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Der Blick aus meinem Fenster: Essays
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Ebook299 pages4 hours

Der Blick aus meinem Fenster: Essays

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About this ebook

Bletschacher, ehemaliger Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper, ist als Regisseur, Maler und Autor zahlreicher Operntexte, Schauspiele, Erzählungen sowie musikwissenschaftlicher Studien tätig. Ebenso vielfältig spannt er den Bogen der kulturellen Themen in seinem neuen Essay-Band: von seinem Geburtsort Füssen am Lech über das barocke Wien mit seinem ersten Theaterbau in der Wiener Hofburg, bis zu zeitgenössischen Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Theaters und der Bildenden Kunst. Ein beträchtlicher Teil des Buches ist grundsätzlichen Überlegungen zu unserer gesellschaftlichen Entwicklung gewidmet.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 20, 2017
ISBN9783990122457
Der Blick aus meinem Fenster: Essays

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    Der Blick aus meinem Fenster - Richard Bletschacher

    DER BLICK AUS MEINEM FENSTER

    Richard Bletschacher

    DER BLICK

    AUS MEINEM FENSTER

    Essays

    Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer

    unter Verwendung einer Zeichnung von Richard Bletschacher

    Lektorat: Johann Lehner, Teresa Profanter

    Satz: Johann Lehner, Gabriel Fischer

    Hergestellt in der EU

    Richard Bletschacher:

    Der Blick aus meinem Fenster

    Essays

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien 2016

    www.hollitzer.at

    eBook ISBN 978-3-99012-245-7

    INHALT

    Vorwort

    Der Blick aus meinem Fenster

    Die Lauten- und Geigenmacher des Füssener Landes und ihre Werkstätten in Italien

    Vom Vergessen und Wiederfinden des Mittelalters

    Ludwig van Beethovens einzige Oper Fidelio

    Vogelfangen im Salzkammergut

    Erste Unterweisungen in der sozialen Frage

    Vom Haben und Entbehren und vom Geben und Nehmen

    Giorgione da Castelfranco

    Zur Baugeschichte der Wiener Hoftheater

    Über die Kränze des Nachruhms.

    In Erinnerung an Maria Reining

    Jean-Paul Sartres Theorien zu einem kritischen Theater

    Was heißt Fortschritt, wovon führt er fort, wo führt er hin?

    Die Wege der irischen Mönche im südlichen Germanien

    VORWORT

    DER BLICK AUS MEINEM FENSTER

    Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung schaue, kann ich den Blick über die Dächer der alten Häuser der Wiener Innenstadt und um die Türme dreier Kirchen herum spazieren führen. Manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an ihnen verändert, nicht alles zu meinem Wohlgefallen. Aber ich weiß doch, dass sich in der Ferne hinter ihren Silhouetten die bewaldete Kuppel des Kahlenbergs duckt und dass die Donau, wenn auch nicht sichtbar, so doch nahe vorbeirauscht. Ihre Wasser nähren sich von den Flüssen der Alpen, an deren Ufern ich auch einmal zu Hause war. Die Geräusche des Regens und das Pferdegetrappel, Motorengeräusch und Stimmengewirr der Straßen dringen nur gedämpft bis zu mir an die Leselampe oder den Schreibtisch. Da sitze ich allein, aber nicht aus der Welt. In der hab’ ich mich viele Jahrzehnte lang umgetrieben, mit den Füßen und auch mit dem Kopf. Wen wundert es, wenn das, was ich schreibe, sich aus tausend Erfahrungen und Erinnerungen nährt. Manches davon findet sich nun in den Versuchen, die ich in diesem dritten Band meiner Essays aus den Händen gebe.

    Essays nennt man Versuche, intellektuelle Fragestellungen in literarischer, das heißt künstlerischer Form zu beantworten. Die gewählten Themen in der nachfolgenden Sammlung sind auch diesmal wieder sehr unterschiedlicher Art. Sie wurden ebenso aus „fernen Zeiten wie aus der „Fülle des Lebens unserer Gegenwart gegriffen. Es mag sein, dass die Vielfalt der behandelten Themen den Leser mehr verwirrt als dass sie durch Abwechslung und Neubesinnung sein immer erneuertes Interesse weckt. Doch es entspricht meinem eigenwilligen Charakter, dass ich immer wieder voneinander unterschiedene Themen und diese dann auch in unterschiedlicher Weise und wechselnder Jagdlust verfolge. Eine Durchmischung von ernsten und halbernsten Texten ist also durchaus in meinem Sinn. Es ist da manches von Literatur, von Baukunst und Musik zu lesen, manches auch vom sozialen Leben. Und wenn man ein wenig zurücktritt, um dies alles zu überblicken, so kann man vielleicht doch erkennen, dass sich fast alles davon in der gesellschaftlichen und kulturellen Form des Theaters zusammenführen lässt. Die Bemühung darum hat eben auch den großen Teil meines Lebens erfüllt. Man könnte darum auch eine chronologische Anordnung der Gegenstände dieser Betrachtungen, sei es nach der Thematik, sei es nach der Entstehung der Texte, für angemessen halten. Das könnte den trügerischen Eindruck erwecken, ich sei der Wahrheit auf der Spur.

    Vielleicht wird man in all dem zum Wort Gebrachten die Absicht des Autors erkennen, den vieltausendfachen und immer wieder wundersamen Erscheinungen des allgemeinen Lebens und des Wirkens kundiger Hände, wie es sich ihm bietet, einmal mit wechselnden Mitteln gerecht zu werden. Es ist schon so: Die aus solchen Absichten entstandenen Essays wollen ihm selbst – und mit ihm auch dem Leser, der ihm nach drei Dutzend Büchern immer noch wohlgesinnt ist – über Dinge, die eben in unseren Lebenstagen weiterhin oder neuerdings beachtenswert scheinen, größere Klarheit verschaffen. Das aber gelingt ihnen trotz Sammlung und Wägung von Fakten und trotz unterschiedlichster Blickwinkel der Betrachtung nicht immer so, wie er hoffte, als er begann. Und kann wohl auch, da es sich eben nur um Versuche handelt, am Ende nicht anders sein.

    DIE LAUTEN- UND GEIGENMACHER DES FÜSSENER LANDES UND IHRE WERKSTÄTTEN IN ITALIEN

    Dass Füssen, die Stadt am Fuße der Alpen und an der Grenze der bayerischen, schwäbischen und Tiroler Siedlungsgebiete, die europäische „Heimat der Lauten" sei, das hätte in meiner Jugendzeit, d. h. vor mehr als einem halben Jahrhundert die meisten ihrer Bewohner und mich selbst auch mitten unter ihnen sehr verwundert. Man hatte in der Stadt lange nichts mehr gehört von dergleichen altertümlichen Instrumenten. An einem der älteren Häuser war immerhin noch ein Fresko des Füssener Malers Kurt Geibel-Hellmeck zu sehen, das Männer bei der Arbeit an musikalischen Geräten zeigte; an einem Haus in der Ritterstraße und einem zweiten in der Hinteren Gasse waren Tafeln angebracht, die auf Handwerker verwiesen, die dort gelebt haben sollen. Die Gedenktafeln waren damals schon so wie heute in einem bedauerlichen Zustand. Man konnte sie kaum mehr recht lesen.

    In der Schule hörte man nichts von all diesen Dingen. Lauten, Theorben, Chitarronen, Cistern, Lyren, Trumscheite, Poschetten, Barytone, Violen d’amore oder Gamben kannte man kaum vom eigenen Sehen oder Hören, am ehesten noch von den Bildern des Füssener Totentanzes im Kloster des heiligen Magnus oder von Sendungen alter Musik aus dem Rundfunk. Was die Instrumente der Geigenfamilie betraf, so war dies eine andere Sache. Aber all das war aus einer fremden Welt. Mag sein, dass manch einer im Schulorchester die Violine oder das Cello spielte. Ohne Geigen konnte man sich eine musikalische Messe in der Kirche oder bei einem Kurkonzert gar nicht vorstellen. Aber Geigen, so dachte man, wurden doch vor allem in der bayerischen Schwesterstadt, in Mittenwald an der Isar, gebaut, wenn nicht überhaupt in Brescia, Mailand oder Cremona. Was hatte denn Füssen, die Stadt der barocken Kirchen, der Schlösser, Burgen, Burgruinen, des Eislaufsports und der Sommerfrische mit Geigen oder Gitarren zu tun?

    Man hat sich belehren lassen. Es erschienen unmittelbar nacheinander in den Jahren 1978 und 1979 zwei umfängliche Bücher, das eine davon von einem geborenen Füssener, der meinen bescheidenen Namen trug, das andere von Adolf Layer, einem Privatgelehrten aus Dillingen, verfasst, in deren erstem die Geschichte des Lautenmacherhandwerks im Füssener Land und in deren zweitem die im gesamten Allgäu aufgedeckt wurden. Und da erwies sich, dass die erste und älteste aller Städte, die dieses kunstvolle Handwerk beherbergten, keine andere war als Füssen, Füssen am Lech, Füssen am Fuße der Alpen oder – wie es heute heißt – Füssen im Königswinkel. Und dass von Füssen aus, wie von einer schier unerschöpflichen Quelle, die neu gefertigten Instrumente über die umliegenden und dann über die immer ferneren Länder verteilt worden waren. Und dass endlich die Meister des Handwerks selbst über die Berge gegangen waren oder sich auf Flößen hatten tragen lassen in die großen Städte der musikliebenden Länder, nach Deutschland, nach Österreich, Böhmen und Ungarn, weiter nach Frankreich, nach England, nach Schweden und Russland und vor allem über die Alpen hinweg – nach Italien.

    So ziemlich genau 200 Namen von Instrumentenbauern konnte ich mit mancher Hilfe allein in den italienischen Musikzentren ausfindig machen, Namen, die ihren Ursprung in der Stadt Füssen oder den umliegenden Dörfern und Gemeinden hatten. Wenn sich Ungenauigkeiten bei deren Zählung ergaben, so einerseits, weil manche Namen an verschiedenen Orten auftauchten und ihre Träger oder deren Nachkommen offenbar unterwegs waren, um einmal hier, einmal dort ihr Glück zu versuchen und eine Werkstatt zu gründen. Andererseits aber kamen einige Meister nach Süden, die dort ihre nicht immer leicht vermittelbaren Namen der italienischen Zunge anglichen und dann nur mehr schwer oder gar nicht auszuforschen waren. So haben sich etwa ein Magnus Lang aus Schwangau als Mango Longo im 16. Jahrhundert in Padua und einer seiner gleichnamigen Nachkommen im 18. Jahrhundert in Neapel niedergelassen. Ein Albert nannte sich Alberti, ein Buchenberg nannte sich Boccaber und ein Vierter gar nur Leopoldo Tedesco, die Letzteren alle in Rom. Insgesamt konnten in Füssen und seiner näheren Umgebung, will sagen im früheren Landkreis der Stadt Füssen und in den Nachbarorten des Tiroler Außerfern, an die 700 Namen von Lauten- oder Geigenmachern ausgeforscht werden, von denen viele in den großen Städten Europas den Lauten- oder Geigenbau entweder begründet oder aber wesentlich befördert haben. So etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, stammten die Hoflauten- und Geigenmacher in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, die für die besondere Qualität ihrer Geigen berühmt ist, über zweihundert Jahre lang allesamt aus der kleinen Stadt Füssen oder so war fast das gesamte Handwerk des Baus von Saiteninstrumenten in Rom, der Stadt der Päpste, während der Barockzeit in der Hand von Füssener Meistern. Man zählte dort an die siebzig Namen, deren Herkunft in den Lechgau zurückverfolgt werden konnte. Von ihnen lebten und arbeiteten die meisten in der Via Leutari, der Lautenmacherstraße, und wurden nach ihrem Tod auf dem Campo Santo dei Tedeschi im Vatikan begraben. Das Handwerk des Instrumentenbaus blühte in Füssen selbst wohl an die 500 Jahre, spätestens aber seit Beginn des 15. Jahrhunderts, in dem es erstmals urkundlich nachzuweisen ist, bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dann ging es zugrunde. Und wurde letztlich fast gänzlich vergessen.

    Es sollen nun hier in gebotener Kürze die Gründe für das Entstehen, die rasche Blüte und den allmählichen Niedergang dieses edelsten aller Kunsthandwerke dargelegt werden. Warum nur und auf welchen Wegen gelangte die Saat dorthin, auf einen Boden, in dem sie so wohl gedeihen konnte? Dies ist die Frage, die sich den meisten erhebt, die staunend auf den Gebieten der Musikwissenschaft und der Sozialgeschichte forschen. Um sie zu beantworten, muss ich ein paar Jahrhunderte zurücktreten und Umschau halten nach der Geschichte der Instrumente.

    Dem Namen des ältesten der Füssener Saiteninstrumente, dem Namen der Laute entnehmen wir ihre orientalische Herkunft. Al’aud ist das arabische Wort für Holz. Und lautenähnliche Instrumente wurden seit unvordenklicher Zeit im Osten des Mittelmeers gefertigt und gespielt. Viele Abbildungen und Dichterverse belehren uns darüber. Sie waren auch im ferneren Osten nicht unbekannt. Diese Lauten kamen mit arabischen Eroberern oder Siedlern und durch Vermittlung der Kreuzfahrer einerseits über Spanien, andererseits über Italien nach Europa. Man weiß, dass der des Arabischen kundige Kaiser Friedrich II. (1194–1250) an seinem Hof in Palermo arabische Tänzerinnen in Diensten hatte. Ihre Tänze wurden von Lautenspielern begleitet. In einer Epoche, da Sizilien den staufischen Kaisern untertan war, kamen die Lauten von dort über die Alpen nach Norden. Man hätte meinen können, dass sie zuerst im italienischen Alpenvorland heimisch geworden wären. Aber dort zog der Kaiser nur vorüber, auf dem Boden seines Erblands machte er Rast. Auch wenn noch immer manche Stimme laut wird, die behauptet, die Stadt Füssen habe ihre Rechte erst um 1280 durch Rudolf von Habsburg erhalten, und dies aus keinem anderen Grund gesagt wird, als weil im Jahre 1288 einer ihrer Bewohner erstmals als „civis", d. h. als Bürger, bezeichnet wurde, so scheint es, da alle Dokumente aus älteren Zeiten verloren sind, doch keinen vernünftigen Zweifel daran zu geben, dass sie ihre Farben Schwarz-Gold, die denen der staufischen Kaiser gleichen, und ihr Wappen, den kreisenden Dreifuß, das dem Wappen Siziliens entspricht, von Friedrich II. erhalten haben, der erstmals im Jahre 1208 und letztmals im Jahre 1237 deutschen Boden betreten hat. Wenn man dessen Hin- und Rückwege aus Italien über die Alpen betrachtet, so könnte er sehr wohl bei einer seiner beiden Reisen der traditionellen Heerstraße über den Brenner folgend und dann über den Fernpass oder aber über die Obere Straße über den Reschenpass und dann am Lech entlang auf der alten Via Claudia der Römer gezogen sein. Zwei seiner Routen sind bekannt, die erste über Konstanz, die zweite über Wien. Die beiden anderen sind nicht nachgewiesen und kommen für diese Vermutung in Frage. Gesichert ist jedenfalls, dass das Füssener Land altes staufisches Herrschaftsgebiet war und dass Friedrich von Ulm aus dem Füssener Kloster des heiligen Magnus alte Besitzrechte verbrieft und neue gewährt hat. Man wird also nicht weit von der Wahrheit liegen mit der Annahme, dass durch den staufischen Kaiser und die stets prunkvolle Begleitung seiner Heerzüge auch die arabischen Musikinstrumente nach Füssen gelangten. An einen Ort, der schon von den Römern besiedelt worden und seit alter Zeit durch seine Lage an der Lechpforte zu einem bedeutsamen Umschlagplatz italischer und deutscher Handelsgüter geworden war. In Füssen wurden die aus dem Süden kommenden Waren von den Maultieren, die die Alpen überquerten, auf Flöße umgeladen für ihren Weitertransport auf dem ab hier erstmals schiffbaren Lech.

    Was den zweiten Weg der kulturellen Vermittlung zwischen Orient und Okzident anlangt, den man vielleicht in Betracht ziehen könnte, so brachte, wie wir wissen, die maurische Besiedelung die arabischen Saiteninstrumente auch auf die iberische Halbinsel. In Portugal ist der Name der Laute noch in seiner ursprünglich arabischen Form in Gebrauch. In Spanien lebt und blüht die Tradition vornehmlich durch das beliebte Gitarrenspiel. Eine Verbindung über Katalonien, die Provence und Frankreich zu den deutschen Landen ist jedoch nicht erkennbar geworden und wenig wahrscheinlich, auch wenn manche der Minnesänger durchaus Berührungen und einen regen Austausch von Sagenstoffen mit den Trouvères des nördlichen Frankreich hatten. Jedenfalls blieb die Kenntnis des Baus dieser Saiteninstrumente auf Spanien beschränkt und ist von dort nicht nach Füssen am Fuße der Alpen gelangt.

    Die schriftlichen Nachrichten über die Geschichte der Stadt Füssen sind in den frühen Jahren sehr selten. Es ist nicht allein die Urkunde der Stadterhebung verloren gegangen. Diese muss man ungefähr auf die Zeit um 1235 ansetzen, als auch Innsbruck, das ebenfalls auf seinem traditionellen Weg über die Alpen lag, von Kaiser Friedrich II. die Stadtrechte verliehen bekam. Vieles aus den Füssener städtischen Archiven wurde bei den mehrfachen kriegsbedingten Plünderungen der Stadt verschleppt oder vernichtet. Die Benediktinermönche des Klosters hingegen retteten ihre Dokumente unter anderem nach Stams in Tirol, als die Gefahren sich nahten. Und so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn in den lückenhaft bewahrten Urkunden der Stadt auch über ihre Handwerker nur wenig überliefert ist. Die ersten schriftlichen Nachweise von der Existenz eines Lautenmachers entnehmen wir, noch ohne Nennung eines Namens, dem Urbar des Füssener Klosters für die Jahre 1436 bis 1439. Der erste namentlich bekannt gewordene Lautenmacher wurde darin für die Jahre 1461, 1463 und 1481 dokumentiert. Berchtold hat er geheißen. Er wird nicht der einzige in der Stadt gewesen sein, wohl aber der einzige, der dem Kloster verpflichtet war. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass eben das Kloster einen Zusammenhang mit Musik erweist, auch wenn die Laute wohl kaum in der Kirche, sondern eher bei der Tafel gespielt worden ist. Die mächtigen oder auch nur reichen Herren jedoch, die auf dem Weg über die Alpen in Füssen Station machten, nahmen meist in den Mauern des Klosters ihren Aufenthalt und brachten wohl den einen oder anderen Musiker zu ihrer Unterhaltung mit in ihrem Gefolge.

    Es lohnt sich, hier noch einmal innezuhalten und einer zweiten Frage nachzugehen, die angesichts der erstaunlichen Entwicklung dieses Handwerks gerade in dieser Stadt oftmals gestellt wird. Warum Füssen, warum nicht Konstanz, Chur, St. Gallen, Bregenz, Kufstein, Salzburg, Linz, Wien oder eine andere der Städte am Nordrand der Alpen, über die die Wege aus Italien in die Länder des Reiches führten? Warum nistete sich zuerst in Füssen und später dann in Mittenwald das Handwerk ein und blühte so viele Jahre und Jahrhunderte lang fort?

    Drei Gründe sind dafür anzugeben. Den ersten haben wir schon genannt: Es ist die alte, viel begangene Alpenstraße, die Via Claudia der Römer, die die Länder des Südens mit denen des Nordens, vor allen anderen aber die wichtigen Handelsstädte Verona und Augsburg verband, und zusammen mit ihr ist es der Lechfluss, auf dem die Waren, die Künste und die Ideen aus dem so fruchtbaren Süden nach Norden verbracht wurden. So etwa kamen aus Venedig, dem Hafen zum Orient, viele der Ingredienzien, die das Handwerk benötigte, wie Farben, Harze, Öle und Lacke, Ebenholz, Sandel und Elfenbein auf kurzem Wege über Innsbruck und Füssen ins Deutsche Reich.

    Der zweite Grund bestand im Holzreichtum der Füssener Gegend, in welcher besonders die Eiben, die man für die Späne der Laute bevorzugte, einstmals sehr zahlreich waren. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden deren Bestände durch den Raubbau im Auftrag von englischen Heeresausrüstern bedroht, die das sehnige Holz für ihre Langbogen nutzten. Heute sind die Eiben im Ammerwald fast ganz ausgetilgt. Im 17. Jahrhundert gelangten die Klanghölzer für den Geigenbau zu immer größerer Bedeutung. Dies waren meist Fichte und Ahorn, seltener Tanne oder Buchsbaum und in einigen Fällen auch Obstbaumhölzer. Die besten Fichten wuchsen in windgeschützten Lagen am Nordhang der Alpen und bildeten bei den geringeren Temperaturschwankungen dichte und regelmäßige Maserungen aus. So kam es, dass selbst manche Geigenbauer vom Südrand der Alpen ihr Holz aus der nördlichen Nachbarschaft bezogen.

    Der dritte Grund für die Vorrangstellung der Stadt Füssen auf dem Gebiet des Baus von Saiteninstrumenten liegt in der besonderen Vorliebe eines einzigen Mannes, eines leidenschaftlichen Jägers, für diese wald- und wildreiche Gegend. Es war einer der mächtigsten Männer seiner Epoche, der Füssen zu dem machte, was es danach lange Zeit bleiben sollte: zur Heimat der Lauten. Dieser Mann hieß Maximilian und trug den Beinamen „der letzte Ritter". Maximilian I. von Habsburg (1459–1519), seit 1486 deutscher König, seit 1493 Erzherzog von Österreich und seit 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, hat Füssen offenbar mehr als alle anderen Städte geliebt, denn er hat, wie man in den vergangenen Jahrzehnten forschend ermittelt hat, wohl 38-mal in ihren Mauern residiert, zum ersten Mal im Jahre 1484. Seinen Wohnsitz bezog er einmal im Haus seines Freundes und Geldgebers, des Ritters Gossenbrod, der reiche Besitzungen in Augsburg wie in Südtirol und ebenso auch in Füssen hatte, wo sein Haus an der Lechhalde neben dem St.-Mang-Kloster stand. Ein anderes Mal nächtigte der hohe Gast im Kloster, in dem der geborene Füssener Benedikt Furtenbach, ein kunstsinniger Mann, über Jahrzehnte hin Abt war, und endlich residierte der Kaiser auf dem Hohen Schloss, einem der schönsten im ganzen Reich, das der Augsburger Bischof Friedrich von Hohenzollern, nicht zuletzt um dem Habsburger dienstbar zu sein, bis zum Jahre 1499 erweitern und erneuern ließ. Damit jedoch nicht genug: Maximilian ließ sich am nahen Schwaltenweiher auf dem Gebiet des heutigen Weilers Goldegg ein Jagdschloss erbauen, von dem heute nur mehr die Fundamente zu sehen sind. Die Bauern aus der Umgebung haben sich die Steine des bald schon in den folgenden Kriegen zerstörten und verfallenden Gebäudes für die Errichtung ihrer eigenen Mauern geholt. Das Jagen war einer der vornehmsten Gründe, weswegen Maximilian als Erzherzog und bald danach auch als Kaiser immer wieder an die Lechpforte kam. Er musste dafür sein Pferd nicht weitab vom Wege lenken, denn die Stadt liegt auf halber Strecke zwischen Augsburg und Innsbruck, den beiden Reichsstädten, die er oft mit seiner Gegenwart beehrte, um in der einen seinen Geldbeutel zu füllen und ihn in der anderen zu leeren.

    Dass dieser habsburgische Kaiser nun aber großen Wert darauf legte, als ein zweiter David nicht allein durch das Schwert, sondern auch durch das Saitenspiel zu Ruhm zu gelangen, das ist in seiner Biographie, dem Weißkunic, in seinem eigenen Auftrag vermerkt worden. Der allen Künsten geneigte Maximilian führte auf seinen Reisen nicht selten den von ihm begründeten Chor der Sängerknaben mit im Gefolge, manches Mal auch die berühmten Musiker seines Hofes wie Paul Hofhaimer, Heinrich Isaak und Ignaz Senfl. Von Hofhaimer und den Sängerknaben ist ein Aufenthalt in Füssen dokumentiert, wo er an der Orgel der Klosterkirche gespielt haben soll. Oftmals wurde bei solchen Besuchen in Füssen musiziert und gesungen, wie die Bücher des Klosters berichten. Dass dabei ausgerechnet die Leiter der Kapelle, Isaak und Senfl, nicht gegenwärtig gewesen sein sollten, ist kaum vorzustellen. Und so ist es nicht zu verwundern, dass in eben den Jahren von Maximilians Regentschaft der Lautenbau in Füssen die größten Fortschritte machte. Denn es wird in der Begleitung des Kaisers an wohlmögenden und wohlhabenden Herren und Damen, der Fugger etwa oder der Welser, nicht gefehlt haben, die der Liebe des Kaisers zur Musik nacheiferten und auf solche Weise das Ansehen und das Einkommen der Füssener Lautenbauer mehrten, deren Instrumente sie in ihren Musikkammern häuften und schließlich in alle Teile des Reiches trugen. Und nicht nur dorthin, sondern auch nach Italien. Noch zu Maximilians Lebzeiten sind ihren Instrumenten folgend dann auch die ersten Füssener Meister selbst bis nach Venedig gelangt.

    Rasch mehren sich nun in immer kürzeren Abständen die Namen der frühen Lautenmacher in Füssen. Sie alle sind vermerkt in meiner umfänglichen und durch viele Bilder ergänzten Publikation zu diesem Thema, und es würde den Rahmen dieses Essays weit überschreiten, mehr als nur die allerwichtigsten hier zu nennen. Ob Caspar Tieffenbrucker der bedeutendste unter ihnen war, ist heute nicht mehr zu entscheiden, jedenfalls aber ist er bis in unsere Tage der berühmteste geblieben. Dies verdankt er neben einigen kostbaren Lauten und Gamben auch einem Kupferstich, der ihn umgeben von einer großen Zahl von Instrumenten zeigt, unter denen sich einige mit deutlich erkennbaren Merkmalen der Violine befinden. Den Stich hat der Meister, der in jenen Jahren in Lyon seine Werkstatt hatte, von einem Künstler namens Woeriot im Jahre 1562 anfertigen lassen, um so für seine Instrumente zu werben.

    Man hat später irrtümlich geglaubt, in Caspar Tieffenbrucker den „Erfinder der Geige" erkennen zu müssen. Unsere Väter noch wurden in dieser Annahme unterrichtet. Heute weiß man, dass Tieffenbrucker, der in Frankreich auch Gaspard Duiffobrocard genannt wurde, 1514 in dem kleinen Weiler Tieffenbruck bei Füssen geboren wurde, mit großer Gewissheit in Füssen sein Handwerk erlernt hat, im Jahre 1544 nach Heirat mit einer Bürgerstochter (möglicherweise der Tochter eines Lautenmachermeisters, wie dies damals der Brauch war) die Füssener Bürgerrechte zuerkannt bekam und sich, nachdem er im Jahr darauf auch noch als Händler mit flämischen Tüchern tätig geworden war, recht bald danach auf Wanderschaft nach Italien begab. Mag sein, dass ihn die Verwüstungen der Kriegsparteien des Schmalkaldischen Krieges, die auch Füssen nicht verschonten, gemeinsam mit vielen anderen Handwerkern im Jahre 1546 aus dem Land getrieben haben. Sein erster Aufenthalt wird, da er sich in manchen seiner Instrumente als Bologneser bekannt hat, in Bologna vermutet. 1553 wird er in Lyon aktenkundig. Gestorben ist er dort im Dezember 1571 nach einem erfolgreichen Berufsleben und einer privaten Tragödie in großer Armut. Sein Haus war abgerissen worden, um einem Festungsbau

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