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"Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.": Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936
"Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.": Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936
"Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.": Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936
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"Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.": Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936

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Der Sterzinger Bauernsohn Andrä Ralser war 1935 einer von rund 1.200 jungen Südtirolern, die in der faschistischen Ära unter Benito Mussolini in die italienische Armee eingezogen wurden, um am weit entfernten Horn von Afrika am Abessinienfeldzug teilzunehmen. Der Krieg war von zahlreichen Verstößen gegen die Haager Landkriegsordnung geprägt und endete 1936 damit, dass Äthiopien Teil des italienischen Kolonialgebietes in Ostafrika wurde.

Von seinem Kriegseinsatz hinterließ Andrä Ralser ein dichtbeschriebenes Notizbüchlein, in dem er seine Erlebnisse - beginnend mit der Überfahrt von Livorno nach Massaua über den folgenden Aufmarsch in Eritrea bis hin zu den Kämpfen im wilden Hochland Abessiniens - fortlaufend festhielt. Sorgsam von der Familie aufbewahrt, bildet das Tagebuch rund 80 Jahre später eines der wenigen erhalten gebliebenen schriftlichen Selbstzeugnisse von Südtirolern aus dem Abessinienkrieg. Ralser gibt darin tiefe Einblicke in seine Kriegserfahrungen und beschreibt auch, wie er die doppelte Fremdheit, als Europäer in Afrika einerseits und als deutschsprachiger Südtiroler in der italienischen Armee andererseits, wahrnahm.

Markus Wurzer spürt diesen Fragen nach und bettet das sorgsam edierte Tagebuch auch methodisch-theoretisch sowie in seinen historischen Kontext ein.
LanguageDeutsch
Release dateNov 23, 2016
ISBN9783703009242
"Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.": Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936

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    "Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen." - Markus Wurzer

    abstatten.

    1. Einleitung

    Als italienische Kampfverbände am 3. Oktober 1935 ohne vorherige Kriegserklärung in Abessinien einfielen, zwangen sie dem Kaiserreich am Horn von Afrika einen militärischen Konflikt auf. Zum Anlass der Aggression diente Benito Mussolini (1883–1945) ein mehrere Monate zurückliegender Zwischenfall an der Grenze zwischen Italienisch-Somaliland und Abessinien. Die tatsächlichen Kriegsgründe waren jedoch anderweitig gelagert: Seit der Eröffnung des Suezkanals waren die umliegenden Landstriche Anfang der 1870er Jahre zu Brennpunkten des Imperialismus geworden. Während Großbritannien und Frankreich bereits umfangreiche Gebiete in dieser Region besaßen, forderte Italien ebenfalls seinen „Platz an der Sonne" ein. Das Kaiserreich Abessinien – eines der wenigen afrikanischen Gebiete, das sich der europäischen Kolonialherrschaft bis Anfang des 20. Jahrhunderts entziehen konnte1 – erschien als ideales Ziel.

    Die Bedeutung des Konflikts reicht allerdings über die daran unmittelbar beteiligten Parteien hinaus. Der Schweizer Historiker Aram Mattioli will in ihm ein „Schlüsselereignis" der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erkennen. Handle es sich dabei doch einerseits um den ersten von einer europäischen – und faschistischen – Macht entfesselten Krieg seit der Gründung des Völkerbundes, der schließlich jene Konstellationen hervorbrachte, die unmittelbar in den Zweiten Weltkrieg weisen sollten.2 Andererseits sei in ihm kein verspätetes Kolonialunternehmen Italiens zu sehen, sondern ein mit modernsten Mitteln geführter Eroberungskrieg, der in seiner totalitären Gewaltdimension dem Nachfolgenden einiges vorweg genommen habe.3

    Trotzdem ist der Krieg am Horn von Afrika weder im europäischen noch im italienischen Gedächtnis präsent.4 In Italien wurden er und insbesondere die Verbrechen des faschistischen Regimes nach 1945 für lange Zeit tabuisiert.5 Das Feld wurde so der Erinnerungsliteratur überlassen: Veteranen veröffentlichten schon während des Krieges oder kurz danach und noch bis in die 1990er Jahre hinein eine unüberschaubare Anzahl von Kriegsmemoiren und konstruierten damit die Basis für eine „Meistererzählung", die das Regime und seinen Traum vom Imperium hochstilisierte.6 Beispielgebend dafür sei auf die Werke von Indro Montanelli verwiesen, der zwischen 1936 und 1938 drei Bücher über seine Kriegserlebnisse veröffentlichte.7 Darstellungen über den Abessinienkrieg blieben so bis in die 1960er Jahre hinein einseitig.8 Die Gründe dafür sind vielfältig: Nachfolgende Ereignisse überlagerten den Abessinienkrieg nicht nur in der öffentlichen Erinnerung, sondern zogen auch stärker das Interesse der Historikerinnen und Historiker auf sich. Der Nachholbedarf war außerdem der eurozentrischen Perspektive der Historiografie geschuldet, der schwierigen Quellenlage und dem mangelnden Willen der Alliierten nach dem gewonnenen Weltkrieg, Italien, das nun auch den Siegermächten angehörte, in einem Prozess, ähnlich jenem in Nürnberg, abzuurteilen. Während also in anderen Ländern die Studien zur Kolonialgeschichte schon um einiges weiter vorangeschritten waren, hatte man die Debatte über die italienische nach 1945 versäumt.9

    Erst in den 1960er und 1970er Jahren ist eine beginnende Beschäftigung mit der italienischen Kolonialgeschichte zu konstatieren. Der Abessinienkrieg wurde dabei besonders aus militär-, wirtschafts-, sozial- und politikgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. Im Vordergrund standen die Fragen nach Kriegsanlass und -gründen sowie nach dem Verlauf und den unmittelbaren Kriegsfolgen, bezogen auf den europäischen Weg hin zum Zweiten Weltkrieg.10 Erst Ende der 1990er Jahre erfolgte eine Öffnung durch kulturwissenschaftliche Zugänge. Italienische Historiker wie Angelo Del Boca, Giorgio Rochat und Nicola Labanca nahmen die öffentliche Erinnerung an den Krieg und dessen „entgrenzte Gewaltdimensionen" in den Blick,11 während Marco Lenci die Memoiren Indro Montanellis einer kritischen Betrachtung unterzog.12 Die Italian Studies begannen sich im anglophonen Raum etwa gleichzeitig, von postmodernen und postkolonialen Zugängen beeinflusst, mit der italienischen Kolonialgeschichte zu befassen. Trotz des raschen Anwachsens kritischer Literatur scheint der italienische Kolonialismus in der öffentlichen Erinnerung Italiens weiterhin ein vernachlässigtes Dasein zu fristen; die Legende, der Kolonialismus italienischer Prägung sei anders, toleranter und menschlicher gewesen als jener anderer europäischer Staaten, behauptet sich nach wie vor hartnäckig.13 Dass Aurelio Lepre und Claudia Petraccone noch 2008 in ihrer Storia d’Italia den Abessinienkrieg als „rapida conquista14 bezeichneten und damit den Mythos vom Krieg der sieben Monate nährten, dessen Gewalteruptionen eigentlich, wie Mattioli richtig anmerkte,15 bis 1941 andauerten, verwundert angesichts dieser Tendenzen nicht. Zudem ließen die beiden Autoren den massiven Einsatz von chemischen Kampfstoffen unerwähnt und gaben lediglich an, dass der Krieg mit „modi brutali16 geführt worden sei. Anzeichen eines Totalen Krieges attestierten sie dem Abessinienkrieg dagegen nicht; sie bezeichneten ihn als Kolonialkrieg.17

    Die deutschsprachige Historiografie, die sich mit dem Italienisch-Abessinischen Krieg beschäftigt, folgte lange Zeit ähnlichen Tendenzen wie die italienische.18 Die wichtigen italienischsprachigen Arbeiten von Del Boca, Rochat und Labanca wurden bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Trotzdem fanden ihre fruchtbaren Impulse in den letzten Jahren durch übersetzte Aufsätze in deutschsprachigen Sammelbänden19 und durch deutschsprachige Historikerinnen und Historiker, die sprachlich in der Lage waren, den italienischen Forschungsstand zu rezipieren, Eingang in die deutschsprachige Historiografie. So fragte Giulia Brogini Künzi in ihrer ausführlichen Studie aus dem Jahre 2006 etwa nach der „totalen Dimension des Krieges,20 während Mattioli den Konflikt als „Experimentierfeld der Gewalt21 ausdeutete.

    Die Beschäftigung mit Südtirolern22 im Spannungsfeld des Abessinienkriegs geht zurück auf eine Initiative des Südtiroler Landesarchivs im Jahre 2003. Drei Jahre später gab der Projektleiter Gerald Steinacher schließlich einen Sammelband heraus, der erste Erkenntnisse darlegen konnte.23 Im Blickpunkt standen die regionale Erinnerungskultur, die Beantwortung der Frage, wie viele Südtiroler überhaupt am Krieg teilgenommen hatten sowie die Erfahrungsgeschichte der Südtiroler Kriegsteilnehmer.24 Für die vorliegende Studie interessieren im Besonderen die Vorarbeiten hinsichtlich des letzten Punktes. Des Weiteren wurde im Sammelband versucht, die erfahrungsgeschichtliche Dimension über die Oral History und über das Medium der Fotografie zu öffnen. Während Martin Hanni Anfang der 2000er Jahre für das Projekt die letzten überlebenden Südtiroler Kriegsveteranen interviewen konnte,25 versuchten Gerald Steinacher und Ulrich Beuttler die Kriegserlebnisse der Südtiroler durch die Analyse von mehreren überlieferten Fotoalben (und einigen Briefen) zu skizzieren.26 In den folgenden Jahren entstanden weitere kulturgeschichtliche Studien, die sich mit der individuellen Erinnerung an die Teilnahme im Abessinien-, Spanischen Bürger- oder dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten.27

    Diese Arbeiten sind im Kontext einer aktuellen Tendenz in den Geschichts- und Kulturwissenschaften zu betrachten: Diese haben sich nämlich vor rund drei Jahrzehnten von der Ereignisgeschichte und einer „Geschichte der Großen Männer" abgewandt und widmen sich seitdem verstärkt einer Alltags-, Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte.28 Das Interesse am historischen Menschen und seiner Perspektive „von unten29, das heißt an seinem Denken, Verhalten, Erleben und Erfahren, boomt.30 Besonders ausgeprägt ist dieses Interesse gegenüber Individuen in biografischen Ausnahmesituationen. In erster Linie sind damit Kriege gemeint, stellen diese doch „für die kollektive und individuelle Erinnerung einen markanten Kontinuitätsbruch dar, indem sie maßgeblich in das Leben gesellschaftlicher Gruppen einerseits und jenes von Individuen andererseits eingreifen.31 Möglich wurde dieser Perspektivenwechsel schließlich erst durch die „Entdeckung" und methodische Verortung neuer Quellengattungen: den sogenannten Selbstzeugnissen wie Memoiren, Briefen und Tagebüchern, der Oral History sowie der Visual History32, die Filme und Fotografien als Quellen nutzt.33

    Während die ersten, vorhin genannten italienisch- und deutschsprachigen Impulsstudien zu den Erfahrungsdimensionen des Abessinienkrieges entweder auf die mündliche Überlieferung der Oral History, die schriftliche (Memoiren, Briefkorrespondenzen) oder visuelle (Lichtbilder) zurückgriffen, ist hierbei ein wichtiger Quellentyp bislang zu vermissen: das Tagebuch, das während des Kriegseinsatzes fortlaufend geführt wurde und im Nachhinein keine inhaltliche Bearbeitung mehr erfahren hat. Diese Quellengattung ist deshalb interessant, weil sie den unmittelbarsten Zugang zur Erfahrungsgeschichte bietet, da die zeitliche Distanz zwischen dem Erlebnis und dem darauf folgenden Verschriftlichungsprozess minimal bleibt. Die übrigen schriftlichen Selbstzeugnisse und auch Tagebücher, die in der Retrospektive formuliert oder umgearbeitet wurden, wurden stets adressatenbezogen produziert und unterlagen damit einer äußeren sowie inneren Zensur (Letzterer unterliegen natürlich auch die „originalen" Tagebücher).34

    Bedenkt man, dass Mussolini insgesamt rund 500.000 Männer ans Horn von Afrika befahl,35 könnte man annehmen, dass doch eine erkleckliche Anzahl von solchen „originalen" Tagebüchern während des Krieges entstand. Wie viele das waren und wie viele davon überhaupt überliefert sind, lässt sich nicht eruieren. Allein das Auffinden der Selbstzeugnisse bereitet nämlich Schwierigkeiten, da sie sich als Erinnerungsstücke zumeist nach wie vor in Familienbesitz befinden.36 Eine Suche in einschlägigen Archiven zeigt, dass bislang nur wenige Exemplare den Weg in diese öffentlichen Institutionen fanden. Während im Archivio Ligure della Scrittura Popolare in Genua nur einige Briefwechsel aus dem Abessinienkrieg archiviert sind,37 weist die Suche in der Datenbank des Selbstzeugnis-Archivs in Trient38 immerhin einen Treffer auf: das Tagebuch eines unbekannten italienischen Marinesoldaten. Dieser wurde allerdings erst im Juni 1936, also rund einen Monat nach offiziellem Kriegsende, nach Abessinien verschifft.39 Im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano werden ebenfalls einige wenige Tagebücher aufbewahrt, die bereits zum Teil Gegenstand von Mikrostudien geworden sind.40 Im Laufe der vergangenen zehn Jahre erschienen in Italien schließlich einige Untersuchungen, die Tagebücher (oder andere schriftliche Selbstzeugnisse) und damit die Kriegserfahrungen ihrer Schreiber zum Thema haben.41

    Möchte man darüber hinaus ein Tagebuch finden, das nicht nur während des Krieges verfasst, sondern auch noch in deutscher Sprache formuliert wurde, ist zu bedenken, dass laut den von Thomas Ohnewein erarbeiteten Statistiken zwar 1376 Männer aus Südtirol für den Angriffskrieg gegen Abessinien mobilisiert wurden, davon allerdings nur 525 über eine höhere Schulbildung (171 Personen) oder einen Volksschulabschluss (354 Personen) verfügten. Die verbleibenden eingezogenen Südtiroler hatten den Schulbesuch vorzeitig ohne Abschluss abgebrochen. Zudem desertierten 49 Südtiroler, die diese Bildungsgrade erreicht hatten, nach ihrer Einberufung.42 Die deutschsprachige Gruppe, die aufgrund ihrer Literalität in der Lage gewesen wäre, ein Tagebuch zu verfassen, war also äußerst klein.

    2011 wurde schließlich im Buchbestand des Südtiroler Landesmuseums für Volkskunde in Dietenheim ein bemerkenswerter historischer Quellenbestand entdeckt. Es handelte sich dabei um das Tagebuch von Andrä Ralser43, der 1935/1936 den Feldzug Italiens gegen Abessinien miterlebte und seine Erlebnisse darin notierte. Dieses einzigartige Dokument44 steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Folgende von den aktuellen Diskursen der Kulturwissenschaften geleitete Fragestellungen sollen an das Tagebuch herangetragen werden:

    1. Welche Kriegserfahrungen machte der Diarist? Wie nahm er den veränderten Kriegsalltag wahr? Welche Formen von Gewalt nahm er wahr? Wie deutete er den Krieg und stiftete sich und seinem Handeln Sinn? Welche Überlebensstrategien legte er sich zurecht?

    2. Wie nahm er das Fremde am afrikanischen Kontinent wahr? Wie stellte er die Landschaft, die Tier- und Pflanzenwelt sowie die Bevölkerung und ihre Kultur dar?

    3. Wie nahm er seine Position als Angehöriger einer deutschsprachigen Minorität in einer italienischen und faschistischen Armee wahr? Wie gestaltete er seine eigene Identität? Welche Selbst- und Fremdbilder konstruierte er?

    Ziel ist es schließlich, durch die Beantwortung der angeführten Fragen jene Südtiroler „Kriegermentalität"45 zu rekonstruieren, die der Diarist Andrä Ralser in sein Tagebuch – bewusst oder unbewusst – hineinprojizierte und damit gleichzeitig einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Mentalitätsgeschichte des Abessinienkrieges zu leisten.

    Um das Tagebuch überhaupt einer wissenschaftlichen Bearbeitung zuführen zu können, war es anfangs nötig, den Text, der vom Schreiber in der deutschen Kurrentschrift abgefasst wurde, zu transkribieren. Er wurde im Folgenden ebenfalls ediert, um ihn auch für weitere Forschungsvorhaben durch Dritte, die über diese Arbeit hinausgehen, nutzbar zu machen (Kapitel 7). Erst durch diese Aufbereitung war es möglich, das Tagebuch zu analysieren. Ein umfangreiches Methodik-Kapitel (Kapitel 2) sorgt für das nötige theoretische Fundament der Analyse. Darin wird deutlich, wie das edierte Selbstzeugnis für eine qualitative (und quantitative) Untersuchung fruchtbar gemacht werden kann und welche Bedingungen dabei zu beachten sind. Methodisch orientiert sich die Analyse dabei am Zeitschichten-Modell von Thiemo Breyer und Daniel Creutz,46 die dieses in Anlehnung an die Überlegungen von Reinhart Koselleck47 entwickelten. Zentral ist dort die Annahme, dass einer Analyse (Kapitel 5) ein Abschnitt vorgeschaltet werden muss, der die Biografie des Tagebuchschreibers umreißt, da die sozialisierenden Bedingungen der Vorkriegszeit bewusstseinsprägend wirkten und so quasi als Filter für später gemachte Erfahrungen fungierten.48 Die Rekonstruktion der Biografie (Kapitel 3) eines „kleinen Mannes49 ist darüber hinaus nur über einen quellenpluralistischen Zugang zu leisten. Hier wurde auf Archivmaterialien aus den Landesarchiven in Bozen und Innsbruck, dem Staatsarchiv in Bozen, des Weiteren auf Briefkorrespondenzen und eine Chronik aus dem Privatarchiv der Familie sowie auf Dorf- und Vereinschroniken zurückgegriffen. Um noch mehr Details zu erfahren, wurde außerdem eine der Töchter Andrä Ralsers, die sich dankenswerterweise zur Verfügung stellte, interviewt.50 Die Rekonstruktion der Biografie darf sich dabei nicht mit der Perspektive „von unten zufrieden geben.51 Es ist notwenig, die historische Person ebenso auf makrogeschichtlicher Ebene zu verorten. Dazu stehen zahllose Monografien, von Überblickswerken bis hin zu Detailstudien, zur Verfügung, die sich mit der Südtiroler Historie des 20. Jahrhunderts beschäftigen.52 Der vorliegenden Arbeit reicht der Überblick von Rolf Steininger.53 Nur an Stellen, an denen es dienlich erscheint, wird auf weitere Sekundärliteratur zurückgegriffen. Beispielsweise war die ausführliche Studie von Oswald Überegger über „Freienfeld unterm Liktorenbündel"54, die die Italianisierung von Andrä Ralsers Heimatregion thematisiert, von großem Nutzen.

    Die Analyse des Tagebuchs (Kapitel 5) bildet den Schwerpunkt der Arbeit und gliedert sich nach der Diskussion von formalen, sprachlichen, inhaltlichen und funktionellen Aspekten (Kapitel 4) nach den hier einleitend formulierten, forschungsleitenden Fragestellungen. Der Konklusion am Ende (Kapitel 6) kommt die Aufgabe zu, die zentralen Erkenntnisse in aller gebotenen Kürze zusammenzufassen und damit die Arbeit abzuschließen. In Kapitel 7 stehen das edierte Tagebuch und die Editionsrichtlinien zur Lektüre zur Verfügung. Bei der Edition wurde der Grundsatz verfolgt, dass der Text möglichst buchstabengetreu belassen werden sollte. Nur wenn die Verständlichkeit des Geschriebenen zu stark beeintächtigt schien, wurde eingegriffen. Im Anhang findet sich das Quellen- und Literaturverzeichnis. Des Weiteren sind dort ein Glossar mit den wichtigsten militärischen Fachtermini, eine Übersicht über die Zusammenstellung der italienischen Armee, Kartenmaterial sowie ein Personen- und Ortsregister beigefügt.

    _____________

    1Vgl. Aram M ATTIOLI, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca (Kultur – Philosophie – Geschichte. Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern 3), Zürich 2005, 14.

    2Vgl. Nicola L ABANCA, Erinnerungskultur, Forschung und Historiografie zum Abessinienkrieg, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 33–58, hier 33.

    3Vgl. M ATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 14–15.

    4Vgl. ebda., 16.

    5Vgl. Giulia B ROGINI K ÜNZI, Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? (Krieg in der Geschichte 23), Paderborn 2006, 22.

    6Vgl. L ABANCA, Erinnerungskultur (wie Anm. 2) 36–37.

    7Vgl. Indro M ONTANELLI, Ambesä. Racconto, Milano 1938; ders., Guerra e pace in AO. Firenze 1937; ders., XX battaglione eritreo, Milano 1936.

    8Vgl. B ROGINI K ÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 22.

    9Vgl. M ATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 16–18; L ABANCA, Erinnerungskultur (wie Anm. 2) 36, 53.

    10 Vgl. B ROGINI K ÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 31–33; M ATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 20; Nicola L ABANCA, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana (Storica paperbacks 31), Bologna 2002, 504. Für die italienische Historiografie vgl. etwa: Giampiero C AROCCI, Storia d’Italia dall’unità ad oggi (Biblioteca di storia contemporanea, testi e saggi 7), Milano 1975; Giorgio C ANDELORO, Il fascismo e le sue guerre (Storia dell’Italia moderna 9), Milano 1981; Angelo D EL BOCA, Gli Italiani in Africa Orientale, Band 1–4, Bari-Roma 1976–1984; für die jüngere Zeit: Alberto D E BERNARDI, Una dittatura moderna. Il fascismo come problema storico (Testi e pretesti), Milano 2001.

    11 Vgl. B ROGINI K ÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5) 43; Gerald S TEINACHER, Vorwort, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 9–12; I gas di Mussolini. Il fascismo e la guerra d’Etiopia, hg. von Angelo Del Boca, Roma 1996; ders., Italiani, brava gente? Un mito duro a morire, Vicenza 2005; ders., La guerra d’Etiopia. L’ultima impresa del colonialismo, Milano 2010; Giorgio R OCHAT, Le guerre italiane 1935–1943. Dall’Impero d’Etiopia alla disfatta (Einaudi storia 5), Torino 2005; Nicola L ABANCA, Una guerra per l’impero. Memorie della campagna d’Etiopia 1935–1936, Bologna 2005.

    12 Marco L ENCI, L’Eritrea e l’Etiopia nell’esperienza di Indro Montanelli, in: Studi piancentini 33 (2003) 205–231.

    13 Alessandro T RIULZI, Displacing the Colonial Event: Hybrid Memories of Postcolonial Italy, in: National Belongings. Hybridity in Italian Colonial and Postcolonial Cultures (Italian Modernities 7), hg. von Jacqueline Andall / Derek Duncan, Oxford u. a. 2010, 23–40, hier: 23–24; eine Auswahl für die neuere Forschungsliteratur im anglophonen Raum: Revisioning Italy. National Identity and Global Culture, hg. von Beverly Allen / Mary Russo, Minneapolis-London 1997; A Place in the Sun. Africa in Italian Colonial Culture from Post-Unification to the Present, hg. von Patrizia Palumbo, Berkeley 2003; Italian Colonialism. Legacy and Memory, hg. von Jacqueline Andall / Derek Duncan, Oxford 2005; Italian Colonialism, hg. von Ruth Ben-Ghiat / Mia Fuller, New York-Basingstoke 2005; vgl. außerdem die Sonderausgabe des Journals Italian Studies 61 (2006) 2, 173–300.

    14 Aurelio L EPRE / Claudia P ETRACCONE, Storia d’Italia. Dall’unità a oggi (Storica paperbacks 88), Bologna 2008, 219; Übersetzung: „schnelle Eroberung".

    15 Vgl. M ATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1) 21.

    16 L EPRE / P ETRACCONE, Storia d’Italia (wie Anm. 14) 219; Übersetzung: „brutale Methoden".

    17 Vgl. ebda., 221.

    18 Vgl. hier etwa: Manfred F UNKE, Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt 1934–36 (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 2), 2. Auflage Düsseldorf 1971; Thomas K ACZA, Äthiopiens Kampf gegen die italienischen Kolonisten 1935–1941 (Geschichtswissenschaften 31), Pfaffenweiler 1993; Gerhard F ELDBAUER, Mussolinis Überfall auf Äthiopien. Eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Bonn 2006.

    19 Vgl. etwa: Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941 (Italien in der Moderne 13), hg. von Asfa-Wossen Asserate / Aram Mattioli, Köln 2006.

    20 Vgl. B ROGINI K ÜNZI, Kolonialkrieg oder Totaler Krieg (wie Anm. 5).

    21 Vgl. M ATTIOLI, Experimentierfeld (wie Anm. 1).

    22 Im Folgenden ist mit dem Begriff ‚Südtiroler‘ ausschließlich die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols benannt. ‚Südtirol‘ bezeichnet das südlich des Alpenhauptkammes gelegene deutschsprachige Gebiet des ehemaligen Kronlandes Tirol, das nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektiert und in Alto Adige umbenannt wurde.

    23 Vgl. Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006.

    24 Vgl. S TEINACHER, Vorwort (wie Anm. 11) 9–10.

    25 Vgl. Martin H ANNI, Der Abessinienkrieg in der Erinnerung Südtiroler Soldaten – Bericht zu einem Forschungsprojekt, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 241–256.

    26 Vgl. Gerald S TEINACHER / Ulrich B EUTTLER, Aus der Sicht des Soldaten: Fotoalben von Südtiroler Kriegsteilnehmern, in: Zwischen Duce und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 22), hg. von Gerald Steinacher, Bozen 2006, 87–194.

    27 Vgl. Legionari. Un sudtirolese alla guerra di Spagna = Ein Südtiroler im Spanischen Bürgerkrieg 1936– 1939, hg. von Andrea Di Michele / Marina Miquel / Margarida Sala, Rovereto 2007; Heinz D EGLE, Erlebte Geschichte. Südtiroler Zeitzeugen erzählen ... 1918–1945, Bozen 2009; Andrea D I MICHELE, Sudtirolesi in guerra. La memoria delle campagne d’Etiopia e di Spagna, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 25 (2016) Heft 2, in Vorbereitung zum Druck.

    28 Vgl. Sigrid W ISTHALER, Karl Außerhofer – Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg (alpine space – man & environment 8), 2. Auflage Innsbruck 2011, 1, 7.

    29 Wolfram W ETTE, Militärgeschichte von unten, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten (Serie Piper 1420), hg. von Wolfram Wette, 2. Auflage München-Zürich 1995, 9–50.

    30 Vgl. Eckart H ENNING, Selbstzeugnisse. Quellenwert und

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