Kurt Weill: konzis
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Kurt Weill - Jürgen Schebera
Jürgen Schebera
Kurt Weill
Jürgen Schebera
Kurt Weill
konzis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer SDP 152
ISBN 978-3-7957-8576-5
© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8084
© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
www.schott-music.com
www.schott-buch.de
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.
Inhalt
Kindheit und Jugend in Dessau
Lehr- und Reifejahre in Berlin
Der Schritt auf die Opernbühne
Das neue Team: Weill / Brecht
Exkurs I: Songstil und epische Oper
Verteidigung der Oper – Vertreibung
Interludium in Paris
New York: Eroberung des Musicals
Exkurs II: Broadway Opera
Die letzten Jahre
Anmerkungen
Zeittafel
Zeugnisse
Werkverzeichnis
Bibliographie
Namenregister
Über den Autor
Dank
Quellennachweis der Abbildungen
Kindheit und Jugend in Dessau
Kurt Weill kam am 2. März 1900 in der – im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörten – jüdischen »Sandvorstadt« von Dessau, in der Leipziger Straße 59, zur Welt. Der Vater, Albert Weill (1867–1950), aus einer Kippenheimer Rabbinerfamilie stammend, war Kantor und Religionslehrer an der Dessauer Synagoge, die Mutter, Emma geb. Ackermann (1872–1955), kam gleichfalls aus einer süddeutschen Familie von Rabbinern. Beide Eltern repräsentierten das alteingesessene deutsche Judentum: Ich stamme aus einer jüdischen Familie, die ihre deutsche Vergangenheit bis auf das Jahr 1340 zurückleiten kann.¹ Dessau war zu dieser Zeit die Residenzstadt des Herzogtums Anhalt (1863 unter dem Askanier Herzog Leopold aus dem ehemaligen Fürstentum Anhalt, nach dessen mehrmaliger Teilung, wiedererstanden). Seit im Jahre 1621 Fürst Johann Casimir den ersten drei jüdischen Familien die Niederlassung in Dessau gestattet hatte, war hier – nicht zuletzt durch den aufklärerischen Einfluss des 1729 in ihrer Stadt geborenen Religionsphilosophen Moses Mendelssohn – eine der fortschrittlichsten jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland entstanden, zur Jahrhundertwende zählte Dessau unter seinen 15.000 Einwohnern 600 Bürger jüdischen Glaubens.
1898 hatte Kantor Albert Weill den Ruf nach Dessau erhalten, rasch hintereinander wurden hier die vier Weill-Kinder geboren: 1898 Nathan, 1899 Hans, 1900 Curt Julian (der zweite Vorname des Komponisten ist Stendhals Figur des Julien Sorel aus »Rot und Schwarz« geschuldet, die Mutter war eine Verehrerin der französischen Literatur), und schließlich 1901 das einzige Mädchen, Ruth.
Die ersten Lebensjahre des kleinen Kurt (wie er seinen Vornamen alsbald schrieb) waren von äußerst bescheidenen Lebensverhältnissen der sechsköpfigen Familie geprägt. Dies änderte sich zu Ostern 1907. Die Jüdische Gemeinde errichtete an der Steinstraße 14 dank einer großzügigen Stiftung der Baronin Cohn-Oppenheim eine neue Synagoge nebst Gemeindehaus. Dort bezogen die Weills nun die zuerst fertiggestellte geräumige Dienstwohnung. Am 18. Februar 1908 folgte schließlich die festliche Einweihung der imposanten, im romanisch-byzantinischen Stil erbauten Synagoge, die auch über eine große Orgel verfügte – ein weiterer Beleg für den in der Gemeinde herrschenden unorthodoxen Geist.
Der Knabe erhielt eine streng jüdische Erziehung und wurde von früher Kindheit an in Familie und Synagoge mit der hebräischen Musiktradition vertraut. Mein Vater, der Kantor und Komponist ist [schon 1893 war in Frankfurt a. M. eine Sammlung »Kol Avraham. Synagogen-Gesänge für Cantor und Männerchor« aus der Feder von Albert Weill erschienen], hatte stets großen Wert darauf gelegt, daß ich mir dieses Erbe zu eigen machte.² Beim Vater erhielt der kleine Kurt, der 1909 in die Herzogliche Friedrichs-Oberrealschule eintrat und schon früh besondere musikalische Begabung erkennen ließ, ersten Klavierunterricht.
Schon bald sollte ihm neben Gemeindehaus und Schule ein weiteres Gebäude zur zweiten Heimat werden: das Herzogliche Hoftheater. Errichtet im Jahre 1798 direkt gegenüber dem Herzoglichen Palais in der Kavalierstraße, war hier seit dem ersten »Tannhäuser« von 1857, dem weitere Wagner-Pflege folgte, ein »norddeutsches Bayreuth« entstanden, das vom theaterbegeisterten Herzog Friedrich II. alle erdenkliche Förderung erfuhr. Ich beobachtete oft, wie der Herzog jeden Morgen zwischen zehn und elf aus dem Palasthof heraus und über den Platz fuhr, um den Proben im Theater beizuwohnen.³ Der musikbeflissene Sohn des Kantors war dem Herzog aufgefallen, seit dem Jahr 1910 erhielt Kurt Weill freien Eintritt zu den Aufführungen und konnte auch Proben besuchen. Ebenso wurde er öfter an den Hof gerufen, um der nahezu gleichaltrigen Prinzessin Antoinette Anna bei ihren Klavierübungen zu helfen.
Am 1. Oktober 1913 kam der Pfitzner-Schüler Albert Bing als Opernkapellmeister ans Hoftheater. Er nahm in den folgenden Jahren großen Einfluss auf die weitere musikalische wie geistige Formung des jungen Kurt Weill, der bei Bing ersten systematischen musikalischen Unterricht erhielt. So berichtet Weill zum Beispiel 1917:
Bei Bing arbeite ich jetzt wahnsinnig; jede Woche ein paarmal. Neben den üblichen klaviertechnischen und Schlüsselleseübungen machen wir jetzt folgendes: Wir nehmen irgendeine Opernpartitur und den Klavierauszug dazu, dann spielt zuerst Bing aus dem Auszug und ich dirigiere aus der Partitur, nachher umgekehrt.⁴
Synagogalmusik
Musik der jüdischen Liturgie, bis etwa 1850 streng nach dem Muster der alten orientalischen Grundformen (u. a. drei festgelegte Steiger [Tonarten]) verlaufend. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Westeuropa infolge starker, von Deutschland aus-gehender Reformbestrebungen stilistische Entfernung von der alten Tradition und Annäherung an die Musik der europäischen Kirche (auch Einbeziehung der Orgel) wie an das allgemeine klassisch-romantische Empfinden. Synthese von Tradition und Reform, wichtigste, auch Kantor Albert Weill beeinflussende Komponisten: Salomon Sulzer (1804–1891), Samuel Naumbourg (1815–1880), Louis Lewandowski (1821–1894).
Bings Ehefrau, eine Schwester des Dramatikers Carl Sternheim, führte den Jüngling in ihren musischen Zirkel ein, in dem man über neueste Literatur und Kunst diskutierte.
Durch Bing festigten sich die Beziehungen zum Hoftheater weiter, ab 1916 war Weill bereits des öfteren als »außerplanmäßiger« Korrepetitor tätig. Seine inzwischen erreichten pianistischen Fähigkeiten hatte er erstmals im Dezember 1915 öffentlich unter Beweis stellen können, als er im Festsaal des Herzoglichen Fridericianums bei einem Benefizabend Werke von Chopin und Liszt vortrug. Am 19. August 1917 durfte er die gefeierte Primadonna des Hoftheaters, Kammersängerin Emilie Feuge, bei einem Liederabend im nahegelegenen Köthen begleiten. Tags darauf berichtete er dem Bruder: Um ½ 2 ins Bett, um ¾ 5 raus, um ½ 6 mit dem ersten Zug weg, dann hier rasch umgezogen und um 7 mit gewaltigem Hochdruck in die Penne! Am Schluss des Briefes schildert er den Widerstreit in der Seele des Siebzehnjährigen, die erträumte Zukunft: Ach ich möchte jetzt so ein nettes kleines Zimmer haben, in Berlin, in Leipzig, in München; und ein Schrank voll Partituren und Büchern und Klavierauszügen und Notenpapier, und arbeiten daß die Schwarte knackt; und einmal ohne Hausvatersorgen, ohne Schulkram, ohne Einberufungssorgen hintereinander aufschreiben, was mir meinen Kopf manchmal fast bersten macht; und nur Musik hören und nur Musik sein!⁵
Hausvatersorgen – die Bezüge des Kantors waren im dritten Kriegsjahr drastisch gekürzt worden, Kurt hatte zum Familienunterhalt beizutragen – sollten ihm auch weiterhin auferlegt bleiben, er kam der Sohnespflicht stets ohne zu zögern nach. Die Einberufungssorgen (Bruder Nathan war bereits im Felde) waren zwar begründet, doch sollte Kurt Weill verschont bleiben. Und der Schulkram wurde achtbar absolviert, obwohl die Interessen längst eindeutig bei Musik und Oper lagen. So schreibt er nach dem Besuch einer von Bing dirigierten Verdi-Premiere:
Wir haben das Ereignis dann noch bei Tee und Schokolade zu dreien gefeiert, und Bing hat sehr schön erzählt von »Rigoletto«-Aufführungen mit Caruso und Baklanow. […] Du kannst dir denken, daß ich heute morgen zu allem anderen Lust hatte, als in die Schule zu gehen. Aber was hilft’s?⁶
Zu diesem Zeitpunkt, Herbst 1917, war in Dessau bereits eine beachtliche Zahl von Kompositionen entstanden. Die frühesten erhaltenen Werke sind ein Mi Addir – Jüdischer Trauungsgesang von 1913 sowie ein A-cappella-Chor Gebet (»Für Ruths Einsegnung«, nach einem Text von Emanuel Geibel) von 1915, beides für den Gebrauch in der Synagoge. Ab 1916 folgte dann eine ganze Reihe von Liedkompositionen (u. a. Im Volkston nach Arno Holz, Volkslied nach Anna Ritter, Sehnsucht nach Joseph Eichendorff, Die stille Stadt nach Richard Dehmel, zwei Duette nach Otto Julius Bierbaum und ein Zyklus Schilflieder nach Nikolaus Lenau), die zeigen, mit welcher Dichtung sich der junge Mann beschäftigte. Wichtigstes Werk dieser frühen Phase des Komponierens ist der Zyklus Ofrahs Lieder von Herbst 1916, fünf Stücke für Gesang und Klavier nach klassischen hebräischen Texten des Jehuda Halevi, die bereits beachtliches musikalisches Ausdrucksvermögen zeigen. 1917 entstand auch ein Intermezzo für Klavier.
Für einen Siebzehnjährigen eine außergewöhnliche Werkliste! Und: Dass er nur ein Jahrzehnt später die Opernentwicklung des 20. Jahrhunderts entscheidend mitbestimmen sollte, hier in Dessau lag eine der Wurzeln dafür: erste intensive Berührung mit dem Genre am Herzoglichen Hoftheater.
Längst stand in der Familie die Musik als Studienfach fest. Im März 1918 schloss Kurt Weill die Oberrealschule ab. Obwohl er gerade das Kriegsdienstalter erreicht hatte, ging der Kelch der Einberufung an ihm vorüber. Erleichterung spricht aus folgenden Worten an den Bruder: Lieber hungern als Soldat spielen, meinst du nicht auch?⁷ Statt in die Kaserne, wie viele seiner Altersgenossen, fuhr der junge Mann nun zur Aufnahmeprüfung an die Hochschule für Musik in Berlin. Er bestand sie und wurde Ende April immatrikuliert. Kindheit und frühe Jugend lagen hinter ihm, nun zog der gerade Achtzehnjährige aus, im geistigen Zentrum Deutschlands das Komponistenhandwerk endgültig zu erlernen.
Lehr- und Reifejahre in Berlin
Ende April 1918 begann das Studium an der Hochschule für Musik. Weills Lehrer waren Friedrich E. Koch (Kontrapunkt), Rudolf Krasselt, damals Erster Kapellmeister des Städtischen Opernhauses (Dirigieren) und Engelbert Humperdinck (Komposition). Durch einen bloßen Zufall bin ich zu Humperdinck gekommen. Man hatte mich nämlich mit einem anderen verwechselt, der nur einmal angefragt hatte, ob er bei Humperdinck Unterricht kriegen könnte.⁸ Außerdem belegte Weill Philosophievorlesungen an der Berliner Universität: Du könntest mich hier als stud. mus. (Kriegsmus!) et phil. bewundern. […] Auf der Universität habe ich schon zwei herrliche Vorlesungen gehört. In Dessoirs »Philosophie der Kunst« ist für mich jedes Wort eine Offenbarung, und auch Cassirers Abhandlung über die Philosophie der Griechen folge ich mit viel Freude und Interesse.⁹
Schon bald bildete sich der Student ein erstes Urteil über seine Lehrer an der Hochschule. So heißt es nach erst einmonatigem Studium: [Sie] sind gewiß nicht modern: Humperdinck höchstens in bezug auf kühne Rücksichtslosigkeit in der kontrapunktischen Stimmführung, Koch ist ein steifer Kontrapunktiker, als Komponist ein hypermoderner Viel-Lärm-um-nichts-Schreiber.¹⁰ Dennoch übersah Weill nicht, welche Fortschritte im Handwerklichen ihm vermittelt wurden. Als Anfang Juli die Sommerpause begann, schrieb er dem Bruder Hans:
Wenn ich die Ergebnisse des ersten Semesters überblicke, so glaube ich, […] daß ich überhaupt vom Komponieren eine Ahnung gekriegt habe, daß ich im Partiturspiel, Orgel- und auch Klavierspiel sehr viel profitiert habe. Und: Was ich außerdem fürs Leben gelernt habe, ist von unschätzbarem Wert: vom Grießbreikochen bis zum richtigen Umgang mit unverschämten Choristinnen.¹¹
Aus der ruhigen und provinziellen Anhalter Residenzstadt in die pulsierende Metropole des Reiches, von der braven Oberrealschule ins aufregende Hochschulleben – Kurt Weill erlebte große Kontraste. Er besuchte eifrig Theater und Konzerte, las viel. Das Geld für die Eintrittskarten und Bücherkäufe verdiente er sich, da die Eltern ihn kaum unterstützen konnten, durch eine Tätigkeit als Chordirigent bei der Jüdischen Gemeinde in Berlin-Friedenau, die er von Mai bis Ende September 1918 ausübte. Das brachte immerhin 250 Mark im Monat ein, dafür aber hatte der junge Mann mit mancherlei Unbill zu kämpfen: Die Herren (10 an der Zahl) sind lauter Gojim und stellen sich mit dem Text scheußlich an. Aber mehr als zweimal wöchentlich wollen sie ja nicht proben. Und dazu muß man nun hier sitzen.¹² Manchmal kam es noch schlimmer: Da ich gestern abend nach 2 Kompositionsstunden