Das Blauerhundkonzept 1: Hunde emotional verstehen und trainieren
By Rolf C. Franck and Madeleine Franck
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Book preview
Das Blauerhundkonzept 1 - Rolf C. Franck
Franck
TEIL 1
Ein neuer Blick auf einen alten Freund
BEZIEHUNGSKISTE
Oft wird das Schlafbedürfnis eines Hundes unterschätzt.
Die Dominanztheorie – Das große Missverständnis
Die Regale stehen voll mit Büchern, aus denen hervorgeht, dass Hunde in Hierarchien denken und leben. In vielen Fernsehsendungen wird den Hilfe suchenden Hundehaltern von Hundenannys und Hundeprofis erklärt, wie sie sich als richtiger Rudelführer und Chef des eigenen Vierbeiners verhalten sollten. Im Wesentlichen besteht die Dominanztheorie bei Hunden dabei aus vier Thesen. Sie besagt erstens, dass Hunde alle sozialen Beziehungen als Rangordnungen ansehen und sie zweitens immer danach streben, in der Rangfolge aufzusteigen. Laut Dominanztheorie gilt drittens, dass bestimmte Verhaltensregeln die Position in der Rangordnung bestimmen und viertens, dass Menschen diese Regeln befolgen müssen, um den Hund unterzuordnen. Damit der Hund nicht „dominant wird, empfehlen Experten zum Beispiel, den Hund zu ignorieren, ihn nicht vor sich durch die Tür gehen zu lassen, ihn erst zu füttern, wenn man selbst gegessen hat, ihn nicht auf erhöhte Liegeplätze wie das Sofa oder gar das Bett zu lassen. Auch auf vielen Hundeplätzen bemüht man sich mit mehr oder weniger groben Methoden, angeblich „dominanten
Hunden zu zeigen, dass der Mensch in der Rangordnung über ihnen steht. All die Psychotricks oder Einschüchterungsversuche werden in der Regel mit dem Verhalten von Wölfen begründet, die ja schließlich die Vorfahren unserer Hunde sind. Leben aber Wölfe tatsächlich in strikten Rangordnungen und sind Hunde wirklich wie Wölfe?
Abb. 1: Rangordnung beim Wolf?
Rangordnung bei Wölfen?
Wie bei vielen anderen Wildtieren wurde auch beim Wolf sehr lange unterstellt, dass er in einer strikten Hierarchie lebt, die von einem Leitmännchen und einem Leitweibchen angeführt wird (siehe Abbildung 1). Sie sollten es sein, die bestimmen, was wann gemacht wird, und ein hartes Regime gegenüber den unterlegenen Rudelmitgliedern führen. Die Vorstellung einer von der Natur vorgesehenen hierarchischen Ordnung und einer Dominanz der Anführer passte zum Gesellschaftsbild des neunzehnten Jahrhunderts, denn damit ließ sich wunderbar begründen, dass auch Menschen unterdrückt und ausgenutzt wurden. Als dann die noch junge Wissenschaft der Verhaltensforschung begann, sich näher mit dem Wolf zu beschäftigen, setzte man das Zusammenleben in pyramidenartigen Rangordnungen einfach voraus. Alle Verhaltensbeobachtungen wurden durch die dominanzgefärbte Brille gesehen und entsprechend bewertet. Kam es zum Beispiel zu Auseinandersetzungen unter den Rüden einer Wolfsgruppe, nahm man an, dass es dabei um die Position in der Rangfolge ging.
Ein großer Teil der gesamten Wolfsforschung wurde an Tieren betrieben, die in Gefangenschaft zusammenlebten. Oft waren die Gehege mit Tieren bestückt, die aus verschiedenen anderen Einrichtungen zusammengewürfelt wurden und sozusagen in „Zwangsgemeinschaften" lebten. Dass es dabei vermehrt zu Reibereien kam, ist mehr als verständlich – besonders wenn man bedenkt, dass Wolfsrudel in der Natur sehr viel mehr Raum zur Verfügung haben. Erst in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts begannen Wolfsforscher damit, die Tiere dort zu erforschen, wo siefrei leben. Einer von ihnen ist David Mech, der über Jahre hinweg immer dieselbe Gruppe in Alaska besuchte und den Tieren so sehr nahe kommen konnte. Seine wichtigste Erkenntnis ist, dass das typische Wolfsrudel aus zwei Elterntieren und deren Nachkommen besteht (siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Familienstruktur beim Wolf.
Die älteren Jungtiere helfen ihren Eltern bei der Pflege der Welpen und bei der Jagd und lernen von ihnen die wichtigen Dinge des Lebens. Etwa mit zwei Jahren werden sie geschlechtsreif und verlassen die Gruppe, um selbst einen Partner zu suchen und eine eigene Familie zu gründen. Manchmal werden auch alte Tiere, praktisch die Großmutter- und Großvatergeneration, vom Rudel mitversorgt. Das typische Wolfsrudel besteht also aus einer Familie, die ganz ähnlich organisiert ist wie eine menschliche Großfamilie. Beide Lebensformen findet man in unserer Zeit immer weniger vor, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Nicht nur beim Wolf wird die Dominanztheorie heutzutage sehr kritisch gesehen. Auch zum Beispiel bei Pferden wird diese Sichtweise inzwischen zunehmend revidiert. Die an frei lebenden Wölfen gemachten Beobachtungen sehen ohne den Blick durch die Rangordnungsbrille ganz anders aus als gedacht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es sind nicht die vermeintlich „dominanten" Alphatiere, die zuerst fressen. Wie gute Eltern es üblicherweise tun, sorgen auch Wolfseltern dafür, dass erst einmal der Nachwuchs, also dominanztheoretisch die Rangniedrigsten, versorgt werden. Wir finden daher, dass es Zeit wird, das überholte Konstrukt Rangordnung ad acta zu legen und den Blick für neue Erkenntnisse zu weiten, die uns Wolfsfamilien noch zu bieten haben.
Abb. 3: Familienstruktur beim Hund?
Rangordnung bei Hunden?
Die Sichtweise auf den Wolf hat sich also stark verändert. Bedeutet dies, dass auch Hunde ihr Zusammenleben in Familien organisieren (siehe Abbildung 3)? Um dies zu beantworten, hilft es sehr, die Entwicklungsgeschichte vom Wolf zum Hund zu verstehen. Auch hier gab es in früheren Zeiten Vorstellungen, die inzwischen widerlegt wurden. Ursprünglich wurde angenommen, dass unsere frühen Vorfahren Wolfswelpen an sich genommen hätten, um sie zu zähmen. Aus diesen sollten die späteren Hunde hervorgegangen sein. Passend zur Jahrtausendwende brachte das Ehepaar Ray und Lorna Coppinger sein Standardwerk mit dem schlichten Titel „Hunde" heraus und läutete damit ein neues Zeitalter in der Kynologie (die Wissenschaft vom Hund) ein. Sie führten frühere Thesen zur Entstehung des Hundes ad absurdum und erklärten sehr schlüssig, wie die Entstehung des Canis familiaris mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen zusammenhängt.
Als unsere Vorfahren vor etwa 12 000 Jahren ihren Lebensstil änderten und vom umherwandernden Jäger und Sammler zum sesshaften Landwirt und Viehhalter umsattelten, hatten sie ein neues Problem: Was tun mit den Abfällen des täglichen Lebens? Es entstanden erste Müllhalden und Latrinen außerhalb der neuen Siedlungen. Das brachte den Wolf auf den Plan. Er hatte sich schon immer auch von Resten und Kot ernährt, musste aber bisher für den größten Teil seiner Nahrung viel Zeit und Energie bei der Jagd aufwenden. Durch den ständig gedeckten Tisch in der Nähe des Menschen waren seine Versorgung und die seiner Welpen jedoch mit wenig Aufwand gesichert.
Abb. 4: Gruppenstruktur beim Hund.
Tiere, die die Nähe der Menschen besonders gut aushielten, bekamen das meiste Futter ab und sicherten ihren Nachkommen die besten Überlebenschancen. An diese gaben sie ihre geringere Fluchttendenz gegenüber dem Menschen weiter und die Evolution nahm ihren Lauf. Der Mensch profitierte ebenfalls von dieser neuen Lebensgemeinschaft. Die Wölfe in ihrer Nähe beseitigten viele Abfälle und hielten Ratten im Zaum. Auch wenn wir es nicht gerne hören: Wölfe bereicherten gleichzeitig den Speiseplan des damaligen Menschen und boten ihm einen ganzjährigen Vorrat an Frischfleisch. Die Veränderung vom Wolf zum Hund basiert also im Wesentlichen auf zwei Aspekten der Zuchtauswahl: Einerseits war da die natürliche Selektion von weniger scheuen Tieren in der neuen ökologischen Nische „Müllhalde". Das zweite Kriterium brachte der Mensch ein. Denn wenn es darum ging, einen der Wölfe als Braten auszuwählen, handelte er sicher nach praktischen Erwägungen. Tiere, die ihm nützlich waren, weil sie zum Beispiel besonders gut vor Gefahr warnten, sich als gute Rattenjäger erwiesen oder denen es gelang, die Sympathie der Menschen zu gewinnen, kamen nicht in den Kochtopf. Sie hatten weit bessere Überlebenschancen