Brennende Kerze im Sturm: Mystische Spiritualität in unserer Welt
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Woher kommt das Gute, woher das Böse? Was kann mystische Spiritualität zum Leid in der Welt sagen? Wie verändert sich das Gottesverständnis, das Selbstverständnis? Kann ein mystisch Glaubender trotz eines nicht mehr personalen Gottesbildes beten? Was kann er hoffen, da es doch in der Mystik stets um das Hier und Jetzt geht? Gibt es mystische Spiritualität ohne Religion?
Der Autor stellt sich diesen und weiteren Fragen und gibt existenzielle Antworten.
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Book preview
Brennende Kerze im Sturm - Gerhard Breidenstein
Über dieses Buch
Mystische Spiritualität bedeutet Weltzuwendung bis in den persönlichen Alltag und in die globale Situation hinein. Also keine Weltflucht. Der Autor vertieft diese Sicht gerade angesichts der zunehmenden gewaltträchtigen Krisen unserer Zeit.
Woher kommt das Gute, woher das Böse? Was kann mystische Spiritualität zum Leid in der Welt sagen? Wie verändert sich das Gottesverständnis, das Selbstverständnis? Kann ein mystisch Glaubender trotz eines nicht mehr personalen Gottesbildes beten? Was kann er hoffen, da es doch in der Mystik stets um das Hier und Jetzt geht? Gibt es mystische Spiritualität ohne Reli gion?
Der Autor stellt sich diesen und weiteren Fragen und gibt existenzielle Antworten.
Über den Autor
Gerhard Breidenstein, Jahrgang 1937, ist evangelischer Theologe, promoviert in Sozialethik.
Er lebte und arbeitete drei Jahre in Südkorea, war jahrzehntelang aktiv in den außerparlamentarischen Protestbewegungen, gründete eine ökologisch-spirituelle Lebensgemeinschaft sowie die bundesweite Initiative »Aufbruch – anders besser leben«.
Viele Jahre lang hielt er Vorträge und Seminare zu Fragen der Nachhaltigkeit. Seit 1989 praktiziert er die Zen-Meditation.
Weitere Informationen: www.auf-dem-zen-weg.de
Einleitung: Was bedeutet »mystische Spiritualität«?
»Mystik? Das ist doch Weltflucht!« Diese Reaktion bekommt man oft zu hören, wenn man von Mystik in unserer Welt sprechen will. Insofern ist es zunächst nötig zu erklären, was in diesem Buch unter Mystik verstanden wird. Das Wort klingt, oberflächlich betrachtet, zu sehr nach System, nach Definierbarem. Es ist aber typisch für Mystik, dass sie keine Lehre hervorgebracht hat, nichts, was sich in einem System darstellen ließe. Vielmehr geht es in den meisten Äußerungen von Mystikern oder Mystikerinnen um den Versuch, »letzte Erfahrungen« in Worte zu fassen – was eigentlich unmöglich ist. So will ich in diesem Buch lieber von mystischer Spiritualität sprechen.
Das empfiehlt sich auch aus einem weiteren Grund: Es gibt mystisches Denken und Glauben in fast allen großen Religionen: Schamanismus in vielen Naturreligionen, Yoga im Hinduismus, Zen im Buddhismus, die Chassidim im Judentum, Mystiker und Mystikerinnen im Christentum und die Sufis im Islam. Es sind jeweils Sonderströmungen in ihren Religionen, sodass es sinnvoll ist, etwa von einer buddhistischen oder einer christlichen Mystik zu sprechen. Aber die Gemeinsamkeiten zwischen den genannten Richtungen sind so groß, dass es durchaus vertretbar ist, von der mystischen Spiritualität zu reden. Sie liegt gleichsam in der Mitte, wenn man sich diese Religionen in einem Kreis angeordnet vorstellt.
Diese überraschend deutlichen Gemeinsamkeiten kann man so charakterisieren: Ein mystisches Weltbild kennt nur eine Wirklichkeit, keine Trennung zwischen Oben und Unten, Göttlichem und Menschlichem, Geist und Materie, Licht und Dunkel. Alles wird als mit allem verbunden erfahren und bezeugt. Das Weltbild der Mystik ist nichtdual, also nicht aufgespalten in Gegensätze; es geht um die Erfahrung der Nondualität der Wirklichkeit. Das Göttliche wird dabei als allgegenwärtiger Geist verstanden, verkörpert in allen Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, von den kleinsten Energiebündeln in einem Atom bis zu den fernsten Galaxien. Entsprechend wird der Mensch nicht als eine in sich abgeschlossene Einheit gesehen, die »der Umwelt« und »dem Göttlichen« gegenübersteht, sondern als Teil der einen, ganzen Wirklichkeit, als einer von unzähligen Knotenpunkten im Netz des Lebens.
Es erscheint mir sinnvoll, zwischen »Wirklichkeit« und »Welt« zu unterscheiden. Dann meint der Begriff »Wirklichkeit« das Ganze des Seins in all seinen Dimensionen der Tiefe, Höhe und Weite, das Sichtbare wie das Unsichtbare. Um das Einssein aller Vielfalt in dieser Wirklichkeit geht es der mystischen Erfahrung. Dagegen meint der Begriff »Welt« nur jenen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit auf unserem Planeten Erde, der sich uns alltäglich aufdrängt. Zumeist umfasst er nur das, was unsere normalen Sinne wahrnehmen können. Aber es ist diese Welt, die uns immer wieder herausfordert aus alten Denkgewohnheiten und uns zu neuem Handeln drängt. Diese Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Welt – wie etliche andere Unterscheidungen, die ich hier vornehme – entstammt allerdings dem dualen Denken, das jederzeit von der nondualen Erfahrung mystischer Spiritualität aufgehoben werden kann und immer wieder überwunden werden muss. Das relativiert zwar den Wert solcher Unterscheidungen, macht sie aber nicht gänzlich unbrauchbar für unser alltägliches Leben und Verstehen.
Da Erfahrungen in unserer Alltagswelt häufig mit Leid verbunden sind, gab und gibt es in den Religionen immer wieder Tendenzen zum Rückzug aus der Welt, zumindest eine Sehnsucht nach einem leidfreien Jenseits (Paradies, Nirwana und Ähnliches). Die Lebensform der Einsiedelei oder der Klöster hat diese Tendenzen verstärkt und sichtbar gemacht. Dem setzten die jeweiligen mystischen Strömungen immer wieder ihr Verständnis von der einen, ungeteilten Wirklichkeit entgegen. Wer nur eine Wirklichkeit kennt, kann und will nicht aus der Welt fliehen, selbst wenn er oder sie sich auf Zeit aus dem weltlichen Getriebe zurückzieht. Das kann für die innere Reifung nötig sein. Aber mystisch-spirituelle Lehrerinnen und Lehrer haben stets ihre Schüler und Schülerinnen auf die Welt, ja in den Alltag verwiesen als den entscheidenden Raum der Bewährung ihrer mystischen Erfahrung – und sei es beim Putzen. »Erleuchtung« wird meist nicht als Entrückung aus der Welt erlebt, sondern als Einweisung in die Welt, wie sie wirklich ist, als Erwachen für die Welt.
Eine weitere Unterscheidung – die zwischen Ich und Selbst – ist so zentral für mystische Spiritualität, dass ich ihr ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Dabei geht es darum, unsere alltägliche Ich-Wahrnehmung als Illusion zu erkennen. Wenn das Ich-Bewusstsein, das wir uns wie die Spitze einer Welle vorstellen können, sich öffnet oder geöffnet wird hin zum Ozean des Seins, dann fließt die Selbstwahrnehmung über in die Wahrnehmung des Ganzen, dann steht die mystisch verstandene Individualität, das Selbst, inmitten aller Welt. Dann ist das isolierte Ich, das Ego, überwunden beziehungsweise transzendiert.
Allerdings macht es uns die heutige Situation der Welt nicht gerade leicht, sich für sie zu öffnen, in sie gleichsam einzutauchen. Im Gegenteil! Nicht nur spirituelle Menschen, sondern auch sensible Realisten sind versucht, sich aus dieser als sehr stürmisch erlebten Welt herauszuhalten. Manche entziehen sich ihr aus einem Gefühl der Ohnmacht ins Private oder gar in die Innerlichkeit – oder sie verfallen in Verzweiflung und Resignation.