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Vor der Glotze zum Weltmeister: 1990 und 2014 - Sternstunden im Leben eines Fußballverrückten
Vor der Glotze zum Weltmeister: 1990 und 2014 - Sternstunden im Leben eines Fußballverrückten
Vor der Glotze zum Weltmeister: 1990 und 2014 - Sternstunden im Leben eines Fußballverrückten
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Vor der Glotze zum Weltmeister: 1990 und 2014 - Sternstunden im Leben eines Fußballverrückten

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About this ebook

Zweimal im Finale, zweimal gegen Argentinien, zweimal Weltmeister. 25 Jahre liegen dazwischen: Die WM-Titel 1990 und 2014 gehören zweifelsohne zu den Sternstunden des deutschen Fußballs – und untrennbar zum Leben jedes Fußballfans. Wie viele andere hat auch Joachim Staat als einer von vielen Millionen "Bundestrainern" die beiden Weltmeisterschaften vor dem Fernseher, in seinem ganz persönlichen WM-Studio-verfolgt. In diesem Buch zieht er eine Bilanz stellvertretend für alle, die die Fußballleidenschaft nicht mehr loslässt.
Joachim Staat ist nicht einfach nur Fußballfan, er ist verrückt nach Fußball. Aber was soll er machen? Schließlich wurde ihm als Kind des Ruhrpotts der Fußball doch quasi schon in die Wiege gelegt! Kein Wunder also, dass er auch bei der WM mit der deutschen Nationalmannschaft mitfiebern und mitleiden muss.
Joachim Staat erzählt, wie seine Liebe zum Fußball und insbesondere zur deutschen Nationalmannschaft durch den Triumph in Rom geweckt wird und wie er – ein Vierteljahrhundert später – den Titelgewinn von Jogis Jungs bei der WM 2014 in Brasilien erlebt. Dabei gibt er tiefe Einblicke in das Innenleben eines Mannes, den die Fußball-Leidenschaft gepackt hat und nicht wieder loslässt. Joachim Staats Faszination geht dabei so weit, dass sein soziales Umfeld nicht immer wohlwollend auf seinen "Fußballwahn" reagiert.
"Vor der Glotze zum Weltmeister" ist eine tiefsinnige, aber auch humorvolle Liebeserklärung an den Fußball, in der viele Fans sich selbst wiederfinden werden.
LanguageDeutsch
Release dateApr 24, 2015
ISBN9783667102515
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    Vor der Glotze zum Weltmeister - Joachim Staat

    1

    FREITAG, 30. MAI 2014

    ESSEN-STEELE

    WM-TRAININGSLAGER

    TIPPZETTEL IM TRAININGSLAGER

    »Jungs, ich sach’ nur: Kolumbien!«

    Wir saßen draußen bei Alex hinter der dunklen Backsteinwand und tranken Bier aus ehrlichen Halbliterflaschen, als mein Bruder mich in WM-Form brachte. In der weichen Nachtluft schmeckten sogar die Zigaretten wieder. Unseren Wiedersehens-Smalltalk hatten wir inzwischen abgehakt. Was macht das Knie? Deine Tochter ist schon 15? Die ESG mal wieder im Pokalfinale? Alex setzte irgendwann seine Lesebrille auf. Ein cooles Designerstück, das typische Erstlingsstück eines Endvierzigers, der noch nicht weiß, dass man Lesebrillen gern verliert oder beim Draufsetzen kaputt macht.

    An der Brille erkannten Bommer und ich: Jetzt ging Alex ans Eingemachte – an den großen Turnierplan, den er vor sich ausgebreitet hatte wie eine rätselhafte Schatzkarte. Einen feinen Bleistift in der Hand begann er, jedes Spiel dieses Turniers zu tippen, vom unwichtigsten Vorrunden-Kick bis zum großen Finale. Und zu jeder Wette kriegten wir einen scheinschlauen Kommentar.

    »Achtet auf Kolumbien!«

    Reine Rattenfängerei, durchsichtig und hochwillkommen.

    Wir hatten lange weg gehört, demonstrativ über Jörgs Sohn und Dart gequatscht. Aber den ständigen Kommentaren aus Richtung der Designerbrille konnten wir mit der Zeit nicht mehr widerstehen. Und ehrlich: Wir wolltens auch gar nicht. Eine Woche vor Beginn des Turniers gab es für uns sowieso kein anderes Thema: Wie würde die Weltmeisterschaft in Brasilien laufen? Wir waren im Ruhrpott, wir waren fußballverrückt und wir freuten uns wie Kinder auf Weihnachten.

    »Achtet auf Kolumbien, die habe ich als Geheimfavoriten auf dem Radar«, dozierte unser alter Zocker.

    »Hast du nicht vorgestern noch erzählt, du gehst auf Spanien?«, warf Bommer ein.

    »Spanien, ja gut, Spanien«, maulte Alex, »das ist der Oma-Tipp. Den bringe ich bei mir im Krankenhaus, wo meine Intensiv-Schwestern alle auf Deutschland setzen. »Aber Kolumbien«, er betonte jede Silbe, als handele es sich um ein neues, unbekanntes Medikament, »Ko-lum-bi-en, meine werten Sportbeobachter …«, und seine künstliche Pause war so lang, dass man sich darin locker eine Zigarette anstecken konnte, »… Kolumbien bringt im Kreml eine Quote, damit kannst du den ganzen Abend Lokalrunden geben.«

    Wir Sportbeobachter schluckten schwer bei dieser Aussicht. Den ganzen Abend Saufen in unserer alten Vereinskneipe, allein von der Vorstellung kriegte ich schon Kopfschmerzen. Und überhaupt: Veränderte diese komische Designerbrille auch die Redeweise? Wie quatschte der denn? Bommer guckte mich an und zog eine Augenbraue hoch. Viel durfte Alex sich nicht mehr erlauben, bevor wir mal reingrätschten. Erst recht nicht dieses provokativ nachgeschobene: »Und ihr Dilettanten?«

    Er guckte uns über den Brillenrand hinweg an.

    Meinte er mich? Ich war zum Glück ganz woanders. Startete mein Bruder wirklich in fünf verschiedenen Tippgemeinschaften, und das mit Zielwetten, die sauber auf Publikum und Profit abgestimmt waren? Mensch, bei dem Typen hatte sich schier gar nichts verändert. Das war alles wie 1990, als wir in unserem WM-Studio sogar gewettet haben, wer den ersten deutschen Einwurf macht. Respekt, ich mag Traditionen. Und seien sie der totale Sockenschuss.

    In Gedanken blickte ich auf meinen eigenen Turnierplan. Der war säuberlich mit Magneten an die Bürowand gepinnt, aber noch so unschuldig und leer wie in der Küche der Frauenzeitschrift nebenan. Kein Eintrag, keine Ahnung? Das musste sich sofort ändern. Verglich ich meinen Stand der WM-Vorbereitung mit Alex’, hatten wir beide nur eines gemeinsam: Ich besaß auch eine Lesebrille.

    Der Spruch mit den Dilettanten brachte Bommer so zuverlässig, wie von Alex geplant, auf die Palme: »Sag mal, schämst du dich nicht, die ahnungslosen Schülerinnen so auszunehmen? Was sind denn das für Wettgegner, die tatsächlich auf Deutschland gehen?«

    Ich spürte, wie Jörgi sich in Fahrt redete. Das konnte noch lustig werden heute Abend.

    »Die Schwestern sind so jung, dass sie glauben, sie müssten sich vorm Fernseher nur das Gesicht Schwarzrotgelb anmalen, dann kommt der Pott per Luftfracht und im Luxusflieger!« Unser Youngster brach in sein gackerndes Lachen aus, das uns unweigerlich ansteckte. Das hatte sich auch nicht geändert. Bommer hielt uns seine Bierflasche zum Anstoßen hin. Klonk.

    Gute Jungs, dachte ich. Bei Alex im Garten quatschte also niemand vom Titel. Dieses ganze Gerede, dass WIR nun endlich mal dran seien, konnte ich einfach nicht mehr hören. Deshalb war ich nach Essen gereist. Für ein paar Tage in die alte Heimat, um mal zu horchen, wie dort die Stimmung war. Was sagten meine privaten Experten, meine ganz persönlichen Seher der Seher? Das Ruhrgebiet erlebt den Fußball noch immer mit einem wohltuenden »Mach-mal-halblang«, weit weg vom Event-Gedöns und den großen Schlagzeilen. Dafür näher dran am Wichtigsten: am Spiel und am »entscheidend is’ auf’m Platz.«

    Außerdem wollte ich mich warm spinnen in der erfrischenden Mischung aus kompetenter Nähe und staubtrockenem Humor. Für mein emotionales Trainingslager gab es keinen besseren Platz als Alex und seinen Garten hinter der schwarzen Backsteinwand. Der lag keinen Kilometer entfernt von unserem alten Fußballplatz und von meinem eigenen WM-Studio von 1990.

    Vor einem halben Jahr hatte ich die Jungs zuletzt getroffen, aber als ich an diesem Abend bei Alex durch die Haustür trat, fielen wir uns gleich wieder in die Arme. Etwas unsicher, aber grundherzlich. Schön, wenn Dinge sich nicht ändern.

    Im Überschwang rutschte mir heraus: »Heute sind wir ja fast in Originalbesetzung!«

    »Richtig, das alte WM-Studio«, rettete mich mein Bruder, bevor es peinlich werden konnte. Zusammen hatten wir drei die gesamte WM 1990 gesehen, ich immer das Gipsbein in Hochlage.

    »Sei ehrlich, das mit deinem Beinbruch war doch damals ein ganz hinterhältiger Trick.«

    »Bestimmt nicht, der kann gar keine Tricks.« Klar, den musste Bommer einwerfen.

    Es war auch kein Trick. Den Gips hatte ich Amateur mir in einem Kreisligaspiel geholt, das ich für das entscheidende Abstiegsduell hielt. Dass kurz darauf die Weltmeisterschaft in Italien begann, spielte im Sommer der deutschen Wiedervereinigung keine so große Rolle wie heute. Auf das zu erwartende Gegurke der deutschen Elf hatte kaum einer Bock. Wenn wir uns überhaupt auf guten Fußball freuten, dann auf den attraktiven, offensiven und technisch versierten Fußball der Holländer oder der Brasilianer.

    Doch mit der Gipsfessel am Fuß drohte nur große Langeweile. Mit großem Ballyhoo ernannte ich mein Wohnzimmer zum »WM-Studio«, das nach einer mitleiderregenden Telefonaktion dann immerhin noch Alex, Bommer und Renni aus meiner Mannschaft anlockte. Zusammen guckten wir erst skeptisch, dann aber mit jedem Sieg der deutschen Mannschaft immer begeisterter alle Spiele von »Italia 90«. In den vier Wochen Dauerglotzen wurde mein »Studio« zu einer frühen Form von Live-Kabarett und Videoanalyse. Als Matthäus, Brehme und Völler am 8. Juli 1990 in Rom diesen Pokal in die Luft reckten, waren wir überzeugt, dass wir andere im Land mit unserer neuen Lust auf Fußball angesteckt hatten. 1:0 im Finale gegen Argentinien! Am Ende waren wir selbst ein wenig Weltmeister. Und fußballverrückt. Ball-pathologisch. So eine Schramme kann dir keiner mehr nehmen.

    Weltmeister zu werden, diese Erfahrung hatten wir der Generation Sommermärchen voraus. Rom war der letzte große Titel, dem die Deutschen nun seit 24 Jahren hinterherliefen.

    »Also, jetzt mal unter Weltmeistern.« Ich grinste und sah an Bommers Gesicht, dass er mich verstand. »Ist es diesmal wieder soweit, dass wir den Titel holen?«

    »Bei mir in der Werkstatt meinen viele ja.« Bommers Gesicht sagte, was er davon hielt.

    »Aber die Jungspunde plappern das doch nur, weil sie mal wieder ’ne geile Party feiern wollen, so richtig mit Public Viewing und Komasaufen und Rumbrüllen. Als ob das schon reicht für den Titel.«

    »Aber ohne Bier geht’s auch nicht.«

    Alex packte sich die nächste Flasche und öffnete sie mit dem Feuerzeug. In einer einzigen fließenden Bewegung, die damit endete, dass er sich eine Zigarette anzündete. Als sei das Feuerzeug in seinen Fingern ein dressiertes Tier. Wie oft hatte ich ihn dabei stumm bewundert? Wie viele Spiele hatten wir zusammen bei der ESG 99/06 gespielt? Hunderte sicher; für Alex und Bommer waren mindestens doppelt so viele dazu gekommen, seitdem ich vor 20 Jahren nach Hamburg gezogen war.

    Bommer hatte graue Schläfen bekommen. »Ein bisschen wie Schweini«, dachte ich, aber das stand unserem Jüngsten mit seinen 45 gar nicht schlecht. Zu den vielen Lachfältchen in den Augenwinkeln, die er im WM-Studio schon hatte, waren mit den Jahren ein paar neue dazugekommen. Die Beine noch immer so muskulös und sehnig, wie ich sie gern hätte, obwohl er nicht mehr Marathon lief. Das Knie – selbst Bommer konnte der Zeit nicht davon laufen.

    Das Bier schmeckte verdächtig gut, heute würden noch ein paar dazu kommen. Ich nahm mir vor, später am Abend keine Wetten mehr einzugehen. Besoffene Tipps verhageln das Ergebnis.

    Alex stellte seine Flasche ab, in der es von seinem tiefen Zug kräftig schäumte. »Jetzt zerren sie überall die Weltmeister von damals aus der Versenkung, und was sollen die anderes erzählen, als wir seien wieder dran mit dem Titel.« Er rollte die Augen. »Als wäre allein das lange Warten schon Grund genug, wieder Weltmeister zu werden. Was sollen dann die Argentinier sagen, oder erst die Engländer? Stehen die denn in der Warteschlange vor uns? So nach dem Motto ›Hey, you Krauts, nun mal nicht vordrängeln, wir warten hier schon 48 Jahre?‹«

    Bommer spielte lieber den analytisch denkenden Hansi Flick, wozu hatte er schließlich zwei Jahre lang weltweit die Spiele der WM-Qualifikation verfolgt?

    »Naja, Argentinien und England haben längst nicht so souverän gespielt wie unsere Truppe. Und spätestens seit Südafrika 2010 hätte ich vor beiden keine Angst mehr. Die Gauchos haben Messi und keine Taktik, die Tommys gar nix.« Ich nickte Bommer innerlich zu. Für solche Experten war ich ins Revier gekommen.

    »Und du, alter 0:0-Tipper, was glaubt du?« Er schaute mich an.

    Musste Bommer jetzt unbedingt darauf anspielen, dass ich damals im WM-Studio mit meinen Minimaltipps zwar unbeliebt, aber erfolgreich war? Na, gut.

    »Also, im Viertelfinale wird es gegen Frankreich schon schwer.« Soweit hatte ich meinen WM-Planer zumindest studiert. »Aber gegen Brasilien ist im Halbfinale Schluss.« Alex schaute nicht einmal hoch. Ein Oma-Tipp, na klar. Nach dem Weltmeistertipp die mathematisch nächsthöhere Wahrscheinlichkeit. Wer nicht an den Pokal glaubte, wettete auf ein Ausscheiden im Halbfinale. Darin hatten die Deutschen nach 2006 und 2010 schon große Übung.

    Aber mein Tipp entsprang nicht etwa aus schmerzhafter Resignation, sondern aus jahrelanger Analyse und vielen Abenden vor dem Fernseher. Seit 2006 hatte ich kaum ein Länderspiel verpasst. Seit ich im Münchener Stadion live erlebt habe, wie Philipp Lahm im WM-Eröffnungsspiel genau auf meiner Höhe

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