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Ansichten eines Aktmodells
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Ansichten eines Aktmodells

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„Ansichten eines Aktmodells“ rankt sich um neun Geschichten, die von Psychothriller („Euthanatus“) über mystische Erlebnisse ind er esotherischen Szene der Eifel - den „Eifelindianern“ - („Die Schwitzhütte“) bis hin zu verspielten Märchen („Der Wassertropfen“), amüsante Kurzgeschichten („Der Egoismus des Herrn Amselfink“) und Phantastik („Dialog mit einer Ulme“) reichen. Erzählperspektiven, Genres, Blickwinkel vermischen sich und verweben Dichtung und Wahrheit zu einem Geflecht, das als Roman die Selbstbefreiung des Menschen, zur Menschwerdung thematisiert. Was nach experimentaler, schwierig zu lesender Kopfgeburt klingt, ist jedoch ein Stück unterhaltsamer, in flüssiger, lebendiger, fesselnder Sprache verfasste Literatur, die das Erzählen feiert, die Macht der Geschichten und das Leben.

Um die Hauptfigur des Romans – das Aktmodell – realistisch beschreiben zu können, stand Norman Liebold zwei Jahre regelmäßig in der Kunstakademie Hennef den Zeichnern nackt Modell und schwitzte bei den Eifelindianern. Tatsächlich (auch wenn nicht mehr kenntlich) spielt ein Teil der Handlung im Aktraum der RSAK. Aber auch andere Orte der Region – das Steigenberger Grandhotel auf dem Petersberg, das Tattoostudio „Tintenrausch“ in Köln-Gremberg, die Region um Mechernich in der Eifel, Maria Laach – sind wiedererkennbar und verorten und verankern die Geschichten im Wirklichen. Liebold spielt in diesem Buch wie in keinem anderen mit dem Vermischen und Verweben realer Begebnisse und Fiktionalität. Im Gegensatz zu den einzelnen Geschichten, die sich in Liebolds Sprach- und Erzählwelten bewegen, kann die eigentliche Handlung des Romans im Ganzen nicht wirklich beschrieben werden -- sie kann nur im Leser oder Zuhörer geschehen. Sie lädt ihn zu einer Verwandlung ein.
LanguageDeutsch
Release dateOct 14, 2014
ISBN9783937330389
Ansichten eines Aktmodells
Author

Norman Liebold

Norman Liebold, 1976 in Eilenburg (Sachsen) als Sohn eines Majors geboren, kam kurz vor der Wende ins Rheinland. Er studierte Literatur, Philosophie und Sprachwissenschaften in Bonn und veröffentlicht seine Erzählungen und Romane seit der Schulzeit. In zwei politischen Ideologien aufgewachsen, ist sein Blick geschärft für Systemlügen. Mit geschliffenem Wort, spitzer Zunge und viel Humor demontiert er ihre Masken. Ob Kriminalroman, sozialkritische Novelle oder Fantastik – der Mensch steht bei ihm stets im Mittelpunkt. Der Autor lebt und arbeitet im Siebengebirge mit Lebensgefährtin und Katze, schreibt seine Bücher ganz altmodisch mit Füllfeder und liest sie deutschlandweit mit viel Gefühl vor. Neben dem Schreiben zeichnet er und spielt Flöten, Klarinette und Saxophon.

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    Ansichten eines Aktmodells - Norman Liebold

    Norman Liebold

    Ansichten eines Aktmodells

    Deutsche Erstausgabe.

    Amator Veritas Buch Nr. XLV (45)

    Copyright © 2014 Amator Veritas Verlag, Hennef.

    Titelphoto: Anke Böser

    Lektorat durch Anke Böser

    Satz, Gestaltung, Artwork Titelbild: Norman Liebold

    Illustrationen von Norman Liebold.

    Illustration „Der Euthanatus", S. 223: Katharina Theine.

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

    ISBN-13: 978-3-937330-37-2 (Print)

    ISBN-13: 978-3-937330-38-9 (eBook)

    www.norman-liebold.com

    www.amator-veritas.de

    Etwas war anders als sonst. Das war mir bereits klar, als ich die letzten Stufen zum Aktraum emporstieg. Die Stahltür, die rechts in den großen Raum unter dem Giebel führte, summte geradezu von den Stimmen dahinter. Mir schien es, als wäre dieses Summen und Vibrieren mit einer aufgeregten Erwartung aufgeladen. Ab und an perlte ein mädchenhaftes Lachen über das Stimmengewirr. Ich war spät dran, der Unterricht hatte längst begonnen, und abgesehen von einigen verstreuten Rauchern im Regen war mir niemand begegnet. Nicht, dass mich das Zuspätkommen bekümmerte – ich studierte nicht an dieser Akademie, und überhaupt waren die Zeiten, in denen ich mich zu bestimmten Stunden in irgendwelchen Hörsälen oder Seminarräumen einzufinden hatte, schon seit ein paar Jahren vorbei. Trotzdem war mir eigenartig zumute, als ich meine Hand auf die Klinke legte und zögerte, sie niederzudrücken. Es schmeckte nach Schicksal.

    Der lange Raum mit dem bis auf Hüfthöhe hinabreichenden Dachschrägen war für gewöhnlich ein Ort des konzentrierten Arbeitens, und ich kannte ihn kaum anders als mit einer Handvoll Studenten, um das Podest in der Mitte gruppiert, das Modell darauf in einer Pose erstarrt. Das Geräusch von Bleistiftmienen und Tuschefedern auf Papier, zu dieser Jahreszeit das Surren des Heizgebläses und die Schritte des Dozenten, der von Student zu Student ging und ab und an Anweisungen in gebrochenem Deutsch gab. Er war Russe, hatte die klassische Ausbildung an der Petersburger Akademie der Künste noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs absolviert und war der Grund, warum ich hier war. Er hatte mir angeboten, in seinen Unterricht zu kommen, damit ich am Modell Zeichnen üben konnte – ein Freundschaftsdienst, den ich leider viel zu selten in Anspruch nehmen konnte.

    Heute war der lange Raum mit Studenten angefüllt. Sie standen in mehreren Reihen um das Podest im Zentrum, saßen auf den Tischen, die unter die Schrägen geschoben worden waren. Ich hatte den Aktraum noch nie so voll gesehen, das Gemurmel der Stimmen, das Lachen und Kichern hatte schon fast etwas von einem Theaterpublikum, das auf das Heben des Vorhangs wartet. Ich drückte mich durch die Reihen, grüßte hier und da und gelangte schließlich zum Dozententisch. Pjotr saß, klein und nervös, auf seinem Stuhl und trug etwas in eine seiner vielen Listen ein. Er hatte einen ganzen Ordner voll mit Listen, und zuweilen kam es mir vor, als ob er ein seltsames Vergnügen dabei hatte, seine Kreuzchen und Zahlen und Häkchen darin einzutragen – jetzt aber schien er seine Aufregung damit besänftigen zu wollen.

    „Morgen, Pjotr, grüßte ich. Er schaute hoch und reichte mir die Hand. „Was ist denn hier los?

    Er zuckte mit den Schultern und ließ den Blick über seine Studenten schweifen. Ich bemerkte, dass es fast ausnahmslos jene waren, die er gerne als „seine" Studenten bezeichnete. Aus jedem Semester die, die sich mit Hingabe und Ausdauer dem Zeichnen widmeten und oft sogar während ihrer Freistunden hinauf in den Aktraum kamen, um zu üben.

    „Ich nicht genau weiß, erklärte Pjotr. „Aktmodell, junge Mann, kommt letzte Mal. Sein Blick ging erneut über die gut vierzig Schüler, die sich versammelt hatten. „Hat eingeladen, alle."

    Eine Studentin, die gleich vor uns stand, drehte sich um und erklärte: „Er will so etwas wie eine Vorstellung geben." Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen Flyer hervor, professionell gedruckt. Darauf war unverkennbar ein nackter Mann abgebildet, in Denkerpose auf einem Podest. Ich kannte den Mann und hatte ihn schon mehrfach gezeichnet – er war eines der Modelle, die am häufigsten Akt saßen. In klaren, serifenlosen Lettern war unter dem Bild zu lesen:

    BEKENNTNISSE EINES AKTMODELLS.

    21. MÄRZ. 10 UHR. AKTRAUM.

    Ich drehte den Flyer um, aber auf der Rückseite waren keine näheren Infos zu finden, nur die Zeichnung eines Salamanders. Das Aktmodell war Zentrum etlicher Gerüchte und Spekulationen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Modellen sprach dieses nie, bis auf eine freundlich-höfliche Begrüßung und eine ebensolche Verabschiedung. Niemand wusste etwas Genaueres und nichts heizt die Gerüchteküche mehr an, als ein Mangel an Wissen. Wie es jungen Leuten zueigen ist, hatte man verschiedentlich versucht, es aus der Reserve zu locken und zu provozieren. Aber all diese Versuche waren stets mit derselben ruhigen Höflichkeit an ihm abgeperlt, um nur um so mehr die Spekulationen zu befeuern.

    Ich schaute auf die Uhr. Zehn nach zehn. Das Podest in der Mitte des Raums, aus weiß gestrichenen Holzwürfeln zusammengesetzt, war leer. Ich konnte das Modell nirgends sehen. Die Studenten wurden unruhiger. Wäre das ein Bühnenauftritt, ging es mir durch den Kopf, dann konnte keinen besseren Zeitpunkt geben, wollte man die Spannung auf die Spitze treiben. Just in diesem Augenblick bewegte sich die Klinke und die Tür öffnete sich. Es wurde schlagartig still.

    In der Tür stand das Aktmodell und lächelte. „Guten Morgen." Nichts an ihm ließ auf Nervosität schließen oder auch nur auf Verwunderung angesichts des mit Leuten vollgestopften Raums. Aber natürlich hatte es auch Flyer drucken lassen und dürfte ebenso sehr vorbereitet sein wie der Schauspieler, wenn sich der Vorhang hebt. Die Studenten grüßten mit neugierigen Mienen. Langsam, fast schon aufreizend gelassen, bewegte sich das Aktmodell von der Tür weg auf die Mitte des Raumes zu. Beinahe wirkte der Mann wie ein hoher Würdenträger oder ein Magier, der schweigend durch die respektvoll oder auch nur irritiert zurückweichende Menge schritt. Sein Gesicht war von einer ganz eigenen Ruhe erfüllt, die ihn unangreifbar erscheinen ließ. Hätte ich ihn nicht als Modell gekannt, würde ich ihn am ehesten für einen Dozenten gehalten haben – er war etwa in meinem Alter, gut zehn Jahre über dem Durchschnitt der Studenten, und zeichnete sich durch Unaufdringlichkeit in der Kleidung aus – und durch die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der er sich bewegte.

    Er blieb vor dem Podest stehen und drehte sich mit einer bühnenhaft geschmeidigen Bewegung auf dem Absatz um. „Vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid, sagte er, und seine Stimme war nicht die leise, höfliche Stimme, die ich kannte. Es war eine Bühnenstimme, und sie füllte den Raum ohne jede Schwierigkeit. „Heute ist mein letzter Tag, man könnte auch sagen: Heute ist mein erster Tag. In jedem Fall aber möchte ich mich von euch verabschieden und für die Zeit bedanken, die ich hier bei euch sein durfte. Er lächelte in die Runde, ein dankbares, liebevolles Lächeln – aber dahinter blitzte ein Satyr auf, ein verschmitzter Schalck, der vor gefährlichen Spielen und Scherzen keinen Halt machen würde.

    „Warum hörst du dann auf?, fragte eine Studentin mit frecher Stupsnase und einem wilden Lockenkopf. „Hast du einen besseren Job gefunden? Zwischen den Worten schwang etwas provozierendes als auch eine gewisse Anzüglichkeit mit. Plötzlich mußte ich mich fragen, was einen schätzungsweise zwei- oder dreiunddreißig Jahre jungen Mann dazu brachte, sich nackt vor anderen auszuziehen? War das nicht ein überaus eigenartiger Job, hatte das mit ehrlicher Arbeit zu tun, war das nicht peinlich? Stellt es nicht sogar eine Form der Prostitution dar, war nicht Taxifahren eine ehrlichere Sache, als einfach seine Nacktheit gegen Geld zur Schau zu tragen? Was musste man dafür schon können als einfach still zu halten und einen Mangel an Schamgefühl zu besitzen? Oder eine überentwickelte Selbstverliebtheit? Hatte er überhaupt einen Beruf gelernt, studiert? Oder noch nicht einmal einen ordentlichen Schulabschluss? Mir fiel sogar auf, dass sein Körper nicht besonders durchtrainiert war – definiert, wie Pjotr sagen würde – er war nicht schlecht gebaut, aber wenn er schon sein Geld als Zeichenobjekt verdiente, sollte er nicht zumindest seine Muskeln etwas besser ausbilden? Der Mann da konnte der letzte Versager sein oder Uniabsolvent mit x Abschlüssen und einer exhibitionistischen Perversion.

    „Ihr macht euch ein falsches Bild von mir, unterbrach das Modell meine wuchernden Gedanken. Es war auf das Podest gestiegen, die Stimme war ruhig mit amüsiertem Unterton. „Nicht nur, weil ihr ja erst einmal richtig zeichnen lernen wollt – ihr habt einfach ein falsches Bild von der Welt. Aber ich bin nicht hier, um euch über die Welt zu belehren. Ich bin nur ein Modell. Aber als Modell vielleicht modellhaft. Deswegen will ich, dass ihr meine Wahrheit kennt, meine nackte Wahrheit sozusagen, die Wahrheit, die sich mir unverhüllt offenbarte.

    „Du willst uns jetzt einen Vortrag halten, warum du dich für Geld ausgezogen hast?, kam von hinten. Der Sprecher wirkte recht gelangweilt. „Vom höheren Sinn des Exhibitionismus, oder so?

    Hinter dem Studenten stand ein Mann, der mir eigenartig auffiel. Ich hatte ihn bisher noch nicht an der Akademie gesehen, und auch niemand anders schien ihn zu kennen – er stand etwas abseits, niemand kümmerte sich weiter um ihn. Das Auffällige an ihm war seine Unauffälligkeit. Als ich ihn fixierte, hob er den Kopf um keine zwei Millimeter. Unter den Brauen stachen graugrüne Augen sengend hervor, beängstigend wach, die Auge eines getarnten Jägers, eines Raubtiers, lauernd und gefährlich. Und kaum hatte er den Blick wieder gesenkt, schrumpfte das Gesicht zu einer langweiligen Allerweltsvisage, von der man nicht einmal genau sagen konnte, ob sie Student, Dozent oder ein verirrter Fremder sein mochte. Hätte ich nicht nach dem störenden Studenten geschaut, er wäre mir nicht aufgefallen. Und einen Moment später war er fast wieder vergessen.

    „Nein, ich halte keinen Vortrag, antwortete das Aktmodell. „Ich erzähle euch Geschichten. Und die Geschichten erzählen euch meine Geschichte. Er setzte sich und begann, seine Schnürsenkel zu öffnen. Er stellte die Schuhe akurat vor das Podest. Es folgten die Strümpfe, das Hemd. Beim Unterhemd veränderte sich die Stimmung im Raum.

    Es wurde still.

    Dass Aktmodelle sich stets in separaten Räumen ausziehen, hinter Wandschirmen und mühsam improvisierten Vorhängen, hat meiner Meinung nach seine Gründe. Der Mensch, der hinter dem Wandschirm hervortritt, einen Bademantel lose um die Schultern, ein Handtuch um die Hüfte oder einen legeren, togaähnlichen Kittel, wie Klimt ihn gerne trug – er ist nicht derselbe Mensch, der mit einem „Guten Morgen" in Straßenkleidung durch die Tür gekommen war. Er ist jetzt das Modell, der Nackte, das Zeichenobjekt.

    Dieses Aktmodell durchbrach ganz bewusst das ungeschriebene Gesetz: Fast genüsslich entledigte es sich seiner Kleidung, und ich glaube, er war sich sehr der Wirkung bewusst. Tatsächlich war sie geradezu spürbar: Dieselben Studenten, die mehrere Stunden wöchentlich nackte Menschen zeichneten, ja, auch diesen Mann hier schon oft genug gezeichnet hatten, in Positionen, die nicht das Geringste verbargen – sie schauten jetzt betreten irgendwo im Raum herum oder glotzten mit einer gewissen Sensationsgier auf das Podest. Ich hörte nervöses Räuspern, Husten, geflüsterte Kommentare, die keinen anderen Zweck hatten, als den Moment der Scham zu überbrücken.

    Als letztes zog er – und er ließ sich Zeit damit – seine Shorts aus und legte sie wie die anderen Dinge auf das Säuberlichste gefaltet auf den Wäschestapel am Fuße des Podestes. „Jetzt, sagte er in die Stille hinein, „bin ich nackt.

    „Wäre mir nicht aufgefallen", frotzelte der rote Lockenkopf, und wie immer sie es auch schaffte, in meinem Kopf begannen erneut Zwischenzeilen zu sprechen. In dem lakonischen Kommentar war plötzlich ein Anprangern zu hören, zumindest für mich. Ich fragte mich, warum dieser Mensch, der es doch besser wissen müsste, ganz gezielt die Schamgrenze der Anwesenden überging und sie offensichtlich mit voller Absicht in Verlegenheit brachte. Für was er sich eigentlich hielt, sich so zu inszenieren, und was ihm glauben machte, dass wir ihm zuhören sollten bei dem seltsamen Vortrag, den er meinte, uns halten zu müssen. Und wiederum war es seine Stimme, die in der ruhigen, gelassenen, ein wenig amüsierten Art gleichsam den Ballon zum Platzen brachte, der sich an Gedanken in meinem Kopf aufzublähen begann.

    „Ich bin viel nackter, als man denken sollte, sagte er. „Vielleicht sogar nackter, als ihr es euch vorstellen könnt. Er beugte sich vom Podest herunter und griff sich einen der Schemel, die direkt davor standen. Er stellte ihn zu sich aufs Podest und machte es sich sichtlich bequem darauf. „Ich bin nicht so nackt, wie ihr es seid, wenn ihr unter der Dusche steht oder beim Umkleiden für einen Moment zwischen Jeans und Schlafanzug nichts anhabt. Ich bin nicht so nackt, wie ihr es seid, wenn ihr beim Geliebten liegt oder an einem verspielten Wochenende unbekleidet durch eure Wohnung springt. Ich bin nicht einmal so nackt, wie es vielleicht der eine oder andere von euch ist, wenn er ab und an Freikörperkultur pflegt – wobei auch das ja erheblich aus der Mode gekommen ist in unserer so frei sich gebenden aber unglaublich schamhaften Gesellschaft. Nein, ich bin nackt unter lauter Angezogenen. Und nicht nur das: Ich bin auch das Zentrum aller Aufmerksamkeit."

    „Wenn dich das stört, hättest du dir einen anderen Job aussuchen sollen!", quakte der Lockenkopf. Er fing an zu nerven, denn tatsächlich begann mich in den Bann zu ziehen, was das Aktmodell erzählte. Von dieser Warte betrachtet hatte ich es noch nie betrachtet. Ich kam und zeichnete, was auf dem Podest stand, oft unterhielt ich mich mit den Modellen, aber, um ehrlich zu sein: Ich hatte mir noch nie um den Grad der Nacktheit unter den Augen von Angezogenen Gedanken gemacht. Würde ich mich ausziehen? Mehr noch: Würde ich jetzt nach vorn gehen können, um mich ganz einfach bis auf die Haut zu entkleiden?

    „Ich habe mir diesen Job ausgesucht, erklärte das Aktmodell. „Ich wollte das und nichts anderes. Ich habe mich an mehreren Stellen beworben.

    „Exhibitionist, und dann auch noch dafür bezahlt werden, wie?" Entweder war sie tatsächlich ziemlich berechenbar, oder aber – ein amüsanter Gedanke – das Ganze geschah auf Absprache, und sie spielte den Advocatus Diaboli, um die richtigen Stichworte zu geben.

    „Vielleicht habe ich eine exhibitionistische Ader, allerdings hatte ich vor so ziemlich nichts mehr Angst, als mich vor anderen nackig zu machen. Er lächelte ein kurzes Lächeln, das weniger Lächeln war als vielmehr die Erinnerung an einen Schmerz. „Dabei meine ich gar nicht so sehr die körperliche Nacktheit. An die gewöhnt man sich recht schnell. Nein, ich meine die Abstinenz der Masken. Er wandte sich in unsere Richtung, hob die Stimme und rief: „Pjotr, hast du eine etwas längere Pose für den Anfang? Meine erste Geschichte ist eine von den umfänglichsten."

    Pjotr, von seinem Dozententisch aus, rief zurück: „Sitzen, auf Hocker, ist okay. Er erhob sich und drängelte sich durch den Pulk von Studenten nach vorn. „Kannst du drehen ein wenig? Spannend ... ja?

    „Ich brauche eine gute halbe Stunde, etwa, vielleicht mehr. Eine schwere Pose kann ich nicht so lang halten." Das Aktmodell veränderte seine Haltung auf dem Stuhl, bis der Rücken eine deutliche Drehungen aufwies.

    „Das nicht spannend, bemängelte Pjotr. „Drehen noch etwas mehr! Das Aktmodell verdrehte sich noch ein Stück, dann legte er leicht den Kopf zurück – Pjotrs Lieblingshaltung, wie ich wusste, und tatsächlich klatschte dieser in die Hände und rief: „Ja! Perfekt! Phantastisch! Der kleine Mann lief zu Betriebsamkeit auf, wuselte zwischen den Studenten hindurch und rief sein: „Was ist? Modell ist da! Zeichnen, Leute, zeichnen!

    „Aber wir haben noch gar keinen Unterricht!", maulte der Lockenkopf.

    „Du hier. Modell da. Also: Zeichnen!"

    Tatsächlich, und das mag wohl durchaus daran gelegen haben, dass in der Hauptsache Pjotrs Lieblingsschüler anwesend waren, hockten sich die Studenten auf die Stühle. Einige versuchten, sich die kleinen Klappgestelle heranzuziehen, die als Zeichenauflagen dienten. Aber es war viel zu voll dafür, die meisten hatten noch nicht einmal einen Sitzplatz. Und ich war froh darum, denn ich hasse diese Gestelle, die bei allen sich bietenden Gelegenheiten zusammenklappen und mit lautem Knallen auf den Boden krachen. Scharren und Rücken, Zeichenblöcke hervorkramen und Stifte sortieren. Nur langsam kam Ruhe in den Raum.

    Das Aktmodell saß währenddessen in der verdreht sitzenden Stellung erstarrt und wartete. Als es still geworden war, erhob es die Stimme: „Wie gesagt, ich hatte gute Gründe, mir genau diesen Job auszusuchen. Aber Gründe zu haben, lassen einen noch lange nicht etwas Grundlegendes unternehmen und die Situation völlig umwerfen, in die man sich eingewöhnt hat.

    Dazu braucht es einen Auslöser. Einen Augenöffner. Das Bewusstsein, dass ein Ausharren sehr viel mehr Schmerzen bedeutet, als ein Aufraffen und Ändern. Er machte eine rhetorische Pause, und tatsächlich: Ich bemerkte, dass die Studenten nicht nur zeichneten, sondern auch zunehmend gespannt zuhörten. „Zum Beispiel die Bedrohung des eigenen Lebens. Ich möchte als erstes von dem Erlebnis erzählen, das mich zwar noch nicht auf die Erkenntnis stoßen ließ, dass Aktsitzen mich retten könnte – mir aber die Augen öffnete. Oder, treffender gesagt, das mir die Lider von den Augen riss, so dass ich meinen Blick nicht mehr verschließen konnte.

    Etwas an dem Aktmodell veränderte sich. Ich sollte dies während dieser Stunden hier oben im Aktraum noch mehrfach erleben. Als Literaturwissenschaftler würde ich vielleicht den Vergleich wagen zwischen einem Vorwort zu einem Roman und dem Moment, in dem man die nächste Seite umschlägt und auf die ersten Zeilen der eigentlichen Geschichte blickt. Das Modell wurde, und das trotz seiner verdrehten Haltung und seiner Nacktheit, plötzlich zum Geschichtenerzähler. Und ich,

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