Teilzeitrevue: Roman
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Binder schreibt keinen klassischen Erzähltext. In Epiphanien und Dialogfetzen, in heftigen Zitaten und lustigen wie gesellschaftskritischen Reflektionen entsteht eine eigene Welt, in der egal ist, wer spricht, ob nun sie oder er oder eine Passantin oder eine Band. Zugleich bildet Markus Binder das Chaos ab, durch das wir moderne Menschen uns bewegen – mal verstört, mal begeistert.
ORF/FM4 begeisterte sich bei Markus Binders Buch "Testsiegerstraße" für die "sprunghaft wechselnden Momentaufnahmen, die vor allem von Binders spezifischer Sprachstilistik leben." Auch in diesem neuen Werk ist wieder die Sprache selbst der eigentliche Protagonist.
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Book preview
Teilzeitrevue - Markus Binder
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
FLUG
HALB AUS
KLUBS
DRINNEN
DRAUSSEN
Impressum und Copyright
Markus Binder
TEILZEITREVUE
Посвящается Юрию
FLUG
Das Flugzeug, das langsam zur Startbahn rollte, sah aus wie ein riesiges Insekt aus Blech. Sie bauen Insekten nach, in 8000-facher Größe, stecken Düsen drauf, setzen sich hinein, fliegen irgendwohin, beobachten die Welt aus der Vogelperspektive, steigen wieder aus, lassen sich zum Strand bringen, trinken Cocktails, schreien das Personal an, fühlen sich im Recht, fühlen sich schlecht. Insekten in Originalgröße krabbeln über ihre Kehlköpfe, jucken, ätzen und laufen um ihr Leben, bevor sie erschlagen werden.
– Willst du tauschen?
– Wieso tauschen? Was tauschen?
– Dich. Mich. Die Stadt. Kontinent.
– Aber wir tauschen doch sowieso ständig.
– Was?
– Emotionen, Städte, Gedanken, Kontinente.
– Angeregt von?
– Der Verbindung. Es liegt an der Verbindung.
– Meinst du technisch oder menschlich?
– In diesem Fall handelt es sich um dasselbe.
– Wenn es so einfach wäre.
– Sage ja: Könnte.
Er sah aus dem Plastikfenster des Fliegers. 500 Jahre sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wenn die Leute heutzutage im Durchschnitt 100 Jahre alt werden, ist das gerade mal die Zeitspanne von fünf Menschenleben. Innerhalb weniger Stunden durchquerten sie einen Raum, der über tausende von Jahren allmählich besiedelt worden war.
In einer der letzten Nächte hatten sie sich verirrt in der großen Stadt, die zur Zeit ihrer Gründung im Jahr 1325 aus vielen kleinen Inseln inmitten eines flachen Sees bestanden hatte. Das wenige vorhandene Land hatte nicht ausgereicht, um die Stadt zu ernähren, also wurden große Flöße gebaut und mit Erde beladen. Auf diesen im See gelegenen Nutzflächen (Chinampas) wurde Gemüse gezüchtet. Die Spanier legten, nachdem sie die Stadt völlig zerstört hatten, den See trocken. Der Fahrer war verwirrt, er merkte, dass sie im Kreis gefahren waren und nun schon zum zweiten Mal an einem Schild vorbeikamen, das die Abfahrt nach Chapultepec (Heuschreckenberg) anzeigte. Der auf einigen hundert Metern erhaltene Aquädukt hatte die Stadt mit dem Wasser des Chapultepec-Waldes versorgt. Zerstörung am 28. Mai 1521. Sie hatte den Namen schon gehört, sie blätterte weiter in einem der Magazine über die Geschichte des Landes, schmunzelte und dachte: Alles was irgendwo aufgeschrieben worden ist, hat mit Lüge zu tun, Schreiben ist Lügen, genauso wie jede Musik, die irgendwann aufgenommen worden ist, eine Lüge ist, ein Produkt, elektrisch, Plastik, Lüge, real.
So wie hier fragten sich anderswo zur selben Zeit genauso wie zu anderen Zeitpunkten einzelne genauso wie mehrere und vielleicht manchmal alle: Haben wir nicht etwas vergessen? Etwas sehr Wichtiges vergessen?
Der Mann, der im Norden des einen oder im Süden des anderen Landes das Flugzeug sah, das wie eine fliegende, käferförmige Spraydose einen geraden weißen Strich in den blauen Himmel sprühte. Er dachte: Ich kann euch sehen. Aber ihr könnt mich nicht sehen. Und er erinnerte sich daran, dass er als Kind manchmal den Gedanken hatte, wie toll es wäre, in den Blick irgendwelcher Leute hineinzuschlüpfen, die er irgendwo sah. Das sehen können, was die sehen, die ich sehe.
Der Rückflug ließ zwischendurch ein Gefühl aufsteigen von: Jetzt kommt es wieder näher das Altbekannte, das Erlebte, die unendlich oft gegangenen Wege. Sie fühlten sich wie Autos, die in die Garage gefahren wurden. Öd.
Sie fragte ihn, ob er schon von der Geschichte gehört hätte, dass damals den Einheimischen die Europäer wie Außerirdische erschienen seien, weil sie, die noch nie zuvor ein Pferd gesehen hatten, Tier und Reiter für ein einziges, riesiges Wesen hielten. Außerdem waren die Spanier im Besitz von Feuerwaffen, hatten die Unterstützung der Stämme, die mit den Azteken im Krieg lagen und profitierten von der zögerlichen Haltung Moctezumas II, der in Killer Cortés den weißhäuptigen Gott Quetzalcoatl zu erkennen glaubte, der zurückgekehrt war, um eine alte Prophezeiung zu erfüllen. Als die Spanier am 8. November 1519 in die Stadt kamen, waren sie überwältigt. Die 300.000 Einwohner zählende Metropole auf dem See mit ihren prächtigen Bauten konnte es locker mit jeder damaligen europäischen Großstadt aufnehmen.
16. Jahrhundert 17. Jahrhundert
36 Stunden 18. Jahrhundert
500 Minuten 19. Jahrhundert
200 Sekunden 20. Jahrhundert
Er sah hinunter und verlor die Lust zur Beschreibung des Gesehenen mithilfe von Worten. Diese Worte immer, dachte er, diese ständigen Beschreibungen, die Sprache hatte eine totale Dominanz über alles. Verdammtes Sprachregime.
Der Angestellte des physikalischen Instituts irgendeiner großen Stadt, Sitz 87E: Ein Foto aus der Zukunft, nur ein einziges Foto aus der Zukunft, sagen wir ein Foto, das in 200 Jahren aufgenommen worden ist, und wir könnten das alles hier viel besser verstehen.
– Angenommen, du könntest eine Zeitreise machen. Was würde dich mehr interessieren? Zukunft oder Vergangenheit?
– Vergangenheit.
– Wie weit zurück?
– Ich möchte wissen, wie die damals geredet haben, bevor es Schrift und einzelne Sprachen gab, wie die vielleicht 100 Ausdrücke hatten, mit denen sie auskamen, Generationen lang, und alle 100 Jahre kamen wieder ein paar Ausdrücke dazu, Laute, keine Ahnung, wie das geklungen hat damals, deshalb möchte ich ja dahin, in diese Zeit, in der sich das Aufrichten der Körper und das Aufrichten der Sprache abgespielt haben. Die würden staunen, wenn ich da plötzlich auftauchen würde. Übrigens konnte ich diese Frage nie lösen: Wie tauchen die Leute, die eine Zeitreise machen, in dieser anderen Zeit auf, wie passiert das? Stell dir vor, die sitzen da vor vierhunderttausend Jahren am Strand von Tansania und braten einen Fisch und plötzlich tauche ich da aus dem Wasser auf oder komme aus dem Hinterland und setze mich zu ihnen, um ihre Sprache zu lernen. Ob das gut ginge?
– Warum nicht? Es kann allerdings passieren, dass sich die Zellstruktur deines Körpers an die Bedingungen in der anderen Zeit anpasst und du deshalb nicht mehr zurückkehren kannst in die jetzige.
– Bleiben ist aber auch keine futuristische Option.
Unsere Seeleute haben sich gefühlt, als wären sie auf einem anderen Planeten gelandet, damals vor 3500 Jahren, als sie mit ihren Schiffen nach Kreta gekommen und vor den Palästen von Knossos und Phaistos gestanden sind. So weit voraus waren die, sagte einige Sitzreihen hinter ihnen ein 50-jähriger Engländer zu seiner 25-jährigen Tochter, die ihm daraufhin von ihrer Freundin Ruby erzählte, der kürzlich ein Chip implantiert worden war, der die Leistung ihres Gehirns derart verbessert hatte, dass sie wieder in der Lage war, mit den Maschinen, die sie zu steuern hatte, auf demselben Level zu kooperieren.
– Was wolltest du sagen?
– Reden ist schwierig. Schweigen nervt.
– Niemand hat gesagt, dass es einfach wird.
– Steht schon im Naturkundebuch.
– 2. Klasse.
– Economy Class.
– Aber alle wollen in die Business.
– Die stürzen aber genauso tief ab.
– Stimmt nicht. Beim letzten Mal haben die sogar noch Gewinn gemacht.
– Und zwar mehr als je zuvor.
– Prozentuell aber nicht so viel wie die Conquistadoren.
– Gehen aber ähnlich vor. Die großen Piraten. Die Ausgebeuteten wissen nichts von den anderen Ausgebeuteten und wissen auch nicht, was die Ausbeuter mit dem Erbeuteten eigentlich machen.
– Und jetzt?
– Sind alle tot, die nichts bringen.
– Tot oder zumindest unauffällig.
– Das Essen kommt.
Innerhalb weniger Jahrzehnte (1520 bis 1560) war die einheimische Bevölkerung Südamerikas durch Krieg, Ausrottung, Krankheit, Überausbeutung und Verlust der sozialen und wirtschaftlichen Existenzgrundlagen auf ein Zehntel reduziert worden. Schätzungsweise 70 Millionen Menschen fanden als Folge ihrer so genannten Entdeckung den Tod. Sie waren später als 70 Millionen Goldstatuen aufgestellt worden, jede Frau, jeder Mann, jedes Kind originalgetreu nachgebildet, in der Steppe von Laguna Seca, gelegen zwischen Monterrey und Durango. Eine unübersehbar große Menge an goldenen Figuren.
Knapp unter ihrem Flugzeug flog ein kleineres Flugzeug durch, kreuzte ihren Weg. Als er es sah, blinkten zwei Worte in seinem Kopf auf: Privatjet. Privatangst.
Sie blätterte in ihrem Notizbuch, überflog ihre Aufzeichnungen, sah einen See vor sich und schrieb: Menschen liegen am Ufer auf Decken wie Verletzte, der Stress, die Verantwortung, die Entspannung, was wäre das Ufer bloß ohne seinen See, Schreiben und Sichern, beim Reden unmöglich, beim Reden fahren sie vorbei wie Züge die Worte, oft hätten viele gern mal die Undo-Taste gedrückt, das Ausgesprochene rückgängig gemacht, das Gesagte lieber nicht gesagt, das Geschriebene hingegen bleibt liegen, du kannst zurück blättern, du kannst nachsehen, beim Gesprochenen werden wir uns später um den Wortlaut streiten. Du hast absolut gesagt, werde ich sagen und du: Nie. Nie habe ich jemals absolut gesagt, absolut liegt mir nämlich überhaupt nicht. Und doch hast du es gesagt, werde ich sagen, auch wenn dir das jetzt nicht gelegen kommt und das ist jetzt kein blödes Gerede, ich sage das nicht nur so, ich sage es, weil es wahr ist, wahr mit h, weil nicht alles, was war, wahr war. Und wir wollten doch bloß aus dem Fenster schauen, um an den Zeichen am Boden abzulesen, wo wir uns befinden. Kürzel ohne Ende, jeder Buchstabe steht für ein Land, ein Wort, eine Geschichte. Die Bilder unterscheiden sich von einander in acht Punkten, in acht Punkten unterscheidet sich die Geschichte von dem, was sich tatsächlich abgespielt hat. Und wir rasen weiter mit großer Geschwindigkeit durch Parallelereignisse: Passagiere fliegen parallel gleich schnell, Lampen brennen parallel gleich grell, Ängste blühen auf engstem Raum gleich hell.
Er las in einem dieser amerikanischen Endzeit-Romane: Half of the population dead. Taking pills, drugs, receiving messages, killing and eating friends to survive. Hiding, missing, talking about better times. (Obwohl die Zeiten damals auch Scheiße waren, sprachen sie jetzt so darüber, als ob damals alles nur toll gewesen wäre.) It’s not easy to get happy. I dont want you, but I need you. In the shops everything is for free now, just take what you want, it’s alright, no one needs money, no one is in here. My children are safe. Another planet for the future. Bigger space. 3000 ft. of garbage. Dead people driving cars that are alive. Frontal crash of already dead people. No one cries. Only trees growing. Having so much time. Sounds of motorbikes. Flags. No music. Flames. Posttraumatic habits. Visions. Under-equipped world. Sleeping people dreaming. Dreams projected on empty buildings. Everybody’s got a kind of loneliness, handling it differently than anybody else. Shirts too short, eyes looking too far.
Bei der Zwischenlandung mussten sie eine Stunde lang in der Maschine sitzen bleiben. Ein Putztrupp kam, um das Flugzeug vor dem Weiterflug zu reinigen. Unter den Reinigungskräften ein Mann, auf dem Rücken seines T-Shirts der Spruch: Clean the Plane. Was für eine Arbeitskleidung, dachte sie. Erst als der Mann sich weiterbewegte, sah sie, dass in einer Falte, die sein Shirt geworfen hatte, ein t verborgen war und der nun vollständig sichtbar gewordene Spruch lautete: Clean the Planet.
Sie las im Bordmagazin der Airline: Erstens: Die Venus ist der einzige Planet in unserem Sonnensystem, der sich nicht gegen den Uhrzeigersinn dreht. Eine einzige Umdrehung dauert 248 Erdentage. An der Oberfläche herrscht eine Temperatur von 500 Grad. Zweitens: Auf dem Saturnmond Titan gibt es Wolken, Regen und Flüsse. Die Flüssigkeit, die über seine Oberfläche strömt, ist aber kein Wasser (das wäre bei Temperaturen von Minus 170 Grad hart wie Stein), sondern Methan. Künftige Besucher auf dem Titan könnten mit riesigen Wellen konfrontiert werden. Wegen der geringen Schwerkraft sollen die Brecher siebenfach höher sein als alles, was von der Erde bekannt ist.
Die Begegnung der Menschheit mit der Bewohnerschaft eines anderen Planeten ist aufgrund der enormen räumlichen Distanzen im hiesigen Universum sehr unwahrscheinlich. Es wurde berechnet, dass die Reise vom nächsten potentiell bewohnbaren Planeten zur Erde mindestens eine Million Jahre dauern würde und so lange hält es ja niemand in einem Raumschiff aus. Ich persönlich würde schon nach zwei Tagen aussteigen wollen. Ein Treffen mit Bewohnern anderer Planeten wäre aber insofern aufschlussreich, als sich das Einzelkind Menschheit endlich mal mit anderen vergleichen könnte. Und nicht weiterhin immer nur im eigenen Saft schmoren müsste. Das führt bekanntlich zu Depressionen.
Er las im Gossip-Magazin: Zwei Filmschauspieler sind bei Dreharbeiten in der angolanischen Hauptstadt Luanda von Polizisten erschossen worden. Sie hatten eine Szene von einem Raubüberfall drehen wollen und wurden irrtümlicherweise für echte Kriminelle gehalten. Wie die portugiesische Presse am Mittwoch berichtete, hatten die Filmemacher die Polizei vor den Dreharbeiten eigens um Unterstützung gebeten. Sie hatten gefürchtet, in dem als gefährlich geltenden Viertel überfallen zu werden. Die Polizisten wurden festgenommen. Eine Untersuchung soll klären, warum sie über die Dreharbeiten nicht informiert waren.
Kurz vor der Landung warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah eine mit Fahrzeugen vollgestopfte Autobahn. Alle waren auf dem Weg zur Arbeit. Wie immer um halb Acht am Morgen. Ihre innere Uhr stand allerdings auf halb Eins in der Nacht. Sieben Stunden Zeitverschiebung. Dadurch, dass alle mitmachten, wirkte der Anblick noch viel trostloser.
Nachdem Einbildung im Leben eine große Rolle spielte und das Gefühl des Nichtinvolviertseins seit jeher eine der beliebtesten aller Einbildungen war, gaben sie sich immer wieder gern der kleinen Illusion hin, in einem Flugzeug zu sitzen, das nie landen würde. Das Landen war immer eine kleine Enttäuschung. Es ging wieder raus in den nächsten Alltag, in die