Die Sonnenallee: Berliner Orte
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Die Sonnenallee - Jörg Sundermeier
Autor
Gestern
Man muss, will man Neukölln kennenlernen, einzig die Sonnenallee kennenlernen. Dann hat man alles. Das jedenfalls behauptete vor vielen Jahren in größerer Runde eine mir nicht weiter bekannte Frau. Ich glaubte ihr das nicht.
Ich war gerade frisch nach Neukölln gezogen, Anfang des neuen Jahrtausends, zuvor hatte ich in Charlottenburg und Prenzlauer Berg gewohnt. Nun wohnte ich zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße, unweit des S-Bahnhofs Neukölln, und die Gegend erfüllte alle Neukölln-Klischees, die man je vernommen hatte. Es gab in Laufweite so gut wie keine Einzelhändler mehr, auch machten sich Restaurants recht rar. Dafür gab es mehrere streng religiös geführte Treffpunkte, in denen Langbartmänner saßen und mit finsteren Blicken Shisha rauchten. Es gab Spielhallen, die oft keine Hallen, ja nicht mal größere Geschäfte waren, und diese dominierten gemeinsam mit den Wettbüros das Weichbild der Straßen. Die verranzten Kneipen, die man vorfinden konnte, waren entweder sehr deutschnational, was meistens damit einherging, dass viel gepöbelt wurde, oder sie schlossen um spätestens einundzwanzig Uhr, weil der Wirt schon seit fünfzehn Uhr mit seinen besten Gästen mitgetrunken hatte. Oder aber sie waren pseudoluxuriöse Gangsterbars, in denen nahezu alles ein Plastikimitat war: die Kunstledersessel, die Tische, die Wandbilder, die Colagläser, die Haare der Bedienung.
Die Herrentoilette der Kneipe, die sich in meinem Haus eingemietet hatte, konnte man schon von draußen riechen. Daneben war ein Puff. Unter oder über meiner Wohnung war wohl auch ein Etablissement, manche Freier jedenfalls waren ganz verstört, als sie zu später Stunde vor meiner Tür standen und erfahren mussten, dass ich nicht im Geringsten wusste, wer Analita ist. Da meine Tür nicht immer geschlossen blieb, wenn man nicht abschloss, stand einer sogar einmal in meiner Wohnung. Dass das Licht aus und ich im Bett war, hatte ihn nicht weiter irritiert.
Der Spätkauf um die Ecke, der den ganzen Tag über aufhatte, versorgte den nichtreligiösen Teil der Bevölkerung mit dem Nötigsten, er war der Tante-Emma-Laden der Straße, hier wurde auch der meiste Klatsch ausgetauscht. Tagelang konnte es dabei nur darum gehen, wer wieder wen verprügelt hatte. Dass der nächstliegende Lebensmitteldiscounter schloss, empfand man allgemein als Katastrophe, der nächste Discounter, der vielleicht vierhundert Meter weiter entfernt lag, wurde als zu abgelegen wahrgenommen. Meine Nachbarn gingen also ausschließlich zum Späti und beschwerten sich dort über die hohen Bierpreise. Und die Politiker. Und überhaupt.
Der nahe gelegene, sehr schön gestaltete Körnerpark wurde zwar auf eine beinahe romantische Weise geliebt, doch niemand schien so recht zu wissen, wofür es ihn eigentlich gab. Daher diente er vornehmlich dazu, dass Kinder ballspielen und Hunde kacken konnten.
Neukölln erschien mir fast exakt so zu sein, wie es der Journalist Thomas Blum im Neuköllnbuch
beschrieben hatte. Die Kneipen heißen dort ›Zur Tankstelle‹, ›Die Gießkanne‹ oder ›Bei Mama‹, und in jeder von ihnen läuft immer zur selben Uhrzeit ›La Isla Bonita‹ von Madonna. Es sieht in ihnen für gewöhnlich so aus, als wollten die Neuköllner Wirte den Preis für die abstoßendste Inneneinrichtung Deutschlands gewinnen. (…) Um sich ihrer Existenz zu versichern, führen viele Neuköllner Hunde mit sich. (…) Beliebt sind insbesondere riesenhafte, beißwütige Köter, die viel Krach schlagen und erbarmungslos alles vollscheißen, was sie sehen. Halb Neukölln besteht aus Discountern für Unterhaltungselektronik und Mobiltelefone. Die andere Hälfte besteht aus Imbissbuden, die etwas verkaufen, das wie Klärschlamm aussieht und auch so schmeckt.
So sah mein neuer Kiez also aus, und ich konnte und wollte damals nicht verstehen, warum ich mir nun auch noch die Sonnenallee anschauen sollte. Die Straße war lang, ja. Es gab diesen Kinofilm, ja. Aber der Film spielte im früheren Osten, wir waren hier jedoch im früheren Westen. Und Neukölln war, so glaubte ich, überall in Neukölln sichtbar.
Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich irrte.
Um das Jahr 2005 herum konnte man als Zugezogener vielleicht noch nicht so recht vorhersehen, was sich in Nordneukölln verändern würde. Ich war zwar schon früher oft dort gewesen, ein sehr guter Freund wohnte in der Ossastraße. Daher war ich, aus Charlottenburg kommend, am U-Bahnhof Hermannplatz ausgestiegen und die Weserstraße hochgelaufen, bis ich zu seiner Straße kam, oder ich hatte die Sonnenallee gekreuzt auf meinem Gang durch die Fuldastraße, an Dönerläden vorbei und dunklen Kneipen. Manche mochten dieses Kaputte, doch mir war das ganze Neukölln suspekt.
Wer in den Neunzigern aus Westdeutschland nach Berlin zog, der war in Charlottenburg, Wilmersdorf oder Schöneberg gut aufgehoben, in diesen Stadtteilen konnte man einiges aus der Heimat wiedererkennen, zudem lebten viele Westdeutsche dort und kultivierten an Stammtischen ihr Schwabentum oder ihre Herkunft aus Ostwestfalen. Der Ostteil der Stadt machte es einem wesentlich schwerer, dort war alles im Umbruch, junge Hausbesetzerinnen oder Raver trafen auf alteingesessene Ostberliner, die sich erst einmal daran gewöhnen mussten, dass ihnen die Partei keine Leitlinie mehr vorgab.
Traditionslokal
Neukölln war irgendwo dazwischen hängen geblieben, nicht ganz westlich war es, nicht östlich, und doch hatte es von beiden Teilen etwas. Das lag nicht an den Menschen mit Migrationshintergrund, die hier wohnten, diese Menschen gab es auch in Schöneberg, Kreuzberg, Spandau oder Reinickendorf, selbst wenn das die Sarrazins, Höckes und von Storchs heutiger Tage gern ignorieren und ein prosperierendes Deutschendeutschland herbeireden, das sie nie mit eigenen Augen gesehen haben können - da es nicht einmal in der Kleingartenkolonie Vaterland oder in der Kneipe Deutsches Eck
anzutreffen war.
Nein, Neukölln lag nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich irgendwie dazwischen, es lebte in Agonie. Die kleine Einkaufsmeile in der Karl-Marx-Straße versprühte noch den Charme der siebziger Jahre, das schnarrend berlinerte Hamwa nich
an der Ladenkasse war noch freundlich gemeint und irgendwo hinten, Richtung Drüben
, stand vermutlich noch die Mauer. Zwar wussten die meisten, die ihre wache Lebenszeit nicht ausschließlich in Kneipen wie dem Bierbaum 3
, dem Zum Donnerwetter
oder dem Komma Safari
zubrachten, dass die Grenze geöffnet und die Mauer weitgehend abgetragen war, doch obschon es noch keine Mauerwege und keine Pflastersteinlinien in den Straßen gab, die den Mauerverlauf anzeigten, wusste man ganz genau, wo drüben war und ging nicht dahin - nicht in das kürzere Ende der Wildenbruchstraße, nicht in das kürzere Ende der Sonnenallee und auch nicht in das längere Ende der Elsenstraße.
Die Partei war in Neukölln die SPD, das Bier war Berliner Kindl, der Berliner Westen galt als arrogant und der Osten per se für bescheuert. Man pflegte auch keinen ausgeprägten Lokalpatriotismus, man liebte ein bisschen Heimatgefühl, doch nicht zuviel. Der Lokalhistoriker Uli Hannemann weiß über spröde Atlneuköllner, die sich zu ihrer Heimat äußern sollten, Folgendes zu sagen: Freilich fällt die Liebeserklärung selbst ein wenig spröde aus. Es ist eher ein von Herzen kommendes ›Geht das nicht in deinen dämlichen kleinen Schädel: Ich lieb dich doch, du blöde Kuh!‹
Man lebte in und mit der blöden Kuh Neukölln, weil man hier geboren war oder weil man in Moabit oder in Tempelhof keine Wohnung gefunden hatte. Die Verkehrsanbindung war gut, der Britzer Garten schön, die Proteste blieben in Kreuzberg und die Sanierer in Mitte. Und das war auch gut so.
Die meisten Neuköllner waren nicht neugierig und nicht politisch aktiv, sie gingen ihrer Arbeit nach, schimpften auf die da oben
, kümmerten sich um ihre Familien, pflegten ihren Garten in der Hufeisensiedlung oder ihren Balkon am Landwehrkanal, sie kannten einige Nachbarn noch persönlich und scherten sich ansonsten um niemanden. Sie klagten gern und fanden reichlich Anlass dazu. Veränderungen wurden durchweg passiv erlebt.
Die Bevölkerung im nahen Treptow verhielt sich größtenteils genauso, obschon die Umbrüche, die in den Neunzigern stattfanden, für sie viel verheerender waren. Doch auch hier sah man eher zu, was