Liebe vergessen: Demenz regiert das Leben
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Die neue Freundschaft und Liebe lässt Gerlinde aufblühen. Doch darf diese Liebe sein? Oder ist es Verrat an ihrem Ehemann?
Eine Erzählung über das Entdecken der eigenen Bedürfnisse.
Sabine Krischer
Pfarrerin, verheiratet, zwei Kinder, schrieb den Roman während einer Beurlaubung aus familiären Gründen
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Book preview
Liebe vergessen - Sabine Krischer
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1. HEINRICH, DER MEISTERKOCH
Seit seine Mutter im Krankenhaus war, musste Heinrich alleine für den Haushalt sorgen. Für das Mittagessen musste er kochen, wenn überhaupt was Warmes auf dem Tisch stehen sollte. Heinrich schaute sich in der Küche um und fand einen durchsichtigen Topf mit Henkel. Er stellte den Topf auf den Herd und schaltete an. Er brauchte noch einen Kochlöffel. Der lag sicher in der Schublade. Als er die Schublade öffnete, fiel ihm die Schere ins Auge. Die Büsche mussten geschnitten werden. Als Gärtner wusste er, wie wichtig der Frühjahrsschnitt war. Sogleich nahm Heinrich die Schere und ging hinaus in den Garten.
Gerlinde genoss die ersten Sonnenstrahlen im Frühling. Mit ihren sechsundsiebzig Jahren war sie noch sehr rüstig, ganz anders als ihr zweiundachzigjähriger Ehemann Heinrich, der sich mühsam bewegte, schlecht sah und hauptsächlich von den Ideen seiner Demenz gesteuert wurde.
Was würde sie darum geben, einmal seine Gedanken lesen zu können. Schon seit einiger Zeit verstand sie ihn nicht mehr.
Nach dem Essen klagte er über Hunger, nachts räumte er dringend die Wohnung um und erklärte ihr inständig wie wichtig das sei. Gerlinde fühlte sich in solchen Situationen hilflos. Manchmal versuchte sie es mit Vernunft. Dann ärgerte sie sich im Nachhinein darüber, weil sie ja wusste, dass man mit Vernunft nichts gegen Demenz ausrichten kann. Meistens war es ihr egal und sie richtete sich darauf ein, dass sie in den nächsten Tagen wieder umräumen und suchen musste.
Der Sinn des Lebens oder die Frage, was im Leben sinnvoll ist oder was sie interessiert, war ihr inzwischen egal. Sie war dauerhaft müde und erschöpft von dem ständigen Kampf gegen die Demenz von Heinrich.
Es war erstaunlich, dass Gerlinde trotzdem in Momenten wie diesen an kleinen Dingen Freude fand. Jetzt waren es die Frühlingssonnenstrahlen.
Während sie die Kartoffeln für das Mittagessen schälte, steuerte Heinrich mit der Haushaltsschere auf die Büsche zu. Gleich würde er wieder den Garten verunstalten. Aber es machte ihr schon lange nichts mehr aus. Früher war der Garten eine Pracht. Nachbarn und Besucher bewunderten das grüne Kleinod. Mehr als zwanzig verschiedene Rosensorten, die Heinrich gezüchtet hatte, blühten hier. Aber jetzt konnte jeder Blinde sehen, dass der Gärtner Demenz hatte und nicht mehr wusste, wo er schon die Büsche zurückgeschnitten hatte.
Doch was war das? Ein seltsamer Geruch strömte an Gerlindes Nase. Sie drehte den Kopf und sah aus der Küche eine Rauchschwade hinausziehen.
Was ist das? Was riecht so komisch?
Entsetzt sprang Gerlinde auf und rannte in die Küche. Wie fremdgesteuert schaltete sie den Herd ab und versuchte den teilgeschmolzenen Messbecher zu entfernen. Sie schloss die Tür zum Flur und zum Esszimmer. Die Terrassentür war zum Glück offen.
Langsam beruhigte sich Gerlinde und als der Herd endlich ausgekühlt war, sah sie sich die Misere an. Was für eine Sauerei. Das geschmolzene Plastik hatte sich in die Herdplatte eingebrannt. Für heute war das Kochen erledigt. Den Herd konnte sie nicht mehr benutzen.
Die Verunstaltung des Gartens war eine Sache, damit konnte Gerlinde leben. Aber das war zuviel. Seit drei Jahren brachte er Unordnung ins Haus. Und heute zerstörte er das erste Mal ein teures Haushaltsgerät. Von der Rauchvergiftung ganz zu schweigen. Was wäre, wenn es jetzt nicht so warm wäre und sie sich nicht draußen aufgehalten hätten? Nicht auszumalen, wie das hätte enden können.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr.
Gerlinde schluchzte so laut, dass alle Nachbarn es gehört hätten. Aber die waren ja alle berufstätig und vormittags nicht zu Hause. Keiner war da, dem Gerlinde ihr Leid klagen konnte.
Gerlinde rannte raus, griff zum Telefon, das neben der Kartoffelschüssel auf dem Terrassentisch stand und rief unter Tränen ihre Tochter an. Mit zittrigen Knien suchte sie den Stuhl und hatte Mühe, sich hinzusetzen ohne den Stuhl umzuwerfen.
Endlich hob Kathrin ab. In Gerlindes Stimme schwang Aufregung. Sie sprach hastig.
Hallo Kathrin. Kannst du vorbeikommen? Er hat gerade die Küche in Brand gesetzt.
Wer?
Na wer schon, dein Vater. Es stinkt. Es klebt.
Halt, Mama. Du sprichst so schnell. Was ist passiert? Papa hat die Küche in Brand gesetzt? Musstest du die Feuerwehr rufen?
Was? Nein, die Feuerwehr musste ich nicht rufen.
Na, dann war doch alles halb so schlimm.
Was heißt hier halb so schlimm? Komm und schau dir das an. Wahrscheinlich muss ich den Herd wegschmeißen. Ach, es ist so schlimm. Und was macht dein Vater? Er schneidet seelenruhig die Hecken und hat keine Ahnung von dem, was er angerichtet hat.
Warte, Mama, bevor du weitersprichst. Ich muss noch bis fünf arbeiten. Ich komme dann heute abend vorbei und wir schauen, was wir tun können. In Ordnung.
Ja. Danke. Bis später.
Gerlinde legte auf und hielt noch lange das Telefon in der Hand, während sie auf Heinrich starrte, der unbeirrt mit seiner Haushaltsschere die Büsche misshandelte.
Endlich klingelte es. Nur beiläufig hatte Gerlinde heute nachmittag gegessen und Heinrich versorgt. Eigentlich hatte sie die ganze Zeit gewartet. Als Gerlinde die Tür öffnete, fiel sie Kathrin um den Hals und hielt sie lange fest.
Hallo Mama.
Grüß dich, Kathrin. Ich bin so froh, dass du da bist. Dein Vater... . Ich weiß nicht mehr weiter.
Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Komm, lass uns doch erst mal hinsetzen.
Kathrin schob ihre Mutter in die Küche und drückte sie sanft auf einen Stuhl. Sie schaute ihr ins Gesicht. Es sah aus, als ob sich die Zahl der Falten verdoppelt hätte. War der Tag so schlimm? Waren mit dem Plastikbecher auch die Kräfte der Mutter geschmolzen? Brauchte sie außer einem neuen Herd noch eine neue Energiequelle für sich?
Zur gleichen Zeit war der Krafträuber aus dem Wohnzimmer zu hören, wie er Gegenstände umräumte. Kathrin stellte sich vor, wie ihre Mutter am nächsten Tag wieder auf die Suche gehen würde und alles, was ihr Vater umgeräumt hätte, zurückräumte.
Aber dann lenkte Gerlinde doch wieder Kathrins Aufmerksamkeit auf den Unglücksort.
Da, schau. Mit diesem Messbecher hat er gekocht. Kann ich alles wegschmeißen.
Kathrin griff nach Gerlindes Hand. Mama, das können wir doch ersetzen. Das ist nicht so schlimm.
Das vielleicht schon. Aber der Herd ist teuer.
Mama, das kannst du dir leisten. Dafür hast du genug Geld.
Ja, aber er macht sowas ja immer wieder. Schau dir doch mal unseren Garten an. Ach, was sag ich. Ein Blick in den von ihm geführten Haushalt genügt schon. Alles räumt er um. Ich kann nichts mehr finden in diesem Haus. Nicht eine Sekunde Ruhe. Schau.
Gemeinsam schauten die Frauen durch die offene Tür ins Wohnzimmer, wo Heinrich Sofakissen ins Bücherregal stellte.
Du solltest dir Hilfe holen.
Kathrin schaute ihre Mutter eindringlich an.
Ich habe heute nachmittag beim Seniorenzentrum angerufen und zwei interessante Angebote erfahren. Erstens gibt es eine Tagespflege für Demenzkranke. Da kann Papa von Montag bis Freitag hingehen. Einen Teil übernimmt die Pflegekasse. So ist es für euch nicht zu teuer. Da hast du dann mehr Zeit für dich. Und dann bieten sie auch eine Selbsthilfegruppe für Angehörige an. Das wär doch was für dich. Da findest du Gleichgesinnte.
Damit ich mir anhören muss, dass die anderen noch viel schlimmere Heinrichs haben als ich. Nein, danke.
Du kannst es dir ja nochmal überlegen. Die Adresse lass ich dir auf jeden Fall da. Aber sag, was hältst du von der Tagespflege? Du wirst sehen, er hat mehrere Stunden am Tag Zeit, dort die Sachen umzuräumen ...
... und nicht bei mir. Ja, das machen wir. Wieviel? Fünf Tage die Woche? Ja, das will ich. Du hast mich überredet. Wenn ich dich nicht hätte. Und das Geld reicht?
Gerlinde griff nach Kathrins Hand und hielt sie mit ihrem müden Blick lange fest.
Ja, das schaffen wir.
2. WAS KANN SCHON EINE TAGESPFLEGE?
Gerlinde hatte schon immer ein Unbehagen, wenn sie das Wort Seniorenzentrum
hörte. Es klang in ihren Ohren immer wie Tattergreis, senil, häßliche Falten, tausend Wehwehchen. Sie fühlte sich mit ihren sechsundsiebzig Jahren eigentlich noch ganz jung. Sie überholte beim Wandern die fünfzigjährigen, besuchte gerne Museen und Vernissagen, wo Menschen, die mitten im Leben standen, auch hingingen. Sie fuhr gerne mit ihren Enkelkindern in den Freizeitpark oder in den Zoo. Dort konnte sie das pulsierende Leben spüren, ganz anders als in diesem Seniorenzentrum, wo schon in der Eingangshalle lauter Sitzmöglichkeiten waren für Greise mit Rollator oder Krückstock.
Aber die Wahrheit war, Gerlinde war vor sechs Jahren das letzte Mal auf einer Vernissage, vor vier Jahren auf einer Bergwanderung und vor acht Jahren das letzte Mal mit den Enkelkindern im Zoo. Seit drei Jahren hatte sie gar keine Gelegenheit mehr einen Ort des pulsierenden Lebens zu besuchen.
Vielleicht spiegelte das Seniorenzentrum doch ihre gegenwärtige Situation wider mit Heinrich, der sich gerade in ihrem Arm hängenließ und sie mit seinen langsamen Schrittchen am Vorwärtskommen hinderte.
Mit dem anderen Arm hängte sich Heinrich bei Kathrin ein. Aber an ihr zog er anscheinend weniger stark. Sonst hätte sie doch nicht ständig daran gedacht, sich nach Frau Hofer, der Leiterin des Seniorenzentrums, umzuschauen.
Da kam sie auch schon aus einem Zimmer heraus und steuerte direkt auf die drei zu. Frau Hofer begrüßte sie sehr freundlich.
"Herzlich