

    Nach sechs Monaten gab ich es auf. Zum zweiten Mal belud ich meinen Wagen und brach auf, zurück nach Westen. Später konnte ich mich in aller Deutlichkeit nur noch an die beiden Fahrten erinnern, an die erste in östlicher Richtung, bei der die Landschaft immer kleinteiliger wurde und das Land immer fruchtbarer, die Hügel sanfter, die Farmen kleiner, die Farben lebhafter und leuchtender wurden; wogegen später in umgekehrter Richtung das Land sich weiter und weiter ausdehnte und alles immer karger wurde, als würden die gleiche Menge an Regen, Pflanzen, Farben und Menschen über eine immer größere Fläche verteilt.

    Als ich wieder in Kilgore ankam, wollte Pops eine große Party für mich geben. Ich ließ es nicht zu. Schlimmer, als von einer Million Fremder umgeben zu sein, war nur noch, in einem Zimmer voller Bekannter im Mittelpunkt zu stehen. Pops musste sich damit zufriedengeben, jeden, der den Fuß über die Schwelle des Mercantile setzte, mit der Nachricht zu begrüßen: »Pat ist wieder da. Gestern Abend zurückgekommen. Hat das wilde Großstadtleben einfach nicht ertragen, nicht wahr, Schätzchen?«

    Und dann legte er mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. »Pat hat sich nie viel aus Partys und Ausgehen gemacht. Ihre Mom und ich mussten uns nie Gedanken machen, wo sie sich nachts um elf rumtrieb. Und jetzt ist sie wieder da, wo sie hingehört.« Nur ein paar Details hatten sich verändert. Um in Chicago eine Anstellung zu finden, hatte ich einige neue Kleidungsstücke kaufen müssen. Zum ersten Mal waren das Sachen, die nicht aussahen wie Restbestände der chinesischen Armee in Übergröße. Und da ich sie nun schon einmal besaß, zog ich sie auch weiterhin an. Mindestens ein Dutzend Leute fragte mich, ob ich abgenommen oder eine neue Frisur hätte, was beides nicht zutraf. So machten sie mir taktvoll ein Kompliment zu meiner neuen Garderobe. Sie konnten ihre Komplimente nicht direkt aussprechen. Damit hätten sie nämlich stillschweigend zugegeben, dass ihnen mein früherer schlampiger Aufzug aufgefallen war.

    Bald nach meiner Rückkehr hob ich alle meine Ersparnisse ab und kaufte ein Stück Land – nicht viel, nur etwa vierzig Acres, die fünf Meilen außerhalb von Kilgore lagen. Außer einem eingestürzten Schuppen und alten Grundmauern, auf denen, ehe es niederbrannte, einmal das Haus gestanden hatte, gab es nichts auf dem Grundstück. Da der Viehhandel sich gerade in einer tiefen Flaute befand, war Land billig. Und mein Grundstück war sowieso zu klein, als dass man etwas Gescheites damit hätte anfangen können. Es konnte vielleicht ein, zwei Kühe oder ein halbes Dutzend Schafe ernähren. Sieben Bäume, Pappeln und Holunder, verteilten sich um das alte Fundament, und eine Handvoll Krüppelkiefern stand auf dem Hügelkamm hinter dem Haus.

    Der beste Teil des Grundstücks und der Grund, warum ich es gekauft hatte, war der gewaltige nackte Felskamm. Die Hinterseite des Hügels fiel sanft ab, aber die mir zugewandte Seite oberhalb der Grundmauern stürzte schroff und senkrecht gegen das Bachbett und das ebene Land, wo einmal das Haus gestanden hatte, herab. Oben am Kamm hatten Wind und Regen die Erde fortgetragen und nur das nackte Gebein des rotbraunen Felsens zurückgelassen, das jetzt drohend wie die Mauer einer alten Burg über dem engen Tal aufragte.

    Wenn mich einmal eine trübe Stimmung ergriff, wenn Pops mir auf die Nerven ging oder ich mich zu fragen begann, ob ich jemals zur menschlichen Rasse gehören würde, dann kletterte ich dort hinauf. Ich kraxelte die steile Hügelseite hoch, auf der Grasbüschel, Yuccas und Feigenkakteen wuchsen, und hockte mich auf einen der Felsvorsprünge. Manchmal nahm ich ein Buch oder einen Zeichenblock mit. Manchmal saß ich einfach nur da und schaute hinaus über die vielen Meilen lebendigen Landes.

    Vom Felsen aus sah ich keine der Ansammlungen toter Gegenstände, mit denen sich die Menschheit umgibt, weder Bauholz noch Beton, weder Plastik noch Metall. Alles, was man sah, war lebendig. Umgeben von der trockenen, rissigen Erde, den gemeißelten Spitzkuppen, den stets ihren Lauf verändernden Bächen, der Intensität der Sommerhitze und den trockenen, bitteren Winterwinden, spürte ich wie nirgends sonst den wilden, hartnäckigen Puls des Lebens an sich. Nichts hier begünstigte Leben, und doch gab es überall, wohin ich sah, lebende Dinge: die kleinen, den Boden bereitenden Flechten, die das Erdreich für andere Samen aufbrachen, die sehnige, trockene Vegetation, die behutsam und pragmatisch Meilen von wassersammelnden Wurzeln verlegte, ehe sie es wagte, mit ihrem Grün zu protzen. Der Wille zum Überleben wurde zur greifbaren Wirklichkeit, die mich völlig durchdrang, und ehe ich mich’s versah, war es mir schon wieder ganz egal, ob ich je sein würde wie der Rest der Menschheit.

    2

    »Entschuldigen Sie, aber wo haben Sie denn die Tampax?«, erklang eine Stimme in meinem Rücken. Ich kniete neben mehreren offenen Kartons mit Cornflakes- und Müslipackungen. Es war Viertel nach acht, beinahe Ladenschluss. Ich füllte Regale auf, um mir diese normalerweise tote Zeit am Abend zu verkürzen. Gerade war ich

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