TEXT + KRITIK 213 - Kurt Drawert
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Das Heft unternimmt eine erste umfassende Besichtigung von Drawerts Werk. Neben gattungsspezifischen Analysen enthält es ein unveröffentlichtes Gedicht des Autors, Originalbeiträge ihm nahestehender Schriftsteller und Schriftstellerinnen, ein umfangreiches Gespräch mit seinem Lektor Martin Hielscher sowie eine Auswahlbibliografie.
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TEXT + KRITIK 213 - Kurt Drawert - edition text kritik
2016
[8|9]Michael Braun
In Rufweite zum Schweigen
Eine Fußnote zu Kurt Drawerts Poetik
Dass wir im Zeitalter des Epilogs leben, dahintreiben in einer überraschungslos gewordenen Welt voller Reprisen, ist ein diagnostischer Evergreen der modernen Kulturkritik. Bereits vor über einem halben Jahrhundert hat der Anthropologe Arnold Gehlen das »Posthistoire« ausgerufen, einen Zustand der »Kristallisation«, in dem alle Grundentscheidungen der Kunst und Kultur gefallen sind. Was am Ende einer »sinnlogischen Kunstgeschichte« noch bleibe, so Gehlen 1963 in seinem Essay »Über kulturelle Kristallisation«, sei eine große Erschöpfung, ein »Synkretismus des Durcheinanders aller Stile und Möglichkeiten«.¹ Diese Diagnose der Erschöpfung, aufgeladen noch mit einem Degout an den Wucherungen der Internet-Sphäre, wird in den Essays des Schriftstellers Kurt Drawert aufgenommen und kulturkritisch noch weiter verschärft. Der 1956 geborene Drawert ist, soweit ich sehen kann, der einzige deutsche Autor von Rang, der mit großer Entschlossenheit und begrifflicher Konsequenz an die Einsichten der französischen Meisterdenker Lacan, Foucault, Deleuze und Barthes nicht nur anknüpft, sondern sie erkenntnistheoretisch umsetzt in eine stringente ästhetische Theorie. Die Terminologien des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus haben seinen eigenen Stil in einer Weise imprägniert, dass die stilistische Artistik seiner Essays fast enigmatisch wirkt, in ihrer totalen Verweigerung der geschmeidigen Meinungsfreude.
Drawert will heraustreten aus den Oberflächlichkeiten des Literaturbetriebs und aus den medialen »Entleerungsdiskursen«, indem er die kulturellen Symptome der Erschöpfung in ihrer Unerträglichkeit bis in ihre Mikrostrukturen hinein analysiert. Dabei ist für ihn die Überführung der Kultur in die digitale Sphäre der absolute Sündenfall, sieht er hier doch »die kulturelle Erschöpfung in ihrer finstersten Erschöpftheit« realisiert.² Bereits in seiner so ambitionierten wie lehrreichen Studie »Schreiben« (2012), einer subtilen Psychoanalyse der Literatur und ihrer Schreibwerkzeuge, interpretierte Drawert die unendliche Freiheit der Netz-Kultur als Verfallsgeschichte: »Online-Sein heißt immer auch Verflüchtigung, Dispersion (…). Für unsere Texte, die Literaturtexte sind, bedeutet ein Auftritt im Internet immer Verlust.«³ Seine unter dem Titel »Was gewesen sein wird« versammelten Essays setzen diese Analysen des »verlorenen Signifikanten« fort, kreisen um die »Entrückung des Realen in einen Hohlraum von Realität« und vermelden [9|10]den Zusammenbruch der Kultur, »weil der leere Signifikant zum Repräsentanten einer entleerten, von Surrogaten umstellten Lebensrealität geworden ist«.⁴ Diese grimmigen Invektiven gegen die Kultur der »gelöschten Zeichen« haben eine lange Vorgeschichte. Sie beginnen nicht erst mit den essayistischen Anverwandlungen des französischen Strukturalismus, sondern bereits in Drawerts lyrischem Erstling »Zweite Inventur«, der im Titel einen poetischen Schlüsseltext Günter Eichs aufnimmt. Diesem Gedichtbuch von 1987 sind bereits Motti von Drawerts Hausgöttern Michel Foucault und Stéphane Mallarmé vorangestellt. Und das allererste Gedicht des Bandes, die Rolf-Dieter-Brinkmann-Hommage »Gedicht im Juni, Juli, August«, enthält die poetologische Grundformel, an der sich das Schreiben dieses Dichters seither orientiert: »Die Worte gehörten mir nicht, / kalt lagen sie unter der Zunge als / nichtgemachte Erfahrung, Formulierungen, / die zu klein waren für die Ideen / und dahintrieben wie bauschige Wolken«.⁵ Und dieses Ungenügen an den Wörtern, dieses Grundgefühl, über keine taugliche Sprache zu verfügen, ins Verstummen getrieben und damit ausgeschlossen zu sein, ist die innere Tätowierung, die in Texten dieses Autors immer wieder sichtbar wird. Es ist die zentrale Grundfigur der modernen Lyrik, seit Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief, in dem das schreibende Ich sein Unbehagen artikulierte, dass ihm die Worte im Mund zerfallen »wie modrige Pilze«. Und nun Kurt Drawert: »Was macht die Sprache mit uns, und was machen wir mit der Sprache? Wo repräsentiert sie uns und unser Begehren und wo redet sie unser Begehren nur ein?«⁶ Diese Grundfragen, die der 2012 gehaltene Vortrag »Diktatur der Sprache. Sprache der Diktatur« aufwirft, sind wie schmerzhafte Urszenen, auf die Drawerts Werk immer neu reagiert. Welche unmittelbare Erfahrung der Gewalt mit der Begegnung mit der Sprache verbunden war, hat Drawert in dem essayistischen Roman »Spiegelland« von 1991 beschrieben, den er später als sein persönlichstes Buch bezeichnete: »Denn außer in meinen Gedichten ist kein Textkörper so sehr durchdrungen von existenzieller Verzweiflung.«⁷ »Spiegelland« handelt von den Traumatisierungen, die dem Jugendlichen widerfuhren, der von seinem Vater in die Dunkelheit des Kellers gesperrt wurde. Die Alphabetisierung erlebte der Junge als fortdauernden Schrecken. »Die Worte drangen wie vergiftete Pfeile ins Fleisch«, heißt es an einer Stelle, und das ganze Leben des Schriftstellers Drawert erscheint als der Versuch, aus dieser repressiven Ordnung der Sprache, die nur die Ordnung des Vaters repräsentierte, herauszutreten. So blieb dies eine immer neu beschworene Konstante seines Schreibens: Das Nicht-Sprechenkönnen als Kind und Jugendlicher, die Sehnsucht nach einem Sprechen, zu dem dann immer die passenden Worte fehlen.
Zur Identifikationsfigur und zum symbolischen Kronzeugen von Drawerts Lyrik wird nicht zufällig ein rätselhafter Fremdling, der sich in die Welt der Sprache erst zögernd hineintasten musste. Es ist der Findling Kaspar [10|11]Hauser, der im Mai 1828 urplötzlich auf einem Marktplatz in Nürnberg auftauchte und den die überraschten Zeitgenossen sogleich den Maximen ihrer Lebenswelt anpassen wollten. Der stumme Kaspar Hauser, der aus seiner lichtlosen Höhle heraustritt und sich plötzlich einer neuen Ordnung unterwerfen muss – das ist ein Zentralmotiv, das uns in unterschiedlichen symbolischen Repräsentationen und Variationen in den Gedichten Drawerts immer wieder begegnet. Kaspar Hauser, der in die Menschenwelt Hineingetriebene, träumt noch einmal im gleichnamigen Gedicht von der glücklichen Zeit »jenseits der Sprache«, da er noch geborgen war in der »Geschichte der Stille«. Der Verlust dieser Stille, das Hineingeworfenwerden in die herrschende Sprachordnung, ist das Trauma, das dann der Schriftsteller zu bearbeiten hat.
Kaspar Hauser
Wenn er jetzt, versehentlich
in der Welt, an die Zeit
im Kamin denkt,
jenseits der Sprache
und im glücklichen Spiel
mit seinen Zehen,
als da nichts war
außer den flinken,
fröhlichen Mäusen
zur wunschlosen Stunde
und die Wärme
im Schatten des Namens
tief war im Körper,
wo jetzt die Klinge
hart bis zum Schaft
ihren Platz hat ….,
wenn er jetzt, den Mund
voll von Blut, den Beamten
des Fortschritts
die Geschichte der Stille
erzählt, dann bereut er
noch einmal
die Entdeckung des Lichts,
das erste Öffnen der Tür,
und wie er im zu guten Glauben
a gesagt hat.
[11|12]Der Eintritt in die Menschenwelt und ihr kommunikatives Handeln wird hier zum fatalen Ereignis. Das »A-Sagen« – es ist die Einweihung in das Regelwerk einer Gesellschaft, die sich den Einzelnen systematisch unterwirft.
Wie in diesem »Kaspar Hauser«-Denkbild entwerfen viele Gedichte Drawerts die Szene einer abgrundtiefen Fremdheit des Subjekts, die sich am fragilsten Ort des Sozialen, nämlich in der sprachlichen Verständigung, manifestiert. Kaum beginnt das Subjekt zu sprechen, zerfällt die Ordnung der Dinge. Es vollzieht sich sogleich eine Spaltung von Name und Ding, die Sprachzeichen verfehlen die von ihnen bezeichneten Gegenstände, die Bedeutungen entfernen sich immer weiter ins Diffuse.
In ihrem innersten Kern handeln fast alle Gedichte Kurt Drawerts von diesen Erfahrungen der elementaren inneren Spaltung und Trennung, vom Verlust des Sprachvertrauens und dem Ausgesetztsein eines Sprechenden, der seine Identität durch die gewaltsam verfügte Sprachordnung bedroht sieht.
»Ich rede davon«, so resümiert Drawert denn auch in dem fesselnden Meisterstück seines Essaybuches, einer überaus luziden Studie über Flaubert, »wie mir die Sprache erschienen ist: als ein Instrument der Disziplinierung und der Vereinnahmung, mit ihr und durch sie hindurch eine Ordnung, auf die ich keinen Einfluss mehr hatte, nicht nur anzuerkennen, sondern sprechend auch zu bestätigen und neu zu begründen, (…) und diese Sprache zu verlassen war eine Entscheidung des Körpers, ehe es zu meinem Denken wurde, es war, hilflos genug, Rebellion, und wie ein Delinquent nahm ich die Züchtigungsrituale entgegen, die immer gut gemeint waren, im Namen der Liebe.«⁸ Wie Drawert diese Ordnungen der Sprache aufbricht, wie er Flauberts Strategien zu seinen eigenen macht, wie er in großer stilistischer Virtuosität einer Poetik folgt, um »mit einem entleerten oder doch zumindest von Leere durchdrungenen Zeichenvorrat Bedeutungen zu schaffen« – das ist ganz große Interpretationskunst. Diese Flaubert-Lektüre ist um vieles ertragreicher als die an Exempeln arme Generalabrechnung mit der »Zerstörung des Wertes der Zeichen« oder der »alphabetischen Zeichen«, wie sie der Autor in seinem Traktat »Das Ende der Provokation« zelebriert. Wer die Essays von Kurt Drawert liest, die schon im vertrackten Futur II des Titels »Was gewesen sein wird« ein sprachreflexives Denken annoncieren, wird immer mit jener Aufbruchsbewegung konfrontiert, mit der sich dieser Autor aus den Stereotypien des Sprachsystems herausarbeitet. Eine Denkbewegung, die sich schon in der Sprach-»Inventur« seines ersten Gedichtbands ankündigt. Dort findet man ein »Statement«, das in seiner in ambivalente Allgemeinbegriffe verwickelten Syntax die planen Behauptungen und Wahr heiten unterläuft und erste Schritte macht auf dem langen Weg, den »verlorenen Signifikanten« wiederzufinden: »In der Überschreitung der durch den Determinismus des praktischen Denkens gesetzten Grenzen, dargestellt in der Hierarchie der Bedeutungen, erscheint Wahrheit als die Totalität von [12|13]Erfahrung, wie sie in den Zeichensystemen gespeichert ist und aus ihnen hervorzugehen vermag und über sie hinaus; Bewegungen in Richtung des Schweigens.«⁹ Bewegungen »in Richtung des Schweigens« – das sind die ästhetischen Schritte, die auch der späte Günter Eich vollzog (»Sprache beginnt, wo verschwiegen wird«)¹⁰, als er die Begrenztheit der naturmagischen wie auch aller anderen poetischen »Inventur«-Konzepte erkannte. Kurt Drawert ist über Eichs Konzept weit hinausgegangen – aber in seinen Gedichten und Essays immer in Rufweite zum Schweigen geblieben.
1 Arnold Gehlen: »Über kulturelle Kristallisation«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): »Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion«, Weinheim 1988, S. 133–143. — 2 Kurt Drawert: »Das Ende der Provokation. Eine Zustandsvermutung«, in: Ders.: »Was gewesen sein wird«, München 2015, S. 236. — 3 Kurt Drawert: »Schreiben. Vom Leben der Texte«, München 2012, S. 73. — 4 Drawert: »Das Ende der Provokation«, a. a. O., S. 217, S. 235 und S. 237. — 5 Kurt Drawert: »Gedicht im Juni, Juli, August«, in: Ders.: »Zweite Inventur«, Berlin, Weimar 1987, S. 14. — 6 Kurt Drawert: »Diktatur der Sprache. Sprache der Diktatur«, in: Ders.: »Was gewesen sein wird«, a. a. O., S. 127. — 7 Kurt Drawert: »Wer war ich, als ich es dachte und sah? Eine Vorbemerkung«, in: Ders.: »Spiegelland. Roman Prosa Material«, Wiesbaden 2015, S. 17. — 8 Kurt Drawert: »Emma. Ein Weg«, in: Ders.: »Was gewesen sein wird«, a. a. O., S. 26. — 9 Kurt Drawert: »Statement«, in: Ders.: »Zweite Inventur«, a. a. O., S. 94. — 10 Günter Eich: »Was ich nicht geschrieben habe«, in: Ders.: »Gesammelte Werke«, Bd. IV, Frankfurt / M. 1973, S. 306 f.
[13|14]Michael Opitz
Selbst(er)findung mit Vater und Land
Kurt Drawerts »Spiegelland«
Der Lyriker, Romancier, Dramatiker und Essayist Kurt Drawert versteht seinen Gedichtband »Zweite Inventur« (1987) in Anlehnung an Günter Eichs Gedicht »Inventur« als eine Bestandsaufnahme. Doch während Eich danach fragt, was noch vorhanden ist, erinnert Drawerts Titel daran, dass nach der ersten eine zweite Inventur notwendig geworden ist. Diese zweite Inventur erfolgt aus der »Perspektive einer etablierten Gesellschaft, die dabei ist, alles wieder zu verlieren. Es ist faktisch die Umkehr, das Insistieren auf das, was verschwinden kann, nicht was erhalten geblieben ist.«¹ Bei Drawerts Inventur handelt es sich um eine Sprachinventur. Darauf verweisen die beiden »programmatischen Vorbemerkungen«, die er seinem Gedichtband vorangestellt hat.² Neben einem Motto von Stéphane Mallarmé findet sich ein Zitat von Michel Foucault: »… man muß weiterreden, man muß Wörter sagen, solange es welche gibt; man muß sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mich sagen …«³
Ein Zugang zu Drawerts Poetologie lässt sich finden, folgt man den vielfältigen Überlegungen des Autors, in denen er sich mit der Sprache auseinandersetzt. Denkt Drawert über das in der Sprache Mögliche nach, dann stellt er zugleich auch Überlegungen zu Sprachverwerfungen an, verweist er auf ein von »außen« bestimmtes, »nicht repräsentierendes Sprechen«.⁴ Anders als Rainer Maria Rilke, der im »Malte Laurids Brigge« vom Zustand des ›Geschriebenwerdens‹ spricht, kennt der Dichter für Drawert den Zustand des »Gesprochen-Werdens«.⁵ Im muttersprachlichen Umfeld des Protagonisten in Drawerts »Spiegelland« existiert eine Sprache, die sich zwar von der Sprache unterscheidet, die er spricht, beide aber sind nicht voneinander zu trennen. Sprache wird von der Gesellschaft als ein Mittel eingesetzt, um den Einzelnen zu disziplinieren, indem sie einen von ihr verwalteten Sprachraum schafft, der von denen als sprachliche Realität vorgefunden wird, die in diesen sprachlich definierten Raum hineingeboren werden und in ihm aufwachsen. Sprechen lernen heißt, die in diesem Sprachraum gesprochene Sprache zu erlernen. Will sich das Ich sprechend in der Gesellschaft bewegen, hat es Sprachregeln zu befolgen. Erst im Verlauf seiner Entwicklung ist es ihm möglich, eine eigene Sprache innerhalb der existierenden auszubilden. »Das heißt für das singuläre Subjekt, dass es, indem es zur Sprache kommt, auch zur Gesellschaft kommt, in der es leben und sich [14|15]herausbilden will. Es wird