Eckstein: Novelle
By Norman Liebold and Vera Walterscheid
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About this ebook
Norman Liebold
Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) als Sohn eines Majors geboren, kam kurz vor der Wende ins Rheinland. Er studierte Literatur, Philosophie und Sprachwissenschaften in Bonn und veröffentlicht seine Erzählungen und Romane seit der Schulzeit. In zwei politischen Ideologien aufgewachsen, ist sein Blick geschärft für Systemlügen. Mit geschliffenem Wort, spitzer Zunge und viel Humor demontiert er ihre Masken. Ob Kriminalroman, sozialkritische Novelle oder Fantastik – der Mensch steht bei ihm stets im Mittelpunkt. Der Autor lebt und arbeitet im Siebengebirge mit Lebensgefährtin und Katze, schreibt seine Bücher ganz altmodisch mit Füllfeder und liest sie deutschlandweit mit viel Gefühl vor. Neben dem Schreiben zeichnet er und spielt Flöten, Klarinette und Saxophon.
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Book preview
Eckstein - Norman Liebold
Norman Liebold
Eckstein
Novelle
AMATOR VERITAS
Digitale Version der Erstausgabe 2004.
Amator Veritas Buch Nr. XXXV
Copyright © 2004
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.
ISBN-13 (Print): 978-3-937330-15-0
ISBN-13 (eBook): 978-3-937330-49-5
www.norman-liebold.com
www.amator-veritas.de
„Eckstein, Eckstein - alles muß versteckt sein!
Hinter mir, neben mir, vor mir, da gilt es nicht – Eins, zwei, drei - ich komme!"
Kinderreim, Nachkriegszeit
eins...
J A N kroch auf seinem klappernden Drahtesel den langgestreckten Berg hinter dem Bahnhof hinauf und rang mit sich, einfach abzusteigen, die Lunge gab bereits pfeifende Geräusche von sich. Die Pedalen gaben nur widerwillig nach, und jedesmal in wenig widerwilliger.
Zu Fuß wäre er wahrscheinlich genauso schnell, wenn nicht schneller gewesen, aber sein Stolz verbot ihm abzusteigen. Wenn er abstiege, haßte er sich selbst, das wußte er. Wenn er aber den Berg schaffte, wäre ihm zwar schwindelig und er hätte bunte Sternchen vor den Augen, aber während des langen Rollens auf Steinebrück zu würde er grinsen.
Er hätte die Eckstein sein lassen sollen: Wenn er auch schlecht schlief seit einigen Monaten, am Morgen hatte er nach wie vor das Gefühl, den Tag packen und auf ihm reiten zu wollen. Nach der ersten Zigarette auf nüchternen Magen blieb davon nur noch das definitive Wissen übrig, wie der Tag verlaufen würde, und er rang jeden Morgen härter mit sich, einfach den Bus Linie Sieben oder Vierzehn zu nehmen, anstatt mit dem Rad zu fahren. Es machte nicht wirklich einen Unterschied: Das Ticket bezahlte das Heim. Aber wenn er mit dem Rad fuhr, hatte er wenigstens das Gefühl, noch lebendig zu sein.
Die Straße war, wie jeden Morgen um diese Zeit, menschenleer. Laternen gossen Licht auf den rissigen Asphalt, das in seinem Orange alles fremdartig erscheinen ließ. Jan kannte die Straße nur in dieser alptraumhaften Rostfarbe. Zwar war es war Juli, und wenn er zum Dienst fuhr, war es noch immer dunkel. Und zurück nahm er einen anderen Weg.
Das Ende des Berges kam in Sicht und der Ausblick auf die Himmelsröte über der Straße gab ihm Kraft. Mit zitternden Beinen trat er, den Lenker fest umfassend, stärker in die Pedalen und keuchte. Die Haare klebten kalt an der Stirn, Schweiß rann ihm am Rücken herab. Höchstens noch einhundert Meter, sagte er sich. Das Rad schwankte und hielt sich kaum im Gleichgewicht, so langsam fuhr es.
Eine Metapher auf sein Leben, ging es ihm durch den Kopf. Sein Zahnfleisch schmerzte vor Erschöpfung. Noch vierzehn Tage Dienst, den Urlaub und die Überstunden abgerechnet. Zwölf Monate hatte er hinter sich, aber wie diese letzten hundert Meter des Berges zogen sich die letzten Wochen in die Länge.
Diese Woche war er wenigstens nicht in der Geronto-Gruppe, sondern unten im Sozialen Dienst, das war ein Lichtblick. Er hatte drei Wochen Geronto[1] hinter sich, ganz abgesehen davon, daß die Mutter Oberin entdeckt zu haben meinte, daß er gut mit Extremsituationen umgehen konnte. Er hätte nicht die Zähne zusammenbeißen sollen.
Noch fünfzig Meter, das Zittern in den Beinen war zu einem dumpfen, schmerzhaft-tauben Gefühl geworden, auf das er nicht achtete: Der Schmerz im Zahnfleisch und die schwarzen Ränder, die sich von den Seiten her in sein Sichtfeld zogen, waren unangenehmer. Er könnte absteigen und mit wackeligen Beinen die letzten fünfzig Meter schieben, aber nein, er wollte nicht absteigen. Er wollte auch nicht sagen, daß er Alpträume hatte, kaum noch schlafen konnte und in seiner kleinen Mansarde sitzend plötzlich begann, unkontrolliert zu weinen.
Vierzehn Tage, was sollte es. Zuerst war er Einkaufen gefahren, ab und an ein Arztbesuch. Dann, damit er das auch kennenlernte, eine Woche in der Pflege. Er hätte es wie Christian machen sollen: Bei den Decubiti[2] auf den Boden oder besser noch quer übers Bett kotzen.
Die nächsten acht Wochen war er die Pflegestufen nach oben geklettert, bis zu denen, die sich die ganze Zeit bescheißen - im wörtlichen und im übertragenen Sinne - die eiternde Löcher im Leib hatten oder einfach völlig Lala waren. Dann meinte man, daß er eine Gabe hätte, mit Dementen und Verrückten umzugehen. Also Geronto.
Daß sein Gefühl, der Verstand würde sich langsam verabschieden, immer stärker wurde, sagte er natürlich nicht. Man lieh ihn sogar an das LKH[3] aus, als der Kollege dort krank wurde. Und seit zwei Wochen setzte man ihn mit Vorliebe an die Betten der Sterbenden. Besonders bei den Problemfällen.
Jan erreichte schweißüberströmt jenen Punkt des Berges, wo das Bewußtsein, ihn bezwungen zu haben, den unwiderstehlichen Zwang erzeugt, innezuhalten, sich umzuschauen und tief mit schmerzenden Lungen Luft zu holen.
Jener letzte Meter der Steigung, der, kennt man ihn nicht zu gut, dem Rad den letzten Schwung raubt, daß es stehenbleibt und langsam, unaufhaltsam, zur Seite kippt - es ist nicht mehr genug Kraft in den Beinen, um noch einmal in das Pedal zu treten, und völlig erschöpft schlägt man auf den Asphalt, noch nicht einmal mehr Willens, den Sturz aufzuhalten. Jan kannte den Punkt sehr gut, und er schaute vom Vorderrad hoch, um zu sehen, ob Grün war.
Kaum ein Wagen, Motorrad oder Fahrrad außer seinem eigenen schien sich je die enge, gewundene Straße hinaufzuquälen, und um diese Uhrzeit, halb sechs Uhr am Morgen, war auch die Hauptstraße spärlich befahren. Die Ampel schien so eingestellt, daß sie grundsätzlich Rot war und sich nur bequemte, auf Grün zu schalten, wenn ein Wagen auf dem schmalen Streifen davor stand. Diesem Streifen Asphalt, unter dem der auf Gewicht reagierende Mechanismus verborgen lag, und der für schwere Motorräder und Tonnen wiegende Automobile geeicht war, nicht auf Fliegengewichte wie Zivildienstleistende auf Fahrrädern, am Rande der Erschöpfung.
Die Ampel war rot. Wie immer.
Jan schlug den Lenker nach rechts ein, ruckte mit vor Erschöpfung gefühllosen Armen am Lenker, um das Vorderrad für einen Moment nach oben zu heben und den unverhältnismäßig hohen Bordstein zu nehmen und trat mit zusammen gebissenen Zähnen hart ins Pedal. Er rollte auf den Fußgängerweg und mit einem Gefühl der Verachtung an der Ampel vorbei. Wenn er an diesem letzten halben Meter anhalten müßte, würde er einfach mitsamt dem Rad umkippen und liegenbleiben.
Von der Hauptstraße her bog ein Pärchen um die Ecke.
Es war gänzlich in Schwarz gekleidet, selbst das Haar passend gefärbt. Die junge Frau wirkte wie ein Gespenst mit kalkbleich geschminkter Haut, aufgemalten Augenrändern, starkem Kajal und schwarzen Lippen. Nicht daß Jan keine Grufts kannte, bevor er den Dienst angetreten hatte, war ihm die Gothik-Szene sogar recht nahe gewesen, aber jetzt erschreckten ihn die zwei Gestalten im Dämmerlicht zutiefst, ohne daß er sagen konnte, warum.
Der Mann war an die zwei Meter hoch, jedoch weniger als einen halben breit, in dem engen schwarzen Lackoberteil stachen Schlüsselbein und Achsel und Rippe hervor, als wäre es nassverwesende Haut über bloßen Knochen, und im Gesicht war er weiß geschminkt mit schwarzen Augenhöhlen. Seine Dreadlocks wirkten wie verfilztes Totenhaar, die Kleider rochen wie der Schrank eines vergessenen Hauses.
„Paß doch auf!" rief der hagere junge Mann und stieß Jan in die Schulter, als er um ein Haar, schweißbedeckt, keuchend und jetzt mit einem eklig flauen Gefühl von unmotivierter Furcht in sie hineinfuhr. Das Rad war fast stehengeblieben, und der Stoß ließ es unendlich langsam zur Seite kippen. Verzweifelt, mit tränennaher Wut trat Jan in das Pedal, aber er neigte sich immer mehr und hatte noch nicht einmal mehr die Kraft, die Arme auszustrecken, um seinen Sturz aufzufangen.
Er schlug lang hin, Schmerz zuckte von der Hüfte und vom rechten Unterschenkel bis in die Augen hinauf. Er lag unter dem Rad, über ihm der Himmel mit den letzten verblassenden Sternen und dem ersten bleichrosa Schimmer im Osten. Sein Herz dröhnte in den Ohren, und er hörte sich selber krampfhaft keuchen.
„Ist Dir was passiert? hörte er durch das rhythmische Dröhnen, wie aus weiter Ferne. Er schüttelte den Kopf und keuchte: „Alles okay, glaub ich.
Unglaublich lang reckte sich schwarz der Körper des Mannes vor die letzten Sterne. Der Kopf wirkte unnatürlich klein am Ende des dürren Halses, das Gesicht wie ein trauriger Gott.
„Sorry, Mann, wollt ich nicht, sagte der Riese zerknirscht und wurde wieder Mensch. Er war vielleicht achtzehn, neunzehn und sah schuldbewußt aus. Eine übergroße Hand an überlangem, viel zu dünnen Arm griff das Rad und hob es von Jan herunter, weiche, kleine Hände griffen unter seine Achsel und halfen ihm, aufzustehen. Seine Beine fühlten sich an, als wären die Knochen weich geworden. „Danke
, sagte er. „Tut mir leid, ich bin den ganzen Berg raufgefahren und konnte nicht mehr, hab Euch nicht gesehen."
„Ist schon gut",