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Matthieu gräbt: Kriminalroman
Matthieu gräbt: Kriminalroman
Matthieu gräbt: Kriminalroman
Ebook283 pages3 hours

Matthieu gräbt: Kriminalroman

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About this ebook

Der Fotograf Matthias Matthieu sucht im Archäologiepark Bliesbruck-Reinheim nach Motiven für eine Reportage und findet stattdessen eine Männerleiche in der Blies. Bereits nach kurzer Zeit steht fest; dass es sich um Mord handelt; aber die offiziellen Ermittlungen verlaufen dem Fotografen zu schleppend – er macht sich selbst auf die Suche.Matthieu stößt auf eine Reihe ungeklärter Einbrüche im Grenzgebiet und erfährt von seltsamen Vorkommnissen im Umfeld der archäologischen Grabungen. Bald gibt es einen weiteren Toten.Matthieus Gespür für Land und Leute; seine Beharrlichkeit und seine Ermittlungen auf beiden Seiten der Grenze bringen langsam ans Licht; was ein Selbstmörder aus dem alten Rom mit den Ereignissen der Gegenwart zu tun hat.
LanguageDeutsch
PublisherConte Verlag
Release dateDec 15, 2016
ISBN9783956021145
Matthieu gräbt: Kriminalroman

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    Book preview

    Matthieu gräbt - Michael H. Schmitt

    Impressum

    Der Himmel meinte es gut an diesem Morgen. Eine zarte, wärmende Brise streifte die Haut seiner Arme. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, genau diesen Tag für seine Arbeit zu wählen. Der Tag versprach perfekt zu werden. Schon eine ganze Weile suchte Matthias Matthieu im Terrain des Europäischen Kulturparks Bliesbruck-Reinheim nach brauchbaren Motiven. Ein Magazin hatte ihm den Auftrag erteilt, eine Serie von aktuellen Fotos zu machen. In letzter Zeit fanden die dort arbeitenden Archäologen im Erdreich häufig Zeugnisse aus vergangenen Tagen. Das Gelände zwischen dem saarländischen Dorf Reinheim und dem lothringischen Ort Bliesbruck war schon vor Jahren international zu archäologischem Ruhm gekommen: Ein Baustoffhändler aus Reinheim hatte Anfang der Fünfzigerjahre ein unvollständiges menschliches Skelett gefunden. Etwa zwei Jahre später stieß er mit seiner Schaufel auf einen Gegenstand aus Bronze. Bei seinem gut gemeinten Bergungsversuch hatte er diesen zwar zertrümmert, doch ein hinzugezogener Bodendenkmalschützer aus Saarbrücken hatte sofort erkannt, dass es sich um den Handgriff eines keltischen Spiegels handelte. Dem Konservator hatte geschwant, dass der Reinheimer Boden noch mehr solcher außergewöhnlicher Schätze barg. Er und sein Grabungsteam gruben sich in den ersten Märztagen 1954 in den Reinheimer Sand. In zwei Metern Tiefe stießen sie auf Artefakte, die zu einem über 2.000 Jahre alten Grab einer keltischen Fürstin gehörten. Im Boden der Flussaue verbarg sich ein wahrer Schatz.

    Die deutsch-französische Grenze existiert seit dem Schengener Abkommen von 1985 nicht mehr. Doch nicht nur das förderte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Archäologen der benachbarten Staaten im Bliestal.

    Matthias Matthieu genoss den warmen Sommermorgen und ging auf den Grabhügel zu, in dem eine Rekonstruktion der Grabkammer untergebracht ist. Dort befindet sich die kunstvolle Nachbildung der keltischen Fürstin. Schon einige Male war er alleine da unten gewesen. Er hatte sich stets Tage ausgesucht, an denen die zahlreichen Besucher aus aller Welt seine Arbeit nicht störten. Die Andacht, in welcher er sich dort wiederfand, brachte ihn seinen möglichen Vorfahren – zumindest gedanklich – um einiges näher. Jener Bildhauer, der die Rekonstruktion der Fürstin vorgenommen hatte, musste wohl ähnlich gefühlt haben wie er, als er die Arbeit im Auftrag des Landeskonservators ausführte. Seinem Werk, das hinter einer Panzerglasscheibe zwei Meter unter der Erdoberfläche zu sehen ist, sieht man die Ehrfurcht an, die er bei seiner Arbeit empfand. In einer Foto-Reportage über eben diese Adlige, die Matthieu einmal für ein Magazin machte, suchte er krampfhaft nach einem möglichen keltischen Mädchennamen und wurde im Internet tatsächlich fündig. Der Name Cadhla schien ihm der vornehmste zu sein und seither nannte er die Dame im Grabhügel so.

    Matthieu ging über eine Sandsteinplatte auf den Eingang des Hügels zu und ärgerte sich ein wenig über die herumliegenden ausgetretenen Zigarettenstummel.

    Eine Stimme weckte seine Aufmerksamkeit: »Guten Morgen, Herr Matthieu! Zu dieser Stunde haben Sie tolles Licht zum Fotografieren. Haben Sie schon gehört? Die Fischerhütte weiter oben hat einen neuen Pächter. Es gibt wieder Mittagstisch zu einem vernünftigen Vor-Euro-Preis. Zumindest hier scheint die Geldentwertung gestoppt.«

    »Herr Schaumwein, ebenfalls einen guten Morgen.«

    Schaumwein war Mitarbeiter des Büros für Saar-Pfalz-Touristik und hatte bereits auf den Fotografen gewartet.

    »Ja, ich habe davon gehört. Ich bin mindestens zwei Stunden hier zu Gange. Gehen Sie gegen Mittag mit und testen mit mir die Kochkünste des Hüttenwirts?«

    »Mal sehen. Sie kennen sich ja aus und wenn Sie irgendetwas brauchen sollten – Sie wissen, wo sich mich finden.«

    Matthieu bedankte sich und ging hinunter zum Grab. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er mochte die Finsternis hier, sie verstärkte den mystischen Eindruck des Ortes. Wie so oft schon stand er in der Grabkammer und schaute der Dame ins hell erleuchtete Gesicht. Neben ihr lagen die Nachbildungen der Grabbeigaben, an ihrer Seite ein Bronzespiegel. Das Gewand wurde von einer bronzenen Fibel gehalten. Ihre Arme schmückten reich verzierte Armreife aus purem Gold und damit die Frau von hohem Rang auch nach ihrem Ableben auf weltliche Genüsse nicht verzichten musste, hatten die Kelten der Verstorbenen ein Tafelservice – bestehend aus zwei einfachen Tellern aus Bronze, einer kunstvoll gearbeiteten Schnabelkanne sowie einer Servierplatte, Trinkhörnern und Tranchiermesser auf die letzte Reise mitgegeben. Die Kelten glaubten an ein Leben nach dem Tod.

    Matthieu genoss die Stille des Raumes. Er entdeckte eine Position, von der aus er die Spiegelung der Fürstin in einer Glasvitrine, die eine keltische Röhrenkanne beherbergte, auf ein Foto bannen konnte. Die Grabkammer war nach Originalvorgaben rekonstruiert worden. Dass die Kelten äußerst geschickte Handwerker waren, erkannte man an der perfekt durchdachten Nekropole. Die damaligen Bewohner dieser Bliestalsiedlung hatten die in ihrem Stamm hoch angesehene Dame etwa 400 Jahre vor Christus standesgemäß in einer riesigen, aus Eichendielen gezimmerten Grabkammer beigesetzt und die Begräbnisstätte anschließend mit Tonnen von Erde bedeckt.

    Eine halbe Stunde später erblickte er wieder das Licht des Tages. Es wurde Zeit, weiterzuziehen, denn er hörte im Innersten der Grabkammer eine Vielzahl von Kinderstimmen nahen. Eine Gruppe französischer Schüler stand in Zweierreihe vor dem Eingang und ihre junge Lehrerin hatte alle Hände voll zu tun, die Rasselbande zu zähmen. Der hochgesteckte blonde Dutt ließ sie ein wenig älter wirken als sie in Wirklichkeit war. Offensichtlich war das die Haartracht, um sich nachhaltig Respekt zu verschaffen. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie und grüßte ihn mit einem kurzen »Bonjour«.

    Matthieu grüßte ebenso und da der Ausgang durch Kinder versperrt wurde, wartete er, bis die Horde Schüler den Eingang zum Keltengrab gefunden hatten, und begab sich dann schleunigst nach draußen. Herr Schaumwein begegnete ihm erneut und fragte schmunzelnd: »Waren wir auch mal so?«

    Matthieu entgegnete: »Wenn ja, dann war ja alles in Ordnung. Ich gehe nun rüber auf die andere Seite zu den Franzosen. So gegen 12.00 Uhr werde ich mit meiner Arbeit fertig sein. Treffen wir uns dann zum Mittagessen?«

    »Klingt gut, also dann bis später.«

    Sein Magen knurrte. Ein Zeichen, dass es fast Mittag sein musste, denn auf seinen Bauch konnte er sich verlassen. Als er auf die Hütte zuging, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass kein einziger Wagen auf dem Parkplatz stand. Er hoffte, dass er nicht den Ruhetag des Hüttenwirtes erwischt hatte. Doch als er die Terrasse betrat, kam ihm ein Herr mit Sechstagebart entgegen und wünschte ihm einen guten Tag. Matthieu grüßte und fragte ihn nach dem Wirt. Mit einem Grinsen antwortete er: »Der steht vor Ihnen, was darf es denn sein? Ich bin heute alleine, meine Frau ist nach Gersheim zum Arzt: ihre Galle, wissen Sie …«

    Matthieu wusste nicht. Aber noch bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr der Wirt fort: »Aber wenn Sie etwas essen möchten, bringe ich Ihnen gerne die Karte.«

    »Was wäre denn heute das Stammessen«, wollte er wissen, »oder muss ich à la carte essen?«

    »Wie Sie wollen – heute hätte ich Frikadellen mit Kartoffelpüree und Erbsengemüse.«

    Matthieu war zufrieden. Auf seine Rückfrage, ob die denn auch handgemacht seien, unterstrich der Wirt »aber sicher«.

    »Klingt hervorragend, nehme ich! Dann noch ein Panaché bitte.«

    »Panaché haben wir nicht, darf es ein Bier sein?«

    »Dann bringen sie mir ein Radler, aber bitte mit viel Limonade.«

    »Wird gemacht«, bekam Matthieu als Antwort und irgendwie stellte er die Aussicht auf eine handgemachte Frikadelle in Frage, offensichtlich kannte der Wirt die französische Bezeichnung für dieses Bier-Limonade-Gemisch nicht.

    Als er dann das Glas auf den Tisch stellte, entschuldigte er sich für seine lange Leitung. »Sie müssen wissen: Ich komme nicht aus der Gegend hier.«

    Matthieu hatte so etwas geahnt: »Ich habe ihren Dialekt erkannt. Sie kommen aus der Westpfalz, ich schätze mal aus Kaiserslautern.«

    »Nicht weit davon entfernt«, entgegnete der Wirt, »aus Waldfischbach, kennen Sie den Ort?«

    »Ja, da bin ich schon durchgefahren, schöne Wälder dort. Aber solange Sie mir kein Alsterwasser bringen, bin ich zufrieden.« Der Wirt lachte und ging zurück in die Küche, nicht ohne vorher noch einmal zu bemerken, dass er ja noch eigenhändig Frikadellen zubereiten müsse.

    Matthieu lehnte sich zurück, blickte auf die Teichanlage und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Die Mischung des herben Bieres mit einem Schuss süßer Limonade schmeckte hervorragend und gerade als er zum zweiten Mal das Glas ansetzte, trat Herr Schaumwein um die Ecke und fächelte sich demonstrativ den Küchenduft in die Nase.

    »Riecht nach Frikadellen. Die waren das letzte Mal hervorragend.«

    »Ja, ich habe gerade eben bestellt. Aber bestellen Sie kein Panaché, Sie müssen hier nach einem Radler fragen.«

    Günther Schaumwein bemerkte das Lächeln: »Ich merke, Sie haben sich bereits bekannt gemacht. Gott sei Dank geht der geregelte Betrieb hier in den Ausgrabungsstätten wieder weiter. Ich bin heilfroh, wenn wieder etwas los ist. Bald gibt es wieder die Römertage und beim diesjährigen Keltenfest ist bestimmt die Hölle los. Auf dass uns der Himmel nicht auf den Kopf falle!«

    Der Wirt servierte kurz darauf zwei Teller und noch bevor die beiden zu essen begannen, fragte sich Matthieu, weshalb gerade in einer Fischerhütte keine Forellen oder Ähnliches auf der Speisekarte standen. Nach dem ersten Bissen brauchte er auf diese Frage auch keine Antwort mehr. Ihr Gespräch verstummte so lange wie sich beide mit Hingabe den Hackfleischklopsen widmeten. Ein paar Mal trafen sich ihre Blicke und ein wohlwollendes gegenseitiges Nicken bezeugte dem Gegenüber Zufriedenheit über die schlichte, aber großartige Mahlzeit.

    »Seit ein paar Tagen sind wieder polnische Studenten hier, die ein paar Wochen bei den Ausgrabungen mithelfen«, erzählte Schaumwein, »ein paar weitere Polen kommen die nächste Woche dazu und die Gemeinde hat auch wieder einige ABM-Kräfte bewilligt.«

    Der Wirt wollte wissen, ob es denn geschmeckt hatte.

    Matthieu antwortete ihm: »Das Essen war gut, aber für mich könnte die Portion immer noch größer sein.« Er grinste zwar, doch Matthieu sah dem Wirt an, dass er diese Anspielung nicht verstanden hatte. Die Bouletten waren wirklich gut und er hätte noch eine dritte vertragen, doch man musste ja nicht alles im Leben haben. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass sich so manche Mahlzeit bei ihm ohne Umwege auf die Hüften legte.

    »Beehren Sie uns wieder, wenn es Ihnen geschmeckt hat«, verabschiedete sie der Waldfischbacher Gastronom und Matthieu gab Herrn Schaumwein zu verstehen, dass er nun ein paar Schritte laufen müsse um wieder in die Gänge zu kommen.

    »Eine gute Idee«, meinte der, »ich habe noch eine Viertelstunde und begleite Sie.« Als sie eine Weile auf dem asphaltierten Weg direkt an Fluss entlanggegangen waren – dort, wo die Blies eine Linkskurve macht –, hörten sie plötzlich eine laute Stimme.

    »Das darf doch nicht wahr sein, mir bleibt doch wirklich nichts erspart. Erst einer im Grand Canyon, dann einer in der Schweiz und jetzt hier!«

    Schaumwein schaute Matthieu fragend an. Dieser schaute gleichsam verwirrt zurück. »Verdammte Scheiße«, kam es erneut aus wenigen Metern Entfernung vom Gewässer herauf.

    Lautes Fluchen füllte die Luft, beide wussten nicht, was das zu bedeuten hatte. Matthieu drehte sich um, doch niemand war zu sehen. Wieder konnte er die Stimme hören und ihm wurde klar, dass sie aus der unmittelbaren Flussnähe kam. Zielstrebig ging er ans Ufer, wo meterhohes Gelbes Springkraut wuchs. Die schöne, irgendwann einmal nach Europa eingeschleppte Pflanzenart hatte schon dicke Samenkapseln angesetzt.

    »Ich glaube, wir müssen uns weiter vorarbeiten«, sagte Matthieu zu Schaumwein, »da unten scheint jemand zu sein.«

    »Hallo, ist da jemand?«, kam es von unten. Nun sahen sie den Rufenden, einen Kanuten in seiner langen, wassertauglichen Plastikzigarre. Das rote Kajak hob sich deutlich von der dunkelbraunen Brühe der Blies ab. Er schien ein Wanderfahrer zu sein, der in einem Boot der Marke Prijon Taifun unterwegs war.

    »Hier hängt etwas unter einem großen Ast, sieht aus wie ein Mensch«, sagte er.

    An dieser Stelle war die Böschung zu steil und Matthieu wusste nicht, ob sie ihn tragen würde. Fünf Meter weiter gab es eine Möglichkeit, einen Blick auf die Wasseroberfläche zu werfen und sie sahen, dass unter einem stattlichen Weidenast ein menschlicher Körper zu klemmen schien. Der Paddler versuchte, das im Wasser treibende Bündel mit der Bootsspitze Richtung Böschung zu schieben. Nachdem der Kanute mit seinem Paddel den steifen Arm der Leiche unter dem Ast befreit hatte, schob er den leblosen Körper zur Böschung hin.

    Herr Schaumwein, der bis dahin drei Meter hinter Matthieu gestanden hatte, kam näher an den Ufersaum, rutschte mit einem Mal aus und stolperte ihm entgegen. Als er unbeabsichtigt Matthieu mit dem rechten Fuß in die linke Wade knallte, sagte dieser nur: »Nur langsam, da ist schon jemand nass genug für zwei.«

    »Sorry«, entgegnete er, »bin an einer Wurzel hängen geblieben. Wasserleichen hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Na ja, bisher bin ich auch verschont geblieben …«

    Vor Jahren hatte Matthieu mit seiner Freundin bei einem Spaziergang in der Nähe von Creutzwald, einem kleinen französischen Örtchen in Grenznähe, einen erfrorenen Mann entdeckt. Der Tote schien schlafend, er sah entspannt aus. Die damals herbeigerufene Gendarmerie kannte den Kerl, er war ein ortsbekannter clochard. Er war wohl nach dem Genuss einiger Flaschen Rotwein an jenem eisigen, aber sehr sonnigen Februartag eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.

    Matthieu kam die Erinnerung an diesen Fall, denn er hatte damals vor dem Fund einige Aufnahmen der Landschaft gemacht. Erst Tage später, nachdem die belichteten Filme entwickelt waren, entdeckte er den erfrorenen Mann auf seinen Negativen. Seinerzeit kam ihm sofort der Film Blow up von Michelangelo Antonioni in den Sinn. David Hemmings spielte darin einen Modefotografen, der in einem Park zufällig dem Treiben eines Liebespaares zusieht, es fotografiert und erst später – beim Vergrößern der Negative – eine Leiche entdeckt.

    Der arme Kerl, der da im Wasser lag, sah gar nicht so aus wie die extrem aufgeblähten Wasserleichen aus den Autopsie-Krimis im deutschen Fernsehen. Es war ein Tag, an dem Matthieu es ausnahmsweise nicht bereute, im Besitz eines mobilen Telefons zu sein. Grundsätzlich hatte er diese nervtötende Errungenschaft der modernen Zivilisation immer abgeschaltet, war also meist nur zufällig oder per SMS zu erreichen, doch in diesem Fall war sein Nutzen unbestreitbar. Vorsichtig – die Böschung gab wegen der anhaltenden Trockenheit etwas nach – schaffte er sich nach oben und wählte die Nummer des Polizeipostens in Gersheim. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Beamter und er nannte seinen Namen. Sachlich erzählte er dem Polizisten namens Wannenmacher, den er flüchtig kannte, vom traurigen Fund. »Verändern Sie nichts, Herr Matthieu, ich verständige sofort die Mordkommission in Saarbrücken.«

    »Okay, okay«, gab er zurück, »die sollten vielleicht einen Taucher mitbringen … ach, die wissen ja, was zu tun ist.« Er legte auf.

    Während des Gesprächs hatte Matthieu ein paar Meter abseits der Tragödie gestanden. Nun ging er wieder an die Böschung, schaffte ein paar Pflanzen des gelb blühenden Balsaminengewächses aus dem Weg, für dessen Schönheit er sich in Anbetracht der Situation nicht begeistern konnte, und schaute sich die Sache von oben an.

    Ihm war klar, dass der Fundort des Toten niemals die Stelle gewesen sein konnte, an der er ins Wasser gekommen war. Günther Schaumwein stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, als Matthieu ihn anschaute, und der Paddler faselte etwas, was Matthieu nicht verstand. In Anbetracht der Örtlichkeit kam ihm der Gedanke, dass der Tote wohl nicht der erste in dieser Flussaue gewesen war. Vor ein paar Jahren war am Breitfurter Wehr bei Hochwasser ein Kanute ertrunken, der sich wohl zu viel zugetraut hatte. Nachdem der Fluss nach Tagen auf Normalstand abgesunken war, fanden ihn Feuerwehrleute ebenfalls unter der Wurzel eines Baumes.

    Plötzlich kamen ihm wieder die Kelten in den Sinn, die schon lange vor unserer Zeitrechnung in dieses Tal gekommen waren und den Fluss »die Zischende« genannt hatten. Der Name Blies ist keltischen Ursprungs – wie auch der einiger anderer Flüsse im Saarland. Die Kelten waren zwar ein wehrhaftes Volk, aber in friedlichen Zeiten hatten sie sich genau hier zwischen dem Kloppberg und dem Galgenberg sesshaft gemacht. Als die Römer ihr Imperium erweiterten, muss es überall in Mitteleuropa zu brutalen Schlachten gekommen sein und spätestens 52 n. Chr. brachte die römische Kriegsmaschinerie die keltische Herrschaft in Gallien zu Fall.

    Und nun das. Ein wahrscheinlich sinnloser Tod zwischen den grünen Hügeln, die diesen Landstrich so anziehend machen.

    »Kommen Sie nur raus aus dem Boot«, sagte Matthieu zum Kanuten, »der schwimmt nicht mehr weg. Wir müssen noch auf die Saarbrücker Kripo warten.«

    Der Sportler tauchte das Paddel ins Wasser. Mit einem Ziehschlag und etwas Schwung bewegte er sein Kajak nach vorne, landete an der Stelle, an der zuvor Schaumwein und Matthieu im Bliessand gestanden hatten, sicherte sein Boot mit einer Paddelstütze und stieg gekonnt aus.

    Matthieu musste zweimal hinsehen. Sein Aufzug schien doch etwas gewagt. Unter seiner Schürze, die das Boot vor eindringendem Wasser schützen sollte, war er nackt. So schien es auf den ersten Blick, doch als er sich umdrehte, konnte man den kleinen Fetzen Stoff erkennen, den er wahrscheinlich Badehose nannte. Trotz der warmen Sonne fröstelte es Matthieu bei diesem Anblick.

    Günther Schaumwein hatte seinen Blick bemerkt und fragte den Kanuten: »Sie frieren sich in dem Boot doch den Arsch ab?«

    »Überhaupt nicht! Heute Nachmittag, wenn’s richtig warm wird, ist es untenrum sogar richtig angenehm.«

    »Und im Winter fahren Sie dann mit einer Bootsbodenheizung«, versuchte Matthieu lachend die Situation etwas aufzulockern. Außer einem kurzen Lächeln erntete er keine Reaktion. »Mit einer kalten Dusche hat der Mann hier wohl nicht gerechnet – oder er hatte keine Zeit mehr, sich eine Jacke überzuziehen«, bemerkte Matthieu und zu Schaumwein blickend: »Sollen wir uns nicht einfach duzen? Ich bin der Matthias.«

    »Ja, das sollten wir tun, Günther. Ich muss gestehen: Mein Mittagessen redet mit mir.«

    »Dann geh doch bitte flussabwärts.«

    Der Paddler stellte sich als Rolf Hunsicker vor.

    »Der Junge lag aber gestern noch nicht an dieser Stelle im Wasser.«

    »Wie kommen Sie denn darauf?«, wollte Matthieu wissen.

    »Gestern bin ich von Herbitzheim aus bis nach Habkirchen gefahren. Ich liebe dieses Stück Fluss: Wenn du langsam auf Habkirchen zugleitest und linker Hand die Reste der Frauenburg siehst. Kurz vorm Wehr halte ich dann, laufe ein paar Meter bis zur Hauptstraße, an der ich mein Auto geparkt habe, und mache in der Regel immer noch eine halbe Stunde Pause, esse etwas und trinke ein Bierchen. Und als ich gestern hier vorbeikam, lag hier noch niemand im Wasser.«

    »Wo sind Sie denn heute gestartet?«, wollte Schaumwein wissen.

    »Heute Morgen bin ich später los, irgendwie war der Wurm drin. Ich bin auch noch nicht lange auf dem Wasser. Eingestiegen bin ich in Gersheim, hinter dem Wehr, und bis hierhin sind es bei langsamer Fahrt mal gerade dreißig Minuten.«

    Mit einem Mal drang Lärm zu ihnen – eine Schulklasse fiel wenige hundert Meter hinter ihnen in den Nachbau einer Getreidemühle ein und machte einen Lärm, als würden Horden von Barbaren gegen den römischen Imperator persönlich vorgehen. Matthieu bat Günther, sich des nahenden Problems anzunehmen und die Verantwortlichen, die diesen Haufen befehligten, zu bitten, die Kinder nicht ans Flussufer zu lassen.

    »Du hast Recht, die können wir hier absolut nicht gebrauchen, aber wenn die Polizei gleich hier aufläuft, wird sich ohnehin halb Reinheim versammeln.«

    »Das glaube ich nicht unbedingt, bislang haben wir noch keine Aufmerksamkeit erregt und es ist nicht so, dass das Dorf aus seinem Schlaf erwacht, nur weil sich eine Wasserleiche eingefunden hat. Da trauen wir der Dorfbevölkerung vielleicht zu viel Neugierde zu.«

    Matthieu entfernte sich wieder etwas vom Fluss und ging auf den ersten der drei Hügel zu, die um das Grabmal mit dem Fürstinnengrab errichtet waren. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Vor ihm präsentierte sich die Reinheimer St. Markus-Kirche mit ihrem Spitztürmchen, das von den Einheimischen »Heidenturm« getauft wurde. Dieses schon tausend Jahre alte Gebäude diente früher als Wehrturm, wie die heute noch sichtbare Pechnase in Form eines Tiermauls verrät. Regional bekannt war die Kirche auch wegen der von Samson getragenen Kanzelwanne.

    Reinheim liegt ruhig in einem Talkessel, umgeben von zart geschwungenen Hügeln, auf deren Wiesen Orchideen wachsen. Von Mai bis Juni sieht man in der gesamten Region das Helmknabenkraut, die Große Händelwurz und viele andere Orchideengewächse blühen. Hinter ihm liegen in einiger Entfernung die Fischweiher. Dahinter auf französischem Terrain der Thermenpavillon von Bliesbruck.

    Vis-à-vis davon setzen sich die Ausgrabungen einer gallo-römischen Siedlung fort und unmittelbar hinter dem Museum Reinheim befand sich die palastartige Villenanlage, die fast vollständig untersucht ist. Imposant ist ein vierzig Meter langes, aus Kalksteinplatten gemauertes Wasserbecken. Welch ein Luxus vor 2.000 Jahren. Alles in allem strahlte dieser Ort eine Ruhe aus, die so gar nicht zu dem grausigen Fund passen

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