Gesprächsführung in der Seelsorge
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Gesprächsführung in der Seelsorge - Reinhold Ruthe
Reinhold Ruthe
Handbuch der therapeutischen Seelsorge
Band 2
Gesprächsführung in der Seelsorge
Ein praktischer Leitfaden für Seelsorger und Berater
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-818-7
© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: GettyImages
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.brendow-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Kapitel 1
Was ist Seelsorge?
Ziel der Seelsorge
Zum Verhältnis von Heil und Heilung
Beraten ‒ bezeugen ‒ befreien
Die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers ‒ Vorteile und Grenzen
Kapitel 2
Der Seelsorger klärt die Probleme und den Arbeitsauftrag
Was bewegt den Ratsuchenden?
Der Seelsorger fragt nach dem Problem
Der Seelsorger wiederholt das Problem
Sieben Versionen, wie der Seelsorger an ein Problem herangehen kann
Drei Formen des Problems
Der Arbeitsauftrag
Herausarbeitung des Problems ‒ Herausarbeitung des Arbeitsauftrags
Die Unterschiede zwischen Problem und Arbeitsauftrag
Richtige und falsche Arbeitsaufträge
Ein problematischer Arbeitsauftrag ‒ ein Beispiel
Der Abschluss des Gesprächs
Kapitel 3
Aktives Zuhören lernen
Welche Vorteile hat aktives Zuhören?
Varianten des reflektierenden Zuhörens
Aktives Zuhören muss ständig neu trainiert werden
Zuhören heißt, das Wesentliche zu erfassen
Ein Beispiel erleichtert das aktive Zuhören
Kapitel 4
Der Seelsorger erarbeitet die Motive
Probleme und Motive
Die Folgen ungeistlicher Motive
Fünf Beispiele zur Motivationsklärung
Die Reaktionen des anderen verraten seine Ziele und Motive
Wozu sucht ein Ratsuchender den Seelsorger auf?
Kapitel 5
Der Seelsorger schaut sich und seine Gesprächsführung an
Der Seelsorger und die Selbsterforschung
Wie habe ich die bisherigen Gespräche erlebt? ‒ Fragen an den Ratsuchenden
Fragebogen zur Selbstprüfung für den Seelsorger
Wenn der Seelsorger Probleme mit sich hat
Der Seelsorger überprüft seine Gesprächseinstellung
Der Seelsorger bestimmt nicht das Gespräch
Der Seelsorger überprüft sein „Helfersyndrom"
Der Seelsorger und sein Umgang mit Sympathie und Antipathie
Der Seelsorger überredet nicht
Der Seelsorger bevorzugt die „offene Kommunikation"
Der Seelsorger überprüft sein einfühlendes Reflektieren
Selbsterforschungsfragebogen für den Seelsorger
Kapitel 6
Über den Umgang mit Fehlern und Fallen
Die drei Arten von Anliegen
Der Seelsorger hebt die drei Anliegen ins Licht
Über den Umgang mit Fehlern in der Gesprächsführung
Über den Umgang mit Deutungen
Stellen Sie selbst Ihre Deutungen in Frage!
Über den Umgang mit Gesprächspausen
Über den Umgang mit Ratschlägen
Über den Umgang mit Allgemeinsätzen
Über den Umgang mit eigenen Erfahrungen
Über den Umgang mit so genannten „guten Absichten"
Über den Umgang mit „Gesunden und „Kranken
Über den Umgang mit Persönlichkeitsstrukturen
Über den Umgang mit Gesprächsanteilen bei zwei Ratsuchenden
Wenig hilfreiche Fragen an den Ratsuchenden
Fragen zu Gebieten, die der Ratsuchende nicht angesprochen hat
Suggestivfragen und mehrere Fragen auf einmal
Kapitel 7
Über den Umgang mit Glaubensproblemen
Beispiel: Beten
Beispiel: Besuch bei einem unheilbar Kranken
Beispiel: Ich habe schreckliche Angst!
Beispiel: Wenn das Ende kommt
Kapitel 8
Wie kommt es zur Lebensstilkorrektur?
Wann wird eine Lebensstiländerung fruchtbar?
Praxis der Gesprächsführung ‒ Vier Schritte
Es gibt Veränderungen nach einem Gespräch
Was schränkt Lebensstiländerungen ein?
Die Lebensstilkorrektur ‒ mit Gottes Hilfe
Kapitel 9
Über den Umgang mit Vergebung und Beichte
Vergebung ist ein Prozess
Vergebung ist ein erster Schritt
Wenn nach der Vergebung bittere Gefühle bleiben
Vergebung und Befreiung bei okkulten Belastungen
Beichte und Vergebung
Fragen zur Selbstprüfung
Vergebung und das konkrete Gebet
Wie konkret beten wir?
Wie lauten hilfreiche Gebete?
Vergeben und Verzeihen in Ehe und Partnerschaft
Literaturhinweise
Stichwortverzeichnis
Vorwort
Gesprächsführung ist die Grundlage für eine fruchtbare und hilfreiche Seelsorge. Gespräche bestimmen das Klima zwischen Ratsuchendem und Seelsorger.
Gesprächsführung ist das Band der Verständigung zwischen den Parteien.
Unter Gesprächsführung verstehen wir die Kunst,
den Ratsuchenden ernst zu nehmen,
die Probleme zu erkennen und zu verstehen,
die Motive und Hintergründe der Symptome zu erhellen
und mit Gottes Hilfe gemeinsame hilfreiche Lösungen zu suchen.
Was beinhaltet beratende und therapeutische Seelsorge?
Beratende therapeutische Seelsorge ist vom Wesen her biblische Seelsorge. Im geistlichen Sinne ist der Mensch kein Selbstversorger, sondern darauf angewiesen, umsorgt zu werden. „Alle eure Sorge werft auf ihn; er sorgt für euch", heißt es in 1. Petrus 5,7. Das bedeutet also, der eigentliche Seelsorger ist Christus, wir sind seine Werkzeuge und Mitarbeiter.
Therapeutisch meint zweierlei: Das griechische Wort „therapeuo bedeutet „dienen
und „helfen". Von daher sind therapeutische Seelsorger keine Psychotherapeuten oder Ärzte, sondern berufene Mitarbeiter des Herrn. Jesus hat seine Jünger und uns dazu berufen, zu predigen und zu heilen (Markus 6 und Matthäus 10). Wortzeugnis und Tatzeugnis, Glaubenshilfe und Lebenshilfe gehören unverbrüchlich zusammen.
Auf der anderen Seite verwendet man aber auch methodische und wissenschaftliche Hilfen aus den Humanwissenschaften. Therapeutische Seelsorge ist Fachseelsorge. Therapeutische Seelsorge ist ganzheitliche Seelsorge. Glaubensprobleme, Ehe-, Lebens- und Familienkonflikte werden aus dem Lebensstil dieses Menschen erklärt. Die unbewussten Ziele und Motive der Symptome werden diagnostiziert und bewusst gemacht. Therapeutische Seelsorge zielt nicht nur auf Heilung von Ängsten, von Beziehungsstörungen und von seelischen Verwundungen, von Lebens- und Familienproblemen, sondern hat das Heilwerden in Christus im Auge.
Von daher sollte auch jedes seelsorgerliche Gespräch mit dem Gebetsruf beginnen: „Herr, ich bin dein Werkzeug, dein Mitarbeiter, dein Mund. Ich verlasse mich auf deinen Heiligen Geist, der meine Gespräche steuert. Ich danke dir, dass du der Dritte in unserer Mitte bist."
Dieses Buch über Gesprächsführung in der Seelsorge ist in erster Linie für Laien gedacht, die als bewusste Christen in der Gemeinde und für die Gemeinde Seelsorge treiben. Ich hoffe aber, dass auch Prediger, Diakone, kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einen Gewinn davon haben.
Bewusst habe ich darauf verzichtet, alle Hilfen, Methoden und Instrumente, die aus verschiedenen humanwissenschaftlichen Bereichen genommen sind, literarisch exakt zu belegen. Ich habe Anregungen
aus der Gesprächspsychotherapie von Karl Rogers,
aus der Individualpsychologie von Alfred Adler,
aus der rational-emotiven Therapie von Albert Ellis,
aus der Logotherapie von Viktor E. Frankl,
aus der kognitiven Therapie
und aus Büchern und Belegen von Jay E. Adams, Werner Jentsch, Lawrence J. Crabb, Michael Dietrich und vielen anderen verwendet.
Die Anregungen sind das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit als Seelsorger und Berater. Über 20 Jahre habe ich eine Beratungsstelle für Ehe-, Lebens- und Familienfragen in der Landeskirche geleitet. Vor dreizehn Jahren habe ich mit meiner Frau und meiner Tochter ein Institut für beratende und therapeutische Seelsorge gegründet, in dem engagierte und bewusste Christen in Lehrgängen dafür ausgebildet wurden, eine fachlich kompetente Seelsorge zu leisten.
Dieses Institut hat im Jahre 2000 seine Arbeit eingestellt. Inzwischen haben sich daraus aber drei weitere Institute gebildet, die die Arbeit fortsetzen.
Kapitel 1
Was ist Seelsorge?
Der Begriff Seelsorge kommt in der Bibel nicht vor. Die Bibel beschreibt aber die unterschiedlichsten seelsorgerlichen Aktivitäten. Da der christliche Glaube alle Lebensbereiche umfasst, hat Seelsorge immer mit Glaubens- und Lebenshilfe zu tun. Seelsorge ist praxisbezogene Vermittlung des Evangeliums in Form von freien Gesprächen, in denen die Seelsorge Gottes zur Sprache kommt. Professor Werner Jentsch hat die Haupttätigkeiten des Seelsorgers präzise mit „beraten ‒ bezeugen ‒ und befreien" gekennzeichnet. Das heißt, der Seelsorger bringt sich persönlich als Zeuge ein, versucht sachlich und kompetent Gespräche zu führen und befreit den Ratsuchenden im Namen Jesu von Schuld und Sünde, wenn dieser darum bittet.
Der hebräische Begriff für Seele, nämlich nefesh, weist darauf hin, dass der Mensch einen Leib hat. Seele ist ein an den Körper gebundenes Leben. Seele ist nach biblischem Verständnis das lebendige Geschöpf. Seelsorge beschäftigt sich also mit dem ganzen Menschen,
mit seiner Körperlichkeit,
mit seinem Denken,
mit seinen Gefühlen, Emotionen und Affekten
und mit seinem geistlichen Erleben.
Sorge spielt im Neuen Testament eine große Rolle. Paulus sorgt sich um die Gemeinde (2. Korinther 11,28). Paulus spricht von der „wechselseitigen Seelsorge der Gemeindeglieder untereinander (1. Korinther 12,25). Jesus will, dass die Sorge überwunden wird: „Sorget nicht!
(Matthäus 6,25). Das eigentliche Monopol für die Sorge liegt bei Gott. Seelsorge ist in der Tat sorgemotiviert.
Seelsorge ist also Personensorge und Menschensorge im Namen Jesu. Dieser Zusammenhang wird bereits auf den ersten Seiten der Bibel deutlich: „Da bildete Gott, der Herr, den Menschen aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens. So wurde der Mensch eine lebendige Seele" (1. Mose 2,7).
Der Mensch bekam die Seele nicht als Zubehör, er wurde eine lebendige Seele. Früher sagte man im Volksmund völlig richtig: „Der Ort hat dreihundert Seelen." Gemeint sind dreihundert Menschen, dreihundert Personen aus Fleisch und Blut.
Jesus Christus bildet die Mitte der Seelsorge und darf von diesem Platz nicht verdrängt werden.
Ziel der Seelsorge
Das Ziel der Seelsorge besteht darin, den Menschen in seinen Nöten zu verstehen, ihn in seinen Problemen und Schwierigkeiten zu begleiten, ihm Trost zu vermitteln und mit ihm gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Der Seelsorger will Raum für Gottes Wirken öffnen, so dass der Ratsuchende eine Begegnung mit Jesus Christus in seinen konkreten Problemsituationen erfahren kann.
Ziel der Gesprächsführung in der Seelsorge ist,
dass der Ratsuchende seine Probleme mit allen Einzelheiten ausbreiten kann und schon dadurch ein Stück Entlastung erfährt;
dass dem Ratsuchenden bewusst wird, dass alle Probleme ganzheitlich zu verstehen sind. Sie tangieren Leib, Seele und Geist, Gott und die Mitmenschen;
dass der Ratsuchende sich mit allem, was er zu sagen hat, verstanden und ernst genommen fühlt;
dass der Ratsuchende mehr zu seinem wirklichen Wesen, zu seinem Ich und zu seiner Persönlichkeit findet;
dass der Ratsuchende sich als gleichwertiger Mitarbeiter im Beratungsprozess versteht;
dass der Ratsuchende den Mut und die Freiheit gewinnt, ohne Angst und ohne Abwehr über Schwierigkeiten und Belastungen seines Lebens oder über Beziehungsstörungen zu sprechen;
dass der Ratsuchende ermutigt wird, über Glaubensfragen, Glaubenszweifel und Glaubensängste zu sprechen;
dass der Ratsuchende lernt, mehr Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit zu entfalten;
dass der Ratsuchende die Stärke gewinnt, unabhängiger (auch vom Seelsorger) zu werden, um selbst Lösungen für seine Probleme zu finden;
dass der Ratsuchende zur Selbsthinterfragung angeregt wird und den Sinn und das Ziel seiner Verhaltensmuster und Lebensgrundeinstellungen versteht;
dass der Ratsuchende als Christ lernt, die versteckten Wünsche, Ziele und Motive seiner möglichen Probleme konkret ins Gebet zu nehmen;
dass der Ratsuchende gewonnen wird, konstruktive Veränderungen und Lebensstilkorrekturen als Mensch und Christ zu erfahren.
Zum Verhältnis von Heil und Heilung
Durch den Sündenfall gehört der Mensch zur gefallenen Welt. Sünde, Tod und Teufel als Feinde Gottes beweisen ihre Macht. Gleichzeitig ist jeder Mensch aber ein Geschöpf Gottes. Er ist begabt, zu denken, zu fühlen, zu handeln und sich für oder gegen Gott zu entscheiden.
Ohne eine Beziehung zu Jesus Christus lebt der Mensch getrennt von Gott. Er ist ein Sünder und benötigt die Erlösung durch Jesus Christus. Dieses Heil ist menschlich nicht machbar, es ist dem Menschen allein in Christus zugesprochen.
Seit dem Sündenfall lebt der Mensch eine dreifache Störung:
er hat Beziehungsstörungen mit sich,
er hat Beziehungsstörungen mit anderen,
er hat Beziehungsstörungen mit Gott.
Durch körperliche Störungen, durch falsch verarbeitete Lernprozesse von früher Kindheit an und durch Verhaltens- und Einstellungsstörungen können Denken, Handeln und Fühlen des Menschen verändert werden. Drei verschiedene Möglichkeiten gibt es, seelische Störungen zu heilen oder zu verringern:
medikamentöse Behandlung,
Veränderung der bisherigen Lebenseinstellung,
Wiederherstellung der Beziehung zu Gott.
Bei überwiegend körperlich begründeten Störungen, etwa Psychosen oder endogenen Depressionen, werden in erster Linie Medikamente eingesetzt. Bei so genannten neurotischen Störungen, etwa Zwängen, Ängsten, Entscheidungsschwächen, Süchten und Phobien, können verschiedene therapeutische Schulen helfen.
Menschen können Heilung erfahren, aber kein Heil. Denn das Heil ist eine geistliche Dimension. Es geht um Sünde und Trennung von Gott. Menschen, die hier im letzten Sinne des Wortes heil werden, erfahren in der Regel auch Heilung auf vielen anderen Lebensgebieten.
Seelsorger, die Heil und Heilung eines Menschen im Auge behalten, betreiben eine ganzheitliche Seelsorge. Denn selten ist ein Problem nur auf einen Aspekt des Menschen bezogen. In der Regel ist es so, dass der ganze Mensch in allen Lebens- und Glaubensbezügen betroffen ist.
Der Theologe und Therapeut Wolfgang Bittner hat über Heil und Heilung ein Buch geschrieben, in dem er formuliert:
„Wovon gehen wir aus? Mit Jesu Wiederkunft, auf die unser Leben und unser Dienst ausgerichtet sind, ist uns ein ,Datum’ gegeben, das uns leiten muss. Erst mit seiner Wiederkunft wird der Tod als der letzte Feind überwunden sein. Vorher ist eine Heilung von Krankheit ebenso wie die Totenerweckung Zeichen der kommenden Herrschaft Gottes und nicht die Normalität. Solange der