Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle
link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle
link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle
Ebook318 pages3 hours

link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Zwanzig farbenfrohe und humorvolle Erzählungen, von denen einige durch Literaturpreise ausgezeichnet wurden, sind formal aneinander gekettet durch kurze Überleitungen, die das geschilderte Farbspektrum erläutern und beleuchten. Sie führen in eine Lesewelt, die je nach Betrachtung als Roman oder eine Sammlung separater, individueller Kurzgeschichten interpretiert werden kann.
Sie behandeln Fragen nach Wissen und Glauben, Mitleid und Folter ebenso wie aktuelle Veränderungen bei uns Menschen in Gesellschaft und Umwelt, Vergangenheit und Zukunft, Moral und Politik in fröhlicher, spannender oder tragischer Darstellung.
Hierbei werden historische brutale und unmenschliche Vertreibungen (Gedächtnis der Steine, Das Geheimnis des Sevansees) ebenso geschildert wie aktuelle Flüchtlingsfragen (Ein Strandurlaub, Die Vertreibung des Oso radicular, Das Verbrechen der Existenz), soziale Verhaltensweisen (Die Demut des Siegers, Mohammad Kohlhaas, Der Sitzplatz der Emma Friedberg) oder technologische Entwicklungen und deren Folgen (Noahs Testament, Der Drohnenflüsterer, Die unüberbrückbare Brücke zum Paradies).
Dieses Buch erweckt Freude am Lesen, verbindet humorvolle Geschichten mit Nachdenken über Zufall und Verantwortung, vermittelt Verständnis für menschliche Verhaltensweisen bei Sieg und Niederlage, Recht und Unrecht, Pech und Glück, Isolation und Kommunikation.
So wird erzählt: „In unserem Innersten sind wir zu allem fähig. Davon kann die Natur, unser aller Schöpfer, noch lernen. Er muss nur die richtige Verbindung einrichten“.
LanguageDeutsch
PublisherLehmanns
Release dateJun 13, 2016
ISBN9783865419040
link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle
Author

Klaus Kayser

Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. h.c. mult. Klaus Kayser, geb. 1940, Professor für Pathologie und Epidemiologie an der Universität Heidelberg und an der Universität Berlin, Campus Charite. Studium der Physik und Medizin an den Universitäten Göttingen und Heidelberg, Direktor des Telepathologie Konsultationszentrum der Union International contre le Cancre (UICC TPCC), zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Physik, Medizin und Pathologie.

Read more from Klaus Kayser

Related to link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    link(s) zum paradies - recht(s) nah der hölle - Klaus Kayser

    link(s) zum paradies

    -

    recht(s) zur hölle

    Klaus Kayser

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

    © 2016 Lehmanns Media Verlag

    Helmholtzstraße 2-9 • 10587 Berlin

    www.lehmanns.de

    Korrektorat: Marianne Günther

    Umschlagbild: PD Dr. Gian Kayser

    ISBN 978-3-86541-894-4

    Für Charlotte, Christina, Johannes, Julia, Theresa,

    sowie Corinna, Gian, Claudia, Maria-Consuelo und Martin

    Der Autor

    Klaus Kayser, Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. h.c. mult.

    Professor für Pathologie und Epidemiologie an den Universitäten Heidelberg und Berlin. 1940 in Berlin geboren, Studium der Physik und Medizin in Göttingen und Heidelberg, lebt seit 1970 in Heidelberg

    Neben mehreren Fachbüchern schrieb der Autor humorvolle und kritische Bücher:

    Zeitgedanken und Spiegeldenken, Rendezvous, Baden-Baden, 2000;

    Der Tod eines Körperspenders, Lehmanns Media, Berlin, 2005;

    Terror im T-Team, Lehmanns Media, Berlin, 2012, Rheindorf Literaturpreis;

    Restrisiko oder die heiligen Kühe der Nation, Lehmanns Media, Berlin, 2013;

    Erlebtes Erleben, Ein Gedichtporträt, Lehmanns Media, Berlin, 2016;

    Die wunderlichen Erzählungen des Jupp Kiepenlad, Lehmanns Media, Berlin, 2016

    Zu der ersten Erzählung

    „Tief ist der Brunnen des Gedächtnisses. Wir schöpfen aus ihm und füllen ihn tagtäglich wieder auf."

    So sprach vor einigen Jahren, als ich mich nach einer längeren Wanderung auf eine weit in das vor uns gelegene Tal, den Ambergau, schauende Bank am Hainberg, im Vorharzgebirge, zu einem ergrauten, mit einem Wanderstock bewaffneten knorrigen Mann gesetzt hatte, dieser zu mir. Freundlich hatte ich um seine Zustimmung gebeten, mich neben ihm ausruhen zu dürfen. Er nickte leicht, schien dann aus einer von seiner Wanderung getragenen inneren Einsamkeit zu erwachen. „‚Tief ist der Brunnen der Vergangenheit„, so sagt Thomas Mann, ergänzte ich. „Und: ‚Steinig ist der Weg in das Licht„.

    Er schaute mich kurz mit seinen tiefblauen Augen an und

    meinte: „Ja, ja. Steine sind die Erinnerung an uns Menschen,

    an längst von der Ewigkeit verschluckte Lebewesen, an wütende, jetzt in Frieden geglättete Naturkatastrophen, an das Feuer in der Erde. Sie überleben das Leben und weisen dem, der ihre

    Sprache versteht, den Weg in die Zukunft. „Steine sind grausam. Sie töten und lassen Menschen verhungern. Sie schmiegen sich nicht, wie die sanfte Erde, um die Tritte der Bauern. Sie verbergen sich unter schäumenden Wellen und lassen Schiffe zerbrechen. Sie täuschen freie Sicht und ein himmlisches Gefühl der Freiheit, der Brüderlichkeit in das Auge des Wanderers und stürzen ihn, wenn er auch nur einen Augenblick unvorsichtig ihrer Verführung folgt, tief hinab in den Abgrund. Sie speichern alles in ihrem Gedächtnis, versuchte ich, meine zugegeben skeptische Vorstellung über Steine, ihr Wesen und ihre Beziehung zu uns Menschen darzulegen.

    „Dort, wo die Steine übermächtig sind, wo sie Himmel und Erde beherrschen, dort erzählen sie auch von dem Leid der Menschen, die über ihnen ihr kärgliches Leben gefristet haben", fuhr ich fort.

    „So? Ich habe mich bei meinen Wanderungen immer an den Steinen erfreut, immer in ihnen Brüder und treue Freunde gesehen. Viele farbige Steine habe ich entdecken können, so manchen aufgehoben und gesammelt. Sie sind mein Gedächtnis. Aber, wo ist denn das Land der Steine?", fragte er interessiert.

    „Es liegt, wohl kein Zufall, in dem uralten Christenland, Armenien. Dort hat mir ein Freund auf seiner Reise berichtet:

    ‚Im Land der Steine,

    der Steine Land, gesegnet ich meine,

    meine Seele ich fand", sagte ich zu ihm.

    „Hm, um meine Seele zu finden, brauche ich nicht in das Land der Steine zu reisen. Ich habe sie hier, auf meiner Wanderung durch den Hainberg vor Jahren, als es noch keine Autobahn und Wilderer gab, nach Kräften behütet und nach ihrem Gedächtnis geforscht", erklärte er mir gutmütig.

    Ich sah ihn, den alten, knorrigen Wanderer in seinen Erinnerungen kramen. Ein flüchtiges Lächeln strich über seine Lippen. Sicher dachte er an seine Familie, seine Kinder, seine Jagdhunde, an Pirschen durch sein jetzt von Autobahn und Wilderern verunstaltetes Revier, an seine nur ihm eigene glückliche Vergangenheit.

    ‚Steine sind die Brüder unserer Vergangenheit', dachte ich. ‚Sie liegen schwer im Herzen, glänzen im Mondlicht einer lieblichen Nacht, tanzen auf dem Wasser der Gegenwart, wie man sie als Kind mit Schwung und Eleganz auf den leichten Wellen eines Flusses oder Sees hüpfen ließ. Sie sind die Anker von Verstorbenen in das Leben, sichtbar und fest verzurrt auf jedem Friedhof.„

    Ich räusperte mich.

    „Hm, Steine sind Brüder, ja, sie sind wirklich Brüder, von uns Menschen. Sie lieben uns Menschen in ihrem Gedächtnis, begleiten uns auf unseren Wanderungen. Ich darf Ihnen sagen ..., ach, bitte, hören Sie einfach zu."

    Das Gedächtnis der Steine

    „Steine sind Brüder, die sich gleichen und ein Gedächtnis besitzen. Erst der Mensch erzeugt ihre Unterschiede", erklärte mir ein bartumwobener ergrauter Mann jenseits der Lebens-wende.

    So sprach auch Großvater Yervand Tehliryan zu seinem Enkel Soghomon.

    Auf meine und Soghomons Frage:

    „Wie kann ein lebloses Ding, ein Stein, der weder hören noch sehen oder gar denken kann, ein Gedächtnis besitzen?", erklärte Yervand seinem Enkel und mir schmunzelnd der bärtige Mann:

    „Man muss stets Denken und Fühlen trennen von dem, was man zum Denken oder Fühlen benötigt, dann besitzt jedes Ding in und um uns herum ein Gedächtnis."

    „Alles um mich herum hat ein Gedächtnis? Auch mein Glas Bier hier auf dem Tisch oder der Schnaps in Ihrem Glas?, schmunzelte ich zurück, und Soghomon fragte: „Großvater, du und ich haben ein Gedächtnis, aber Steine können doch gar kein Gedächtnis haben?!

    „Soghomon, bitte schenk mir Cognac ein. Was spielen wir? Pachisi oder armenische Mühle?"

    Yervand trank einen gewaltigen Schluck von dem Cognac, nahm den Pachisistein in die rechte und einen Mühlestein in die linke Hand.

    „Welche Hand wählst du? Dann erkläre ich dir, wie das Gedächtnis der Steine funktioniert."

    „Ich berichte Ihnen eine wahre und dokumentierte Geschichte, wenn Sie mir noch einen Schnaps spendieren. Sie ist der unbestreitbare Beweis, dass und wie ein Steingedächtnis im Prinzip funktioniert. Wenn etwas funktioniert, dann muss es im Prinzip auch existieren, nicht wahr?"

    Ich nickte interessiert und, ganz gegen meine sonstige Gepflogenheit, spendabel.

    „Am besten erzähle ich Ihnen die Geschichte der drei Brüdersteine, die durch ihr verwandtes Schicksal und ihr Gedächtnis gewiss als Brüder zu bezeichnen sind. Ihre gleichförmig verlaufende Gedächtnisspur ist gewissermaßen der genetische Fingerabdruck, der sie trotz aller zeitlichen und räumlichen Unterschiede als Verwandte, als Brüder zuordnet.

    Die drei Brüdersteine sind von Meisterhand aus unterschiedlichem Gestein geformt worden.

    Der erste Bruder, genannt Mühlestein, ist ein münzenartig geschnitzter Obsidian, schwarz, wie er zu Brettspielen, Mühle, Backgammon oder zum Ritterspiel bei den Armeniern benutzt wird.

    Der zweite Bruder ist aus Malachit, dunkelgrün mit schwarzen Adern und in Form eines abstrakten Soldaten gestaltet. Er heißt Pachisistein.

    Der dritte Stein ist der größte, zeigt in weißem Marmor ein springendes Pferd und entstammt einem persischen Schachspiel."

    „Wir spielen Mühle, einverstanden? Du nimmst die schwarzen Obsidiansteine. Den grünen Pachisistein behalte ich in meiner Hand. Das spielen wir, zur Entspannung, danach", bestimmte Yervand.

    „Hören Sie mir genau zu und formen Sie Ihr Gehirn. Ich werde Ihnen die Geschichte von dem Gedächtnis der Steine nur einmal erzählen", erklärte mir der Alte, und dann folgte seine Geschichte:

    Zu dem Spiel kam es nicht.

    Denn an diesem ruhigen Sonntag im Mai des Jahres 1915, an dem Großvater Yervand Tehliryan mit seinem Enkel Soghomon in dem kleinen armenischen Dorf Pakaritsch, wenige Kilometer von Erzincan entfernt, armenische Mühle spielen wollte, wütete ein bitteres, die Familie vernichtendes Unglück.

    Die Mutter kochte in der Küche, der ältere Bruder wollte zu Besuch kommen, um mit dem Vater, der ein wohlhabender Kaufmann war, die unheilvollen drohenden Wolken von Vertreibung und Tod zu besprechen.

    Soghomon hatte einen Mühlestein ergriffen, um seinen Großvater mit einem Geniestreich zu bedrängen, als ein hochgewachsener türkischer Offizier seine Soldaten vor dem Haus in Stellung brachte, die Haustür aufriss und mit harter Stimme den Tehliryans befahl, das Haus auf der Stelle zu verlassen und ihnen zu folgen.

    Großvater meinte noch: „Soghomon, behalte und verstecke den Pachisi-und den Mühlestein. Sie werden dir dein Gedächtnis sein."

    Dann erhob er sich würdevoll und trat vor die Tür. Soghomon versteckte sich hinter dem schweren Sessel, auf dem der Großvater gesessen hatte. Die Soldaten übersahen ihn. Die Ankunft des Bruders, der ebenfalls abgeführt wurde, hatte sie abgelenkt.

    Soghomon stahl sich aus dem Haus, suchte in den Bergen Schutz bei Kurden und floh nach Tiflis in Georgien.

    Vater, Mutter, Großvater und die weiteren Familienmitglieder wurden gequält, vergewaltigt, ermordet. Ihre Leichen vermoderten ausgedörrt wie Kamelkot im Wüstensand.

    Die beiden Steine, der schwarze Mühlestein und der grüne Pachisistein waren Soghomons Zeugen der furchtbaren Ereignisse in seiner Kindheit, waren Grundlage und Gedächtnis seiner Erinnerung.

    Später, im Jahr 1943, fanden sie ihren Bruder, den Springerstein.

    Und das geschah so:

    Fern von Tiflis, in Berlin, in der Albrechtstraße, lebte die junge Jüdin Esther Weinstein. Sie war ausgesprochen attraktiv, oder, wie man heute sagt, sexy, und verlobt mit dem angehenden, zum Militär eingezogenen, an die Ostfront abkommandierten rein arischen Juristen und Ritterkreuzträger Werner Lüchow.

    Ihre Eltern waren von der Gestapo verhaftet und in Buchenwald ermordet worden; sie selbst blieb bisher wegen der militärischen Verdienste ihres Verlobten und dessen Beziehungen verschont.

    Sie und ihre bereits verwitwete Freundin Lucie Ritter waren begeisterte Schachspielerinnen. Sie trafen sich regelmäßig in Esthers Wohnung zu Spiel und Muckefuck, dem Kaffeeersatz.

    Esther hatte soeben ihren weißen Springer ergriffen, um dem schwarzen König Schach zu bieten, als es heftig an der Wohnungstür klopfte. Zwei Männer in schwarzen Ledermänteln forderten barsch: „Wir müssen Frau Esther Weinstein festnehmen und auf die Wache bringen."

    Lucie sagte zu Esther: „Ich gehe. Mir werden Sie nichts tun. Versteck dich im Bad und lauf sofort zu meiner Wohnung, wenn die Luft rein ist."

    Sie stand auf, gab Esther ihren Wohnungsschlüssel, rief kurz: „Ich komme!", zog ihren Mantel an und folgte den Männern.

    Nach stundenlangen Verhören, bei denen Lucie einwandfrei beweisen konnte, dass sie rein arischen Blutes, dass ihr ebenfalls arischer Ehemann an der Westfront gefallen war, wurde sie in ihre Wohnung entlassen, die sie mit ihrer ebenfalls verwitweten Schwester Gertrud Krüger teilte.

    Dorthin war Esther überhastet mit einigen in der Eile zusammengerafften Kleidungsstücken, dem wichtigsten Schmuck und dem Schachstein, den sie unbewusst in ihre Handtasche gesteckt hatte, geflüchtet.

    Es gelang den beiden Schwestern, Esther versteckt zu halten und durchzufüttern, bis die braunen Ungeheuer aus Berlin vertrieben wurden und ein russischer Offizier in die Wohnung der beiden Schwestern Einlass begehrte.

    Der Offizier hieß Soghomon Tehliryan. Er war mit zahlreichen Orden dekoriert und gehörte einer Spezialeinheit zur Fahndung nach Fahnenflüchtigen und Kriegsverbrechern an

    „Bei dieser Begehung fanden die drei Brüdersteine zusammen, und ich kann somit die Behauptung über das Gedächtnis der Steine und seine Vergänglichkeit beweisen", unterbrach der alte Mann seine Erzählung

    Die beiden Schwestern hatten ein uraltes, dem Pachisi-Spiel nachempfundenes „Mensch ärgere Dich nicht"-Spiel auf dem Jahrmarkt erworben. Sie spielten es oft, auch zu dem Zeitpunkt, als Soghomon Tehliryan die Wohnung betrat. Es beruhigte sie und war Grundlage ausführlicher Diskussionen über die ungewisse Zukunft.

    Angstvoll standen die Frauen vor Soghomon, der über die kunstvoll geschnitzten Biedermeier Möbel und die mit grünem Samt überzogenen Stühle staunte. Dann fiel sein Blick auf das „Mensch ärgere Dich nicht"-Spiel.

    „Woher du haben Pachisi-Spiel?", fragte er barsch.

    „Wir haben es gekauft. Auf dem Basar. Vor ungefähr einem Jahr", sagte Lucie.

    „Du zeigen Steine. Wieviel grün?"

    „Nur drei. Ein Stein fehlt. Wir haben ihn durch diesen Knopf ersetzt", erklärte Lucie und zeigte dem Offizier die drei Steine.

    Soghomon, das bedeutet übersetzt Salomon, nahm die drei Steine in seine Hand, legte sie erregt auf den Tisch, griff in die Innentasche seiner Uniform und legte die zwei Brüdersteine, den Mühlestein und seinen Pachisistein zu den drei Steinen.

    „Du sehen, jetzt vier Pachisisteine und zwei Brüdersteine, Mühle und Pachisi. Steine immer sein gleich. Menschen machen Unterschied zwischen Stein: großer Stein, teurer Stein, schöner Stein, wichtiger Stein, lustiger Stein. Mein Pachisistein sein trauriger Stein."

    Lucie und ihre Schwester hörten erstaunt zu. Sie verstanden kein Wort. Esther aber nahm sich ein Herz und fragte: „Sie sagen, Ihr Pachisistein sei ein trauriger Stein? Warum?"

    „Weil er haben ansehen müssen und haben im Gedächtnis Vertreibung und Tod meiner Familie", sagte Soghomon bitter.

    In einem Anflug von Mitleid und Trauer ging Esther einen Schritt auf Soghomon zu, der verunsichert nach seiner Pistole griff.

    Sie tröstete: „Du und deine Brüdersteine sind nicht allein. Hier, sieh, ich habe einen dritten Bruderstein, den Springerstein. Er gedenkt der Ermordung meiner Familie."

    Sie griff zu ihrer Handtasche und legte den marmornen Springerstein zu den übrigen Steinen.

    Lucie, die fröhliche und lebensfrohe Schwester, sah Soghomons Betroffenheit, so, als habe er ein Fehlurteil gesprochen.

    „Kommt, Kinder, wir feiern das Zusammentreffen der Brüdersteine! Ich habe da noch einen guten Cognac aus der Vorkriegszeit." Sie griff nach den Steinen, vorsichtig, aber kraftvoll, und legte sie auf die eckständige Schreibtischkommode.

    Dann ging sie beherzt zu Soghomon, nahm seinen Arm und sagte: „Willkommen. Jetzt vergessen wir das Gedächtnis der Steine, feiern und freuen uns auf das Morgen."

    „Ich werden besorgen Kaviar und Wodka", versprach Soghomon

    ...„Da war viel Freude unter diesen Menschen. Das Gedächtnis der Steine verdunstete bei Cognac und Wodka in der anrückenden Zukunft. Es wurde Vergangenheit. Wie das Leben der Menschen", sagte der ergraute Mann jenseits der Lebenswende zu mir, und abschließend:

    „Ich muss noch richtigstellen: Soghomon Tehliryan ist nicht zu verwechseln mit Salomon Tehlirian, der seine gesamte Familie durch den Genozid verlor und der am 15. März 1921 in Berlin den für diese Ereignisse mitverantwortlichen ehemaligen türkischen Minister Talat Pascha erschoss."

    Zu der zweiten Erzählung

    Südtirol sei ebenfalls ein Land der Steine?

    Nein, sicher nicht! Wäre dem so, dann hätten sich die zahlreichen Rentnertouristen, die im Herbst die noch im Verglühen wärmende Sonne genießen, die sich mit Höckerschuhen auf leichten Wanderwegen zum nächstgelegenen Café hinabtapsen und am Abend den lieblichen Kalterersee Wein zum Begrünen ihrer verdämmernden Gemütsstimmung trinken, schon längst in andere liebliche Urlaubsregionen verzogen.

    Nein, Südtirol ist ein Land der Berggipfel, Steilfelsen, grünen Almen und breiten Täler, an deren Hängen Wein und gepflegte Apfelbäume ihre Früchte reifen lassen. Es ist ein Land am Ende des Nordens und am Anfang des Südens. Hier vermählen sich Kälte und Wärme so wie der Mond und die Sonne: stets voneinander getrennt, aber immer vereint und auf sich wartend.

    „Die Freiheit ist unser Reich, unser Begehren, unser Leben und unsere Kraft", sagte mir ein junger Skifahrer, der mit einem Snowboard in teuflisch wilder Fahrt die Piste hinunterraste.

    „Hier auf der Seiser Alm ist die Freiheit so groß wie ein stampfender, vor seinen Feinden fliehender Elefant in der Steppe: Er kann frei seine Wege wählen, nichts kann ihn aufhalten, niemand kann ihn sehen, aber das zertrampelte Gras auf seinem Weg ist wie eine Schlange um seinen Hals, die ihn umbringt."

    „Das verstehe ich nicht. Hier, auf euren Almen, in euren Tälern, von euren in den Himmel ragenden Berggipfeln haben eure Helden ihre Freiheit, ihre Sprache, ihre Frauen, Töchter und Söhne verteidigt, immer wieder und, na ja, nicht immer erfolgreich, aber immerhin mit eindrucksvollen Kompromissen", sagte ich ihm und versuchte, meine Geschichtskenntnisse zu ordnen.

    „Unsere Freiheit ist wie ein Elefant, der auf seinen Brettern die Piste hinunterrast, schnell und unaufhaltsam, völlig frei kann er nach links oder rechts wedeln. Aber immer muss er hinab zum endgültigen Ziel im Tal, dem Ende aller Pisten!

    Wir wissen, die Freiheit zu verteidigen. Wir wissen, wohin sie führt! Das macht uns friedlich und kompromissbereit. Denn das Ziel liegt für alle gleich am Ende der Piste, wer immer sie gefahren ist."

    „Wieso? Die Freiheit ist doch die Fahrt hinab! Dass man sie überhaupt antreten kann! Dass niemand sagen kann: ‚Stopp, du da! Du hast hier nichts zu suchen! Lauf gefälligst zu Fuß!", versuchte ich zu widersprechen.

    Der junge Kerl lachte nur: „So einfach ist die Welt nun doch nicht! Um hinab zu fahren, muss man eine präparierte Piste haben. Die muss gegen alle Wetter der Natur geschaffen, gepflegt und erhalten werden. Erst dann kommt die Freiheit, sie benutzen zu können. Will sagen, die Bahnen der Freiheit müssen vor Chaos und Gewalt, auch vor den Mächten der Natur, gleich ob pflanzlicher, tierischer, menschlicher oder gar göttlicher Natur, geschützt und gesichert werden! Sonst ist es um die Freiheit geschehen. Sonst steigt das Ziel, das unausweichlich am Ende einer jeden Pistenfahrt erreicht werden muss, die Piste hinauf und sucht sich selbst den Elefanten, den hinabrasenden Snowboarder, den die Piste sichernden Freiheitshelden."

    „Der dann in Blut und Trümmer versinkt. Ein tapferer Soldat, erschossen auf dem befohlenen Vaterlandstrip, ein hirnverbrannter Gotteskrieger auf der rasenden Piste in sein ewiges Paradies. Ein Kindersoldat, geköpft auf der Dorfpiste seines Kameradenfeindes. Ein Söldner der antiken Hannibal-Armee auf der schmalen Elefantenpiste durch die Alpen. Die Mächtigen lassen nur selten ihre gleichzeitig aus der Ewigkeit entronnenen Untertanen bis an das naturbestimmte Ende ihrer Lebenspiste gelangen: Sie versprechen ihnen ein himmlisches Paradies unter der Bedingung, dass sie ihren Lebensweg hier auf Erden risikoreich verkürzen müssen.

    Ach, ihr unerkennbar Verstorbenen, ihr mitleidsträchtigen Zeitkameraden, ihr vernunftlosen Nachgeborenen, wie wahr wird eure Lebenspiste berichtet oder geschrieben werden?"

    Baragh, Hannibals Elefant

    „Das Ereignis, das ich hier erzähle, ist wahr." Zumindest sprach so Seppl Meyer, der alte Wanderführer in den Dolomiten. Also ist es wahr.

    Seppl Meyer, der sich von Herzen freute, wenn man ihn mit Seppl ansprach und nach den Namen der Berggipfel, nach zu entdeckenden Wildtieren oder nach der Bezeichnung seltener Pflanzen fragte, hatte eine ungefähr zwanzig Touristen umfassende Gruppe auf eine Berghütte zur Brotzeit geführt. Die Almgaststätte lag am Rand einer weit auslaufenden Alm und erlaubte einen freien Blick auf die angrenzende graue Bergkette und hinaufreichenden dichten Wälder.

    Seppl Meyer war schon alt. Ich würde ihn auf siebzig Jahre schätzen. Er trug

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1