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Jugend, Widerstand und Haftzeit 1944-52: ... Wir liebten nur einen Sommer!
Jugend, Widerstand und Haftzeit 1944-52: ... Wir liebten nur einen Sommer!
Jugend, Widerstand und Haftzeit 1944-52: ... Wir liebten nur einen Sommer!
Ebook830 pages9 hours

Jugend, Widerstand und Haftzeit 1944-52: ... Wir liebten nur einen Sommer!

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About this ebook

2. überarbeitete Auflage! Mehr als ein halbes Jahrhundert brauchte der Autor, um seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse in der SBZ bzw. DDR zu verarbeiten und den nötigen Abstand zu gewinnen. Seine spannende Geschichte gegen das Vergessen, die er teilweise seinem Enkel anhand alter Bilder erzählt, stützt sich auf Tagebuchnotizen und Originaldokumente, auf selbst angefertigte Zeichnungen und alte Fotos sowie persönliche Erinnerungen und Interviews.
Die Kriegs- und Nachkriegszeit überstanden, erleben der Autor und seine Freunde bewusst die neue Aufbruchsstimmung. Sie genießen ihre erwachende Liebe bei Frohsinn und jugendlichem Übermut.
Währungsreform und Berlinblockade und die Angst vor erneutem Krieg ändern ihre bisher noch offene politische Einstellung. Der ständige Vergleich zwischen dem aufblühenden freiheitlichen und demokratischen Westberlin und dem ärmlich-grauen Alltag mit Parteiparolen sowie Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in der SBZ erregen ihren Unmut.
Was lange gärt, wird Wut! Sie beschließen den aktiven Widerstand. Die Staatssicherheit schlägt zu. Verhaftungen, Folter, drakonische Strafen und Erschießungen in Moskau sind die Folge.
LanguageDeutsch
PublisherHeimdall
Release dateJan 11, 2017
ISBN9783946537410
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    Book preview

    Jugend, Widerstand und Haftzeit 1944-52 - Sigurd Blümcke

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Hergestellt in Deutschland • 1. Auflage 2017

    © Heimdall Verlag, Devesfeldstr. 85, 48431 Rheine,

    www.heimdall-verlag.de

    © Alle Rechte beim Verlag

    Satz und Produktion: www.lettero.de

    Gestaltung: © Matthias Branscheidt, 48431 Rheine

    ISBN: 978-3-946537-41-0

    Weitere Bücher

    als E-Book, Print- und Hörbuch unter:

    www.heimdall-verlag.de

    www.meinaudiobuch.de

    Zum Geleit

    von Thankmar von Münchhausen:

    »Rauskommen! Folgen! Schnell! Kopf runter!« Keiner der Teilnehmer der Gedenkfeier in der evangelischen Kirche in Werder/Havel im Juli 2008 hatte diese Worte, in rauem Russisch hervorgestoßen, von Professor Dr. Sigurd Blümcke erwartet.

    Der Redner beschwor damit die letzten Augenblicke von acht jungen Männern und Frauen herauf, die vor 56 Jahren in Potsdam wegen »Spionage« und Antisowjetischer Hetze« zum Tode verurteil und in Moskau erschossen worden waren.

    Sigurd Blümcke hatte die meisten von ihnen gut gekannt. Er hatte 1950/51 als Beschuldigter und Gefangener die Methoden der Staatssicherheit der DDR und ihrer sowjetischen Schutzmacht am eigenen Leib erfahren.

    »Wir waren keine geschlossene Gruppe, keine Saboteure oder gar Terroristen«, sagt Professor Blümcke. »Statt dessen waren wir fröhlich, immer verliebt und sehr sensibel.«

    Das Verhalten solcher jungen Menschen bewies eine gewisse Widerständigkeit gegen den »realen Sozialismus« der entstehenden DDR, ihre Propaganda, den zunehmend spürbaren Zugriff auf die Bevölkerung.

    Für eine totalitäre Diktatur – die zweite auf deutschem Boden – genügt solches »Nicht-Mitmachen-Wollen« als Aufforderung zum Zuschlagen.

    Sigurd Blümcke hat diese Erfahrungen für sich behalten. Seine Mitschüler in der Abiturklasse in Westdeutschland – der Schreiber dieser Zeilen, selbst ein Zeitzeuge von Krieg und Vertreibung, gehörte dazu – hörten so wenig davon wie später Kollegen und Freunde. Er hielt das ihm Zugefügte aus der frischen Erinnerung in Zeichnungen und Notizen fest, schuf die Plastik einer »trauernden Mutter«.

    Das volle Verstehen konnte sich auch ihm erst nach der Wiedervereinigung erschließen: mit dem Einblick in die eigenen »Stasi«-Akten.

    In seinem Buch, das nun in der Neuauflage vorliegt, hat er seine bewundernswerte Erinnerungsarbeit wie in einem Bernstein aufbewahrt.

    Dr. Thankmar Frhr. von Münchhausen,

    1976–98 Politischer Korrespondent der F.A.Z. in Paris.

    Vorwort

    Mehr als ein halbes Jahrhundert musste ins Land gehen, um meine Erlebnisse vom Kriegsende bis 1952 zu verarbeiten und den nötigen Abstand zu gewinnen.

    Meine Erzählung, die sich auf Tagebuchnotizen und Originaldokumente sowie auf selbst angefertigte Zeichnungen, persönliche Erinnerungen und Interviews stützt, ist als bescheidener Beitrag gegen das Vergessen gedacht.

    Bisher hatte ich mich energisch gesträubt, über die damalige Zeit zu sprechen, geschweige denn etwas zu publizieren. Erst nach allseitigem massiven Drängen sah ich mich ermutigt, zur Feder zu greifen. Als einer der letzten Zeitzeugen dürfte ich mein Wissen mit all den Dokumenten und zugehörigen Illustrationen nicht länger der Öffentlichkeit vorenthalten, so die Argumentation meiner Freunde.

    Den Anspruch auf ein historisch oder gar literarisch bedeutsames Werk möchte ich keinesfalls erheben. Es geht mir auch in erster Linie nicht um Schuldzuweisungen und Verurteilungen, sondern eher um die Reflexion eines Zeugen zweier Epochen zur Komplexität der tatsächlichen Geschehnisse.

    Viele Erinnerungen wurden jetzt erst wieder vor Ort wach, sei es beim Betreten meiner damaligen Gefängniszelle oder bei der Besichtigung sowjetischer Haftanstalten. Gern fahre ich in meiner alten Heimat über Land, um in der Blütenstadt Werder a. d. H., dem Ort meiner großen Liebe, mein Schulgebäude wiederzusehen oder in Lehnin das Kloster und in meinem Heimatdorf die alte Dorfschule und das damalige Tanzlokal zu besichtigen. Aber auch auf Friedhöfen sehe ich beim andächtigen Lesen der Grabsteininschriften meine damaligen Freunde in ihrer jugendlichen Frische wieder vor mir.

    Ich habe versucht, die damaligen Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, sie möglichst detailliert und authentisch darzustellen und bestimmte Episoden meinem Enkel am Computerbildschirm anschaulich zu vermitteln.

    Um die Spannung zu halten und zugleich den Ductus nicht zu verlieren, musste ich auf manche Episode verzichten und andere aus dem örtlichen und zeitlichen Abseits in den Brennpunkt des Geschehens rücken.

    Es sei mir auch verziehen, wenn ich der Klarheit willen einiges übertrieben oder überzeichnet haben sollte.

    Möge beim Lesen dieses Buches mein Wunsch erkennbar werden, die fröhlichen und traurigen Erlebnisse, aber auch die Ängste und Probleme, die unsere Jugend prägten, aus der Tiefe des Vergessens zu holen, um zu verstehen, wie wir Jugendlichen damals dachten und was wir aus Überzeugung taten.

    Erläuterungen zu bestimmten Abkürzungen und Begriffen, soweit sie nicht im Text erklärt sind, finden im Anhang ihre Interpretationen.

    Einstimmung

    Weihnachten steht vor der Tür. Die Familie hat sich einträchtig vor dem geschmückten Christbaum versammelt. Die vier Schulkinder, drei Mädchen und ein Junge, räkeln sich auf dem Sofa, beschäftigen sich mit ihren i Pads oder schmökern in Heften und Büchern. Die Eltern blättern in Zeitschriften und Katalogen und unterhalten sich über den anstehenden Skiurlaub. Die Großeltern beobachten die Familienidylle.

    Während sich die drei Mädchen an diesem Abend auf ein Kartenspiel einigen, zieht sich der 13-jährige Jon David mit seinem Geschichtsbuch in eine Sofaecke zurück. Wir Großeltern wollten eigentlich beizeiten verschwinden, um die kommenden Tage besser durchstehen zu können. Doch dazu kommt es nicht, denn Joni, so wird mein Enkel liebevoll genannt, hat noch eine Frage:

    »Opi, wie habt ihr Weihnachten gefeiert, als du noch jung warst?«

    Nach einer kurzen Denkpause, in der ich versuche, mich in meine Jugendjahre zu versetzen, erkläre ich ihm, dass ich vor gut 60 Jahren das Weihnachtsfest ganz alleine in einer kleinen kahlen Gefängniszelle verbracht hatte. In der Heiligen Nacht hatte ich durch ein Stahlgitter und einen schmalen Spalt hindurch in den Nachthimmel geblickt und leise ein Weihnachtslied gesummt.

    »Opa, du musst das alles erzählen!«, drängt mein Enkel.

    »Mein lieber Jon, das ist eine lange Geschichte mit vielen schrecklichen und manchen schönen Erlebnissen. Zum Teil habe ich sie aufgeschrieben und mit Zeichnungen illustriert.«

    Jon gibt sich noch nicht zufrieden: »Haben die Nazi-Leute damals auch Weihnachten gefeiert? Haben sie eigentlich an Jesus und an seine Geburt geglaubt?«

    »Auch diese Fragen kann ich nicht mit einem Satz beantworten. Für heute Abend vielleicht nur so viel: Die damaligen Machthaber hatten unsere christliche Religion und die zugehörigen christlichen Feste wie z. B. das Weihnachts- und Osterfest nicht verboten. Es gab zwischen Staat und Kirche einen Vertrag. Die überzeugten ›Nazi-Leute‹, wie du sie nennst, waren entweder Atheisten oder hatten sich eine arische Ersatzreligion zurechtgelegt. Sie begannen germanische Götter zu verehren und behaupteten, ›gottgläubig‹ zu sein.«

    Jon fragt weiter: »Dann waren sie also doch fromm?!« Er zeigt auf das Buch, das er gerade studiert: »Hier steht nämlich, dass die Nationalsozialisten die christlichen Kirchen unterdrückt hätten und nur den Atheismus wollten! Was ist denn nun richtig?«

    Ich streiche ihm über sein dunkles volles Haar: »Mein lieber Joni, wenn das alles so einfach wäre, bräuchten wir keine Universitäten und keine langwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen! Glaube mir, mit diesem Problem beschäftigen sich kluge Köpfe schon seit vielen Jahren, und noch immer sind die Akten nicht geschlossen. Aber wenn dich die damalige Zeit, in der ich so alt war, wie du es jetzt bist, wirklich interessiert, dann kann ich dir meine Aufzeichnungen geben. Alles beruht auf Tatsachen, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen und Zeichnungen.«

    Jon verlässt seine Kuschelecke: »Oh, wie cool! – Ich möchte alles hören und sehen! – Alles aus deiner Jugend, von Anfang an!«

    »Meine Geschichte fängt mit meiner frühen Jungenzeit an, als ich noch, wie damals alle Knaben, ein Pimpf im Jungvolk war. Das alleine wäre schon ein abendfüllendes Thema. Dann könnte ich dir vieles vom Kriegsende und der nachfolgenden sowjetischen Besatzungszeit erzählen. Interessant wäre für dich sicher auch meine Schulzeit in der sowjetischen Besatzungszone bis zur Gründung der DDR. Ein besonderes Kapitel betrifft meine Sturm- und Drangzeit und vor allem meine erste große Liebe, die allerdings nur einen Sommer währte.Danach wird meine Geschichte ernst und traurig. Wir erlebten die Ost-West-Spannung und spürten die drohende endgültige Teilung unseres Vaterlandes, der wir entgegenwirken wollten. Die Folgezeit unseres Widerstandes gegen das SED-Unrechtsregime, meine Verhaftung und die Zeit hinter Gittern werde ich nie vergessen können.«

    Jon sichtlich erschrocken: »Das hast du alles wirklich erlebt? Warum kannst du denn immer noch so fröhlich sein?«

    »Ja, kann ich! Ich bin nicht zerbrochen, wie so viele andere, die dasselbe Schicksal erleiden mussten. – Meine Geschichte endet leider sehr traurig, denn unser ehrlich gemeinter Kampf für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit wurde mit drakonischen Urteilen, unmenschlichen Haftstrafen und sogar Erschießungen in Moskau belohnt.«

    Ohne ein Wort zu sagen, betrachtet Jon den Christbaumschmuck. So einen Megabericht hat er von seinem Opa nicht erwartet. Er hat auch nicht geahnt, welche Lawine er mit spontanen Fragen losgetreten hat.

    Am nächsten Morgen sitzt Großvater schon beizeiten am Schreibtisch vor seinem Laptop. Auf dem Tisch liegen alte Fotoalben, vergilbte Zeichnungen, Schnellhefter und einige Schriftstücke.

    Jon betritt das Arbeitszimmer: »Guten Morgen, Opi! – Sind das deine Bilder und das Geschriebene aus deiner Jugendzeit?«

    Ich brumme ein leises »Mmm«.

    Jon tritt näher an den Schreibtisch heran: »Opi, zeig doch mal! Kannst du was dazu erzählen? – Los, bitte!«

    Ich nehme meine Brille von der Nase: »Die meisten Bilder und Dokumente hatte ich schon vor Jahren eingescannt und digital bearbeitet, weil sie auf dem Bildschirm besser zur Darstellung kommen. Sieh mal, hier habe ich für jeden Abschnitt meiner Jugend eine Datei angelegt. Darin findest du alte Zeichnungen, Fotos und Dokumente. Die vielen Bleistift-, Kohle- und Tuschezeichnungen stammen alle von mir. Manche hatte der Zahn der Zeit schon stark demoliert. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren hatten wir kein gutes Papier. Alles war knapp, das Material miserabel, und zu kaufen gab es herzlich wenig! Deshalb musste ich später einige Zeichnungen und Skizzen digital überarbeiten. Welches Kapitel interessiert dich denn besonders?«

    Nach einigem Nachdenken meint Jon, dass ich schon mal etwas von meinen Kriegserlebnissen erwähnt hätte. Das würde ihn besonders interessieren. Er könne sich überhaupt nicht vorstellen, wie das damals gewesen sei und dass Jungs schon im Krieg waren.

    »Gut, fangen wir mit den unvergesslichen Erlebnissen aus den letzten Wochen und Tagen des 2. Weltkriegs an. Was damals alles Schreckliches geschah, findest du in diesem Hefter. Du solltest dir alles in aller Ruhe durchlesen. In diesem Bericht kommen zwei Mädels, die Polin Jadwiga Wisnewska aus Lodz und die Russin Marta Antonowa aus der Ukraine vor. Beide gehörten zu den sogenannten Zivilgefangenen, die 1940 bzw. 1941 nach Deutschland gebracht wurden. Man hatte diese meist noch sehr jungen Menschen nach Deutschland deportiert und zum Arbeitseinsatz, wie das offiziell hieß, auf die landwirtschaftlichen Betriebe verteilt. Unser Gartenbaubetrieb bekam diese beiden Mädels, die mit meiner Mutter, also deiner Urgroßmutter, und mir zusammen lebten, in der Küche zusammen aßen, auf dem Feld zusammen arbeiteten und die Bombennächte zusammen im Keller verbrachten. Über sie gibt es im Folgenden noch manches zu berichten.«

    Der schwarze Freitag

    Wie an jedem Morgen gilt der erste Blick dem Kalender. Heute haben wir Freitag, den 9.Februar 1945.

    Seit Montag findet in der Schule kein Unterricht mehr statt. Alle Klassenräume werden dringend zur Übernachtung für die durchziehenden Flüchtlinge gebraucht. Die Schülerinnen und Schüler begrüßen diese Sonderferien. Viele von ihnen können jedoch die geschenkte Freizeit nicht zum Spielen nutzen, denn sie werden in den Gärtnereien und bäuerlichen Betrieben dringend gebraucht.

    Auf dem Lande gibt es immer Arbeit. Im Februar müssen Obstbäume beschnitten werden. Bei manchen großen Bäumen sind die Baumkronen zu lichten, d. h., störende und trockene Äste herauszusägen. Das ist eine typische Arbeit für junge Burschen, die geschickt in die Baumkronen klettern können. Sie brauchen aber auch Muskeln, denn alles geschieht per Hand mit einer einfachen Baumsäge oder Baumschere.

    Als Nächstes müssen die herabgefallenen Äste und Zweige zusammengesammelt und zum großen Reisighaufen getragen bzw. gezogen werden. Diese oft bei klirrender Kälte und starkem Ostwind zu verrichtende Arbeit gehört zu jeder ordentlichen Plantagenpflege, was allerdings manchem Laien, der nur das Ernten kennt, schwer zu vermitteln ist.

    Mutter steht in der Küche und schaut, wie an jedem Morgen, nachdenklich auf das heutige Kalenderblatt. Sie kann nicht ahnen, dass dieser Tag für so manche Flüchtlingsfamilie ein rabenschwarzer Freitag werden wird.

    Über Nacht hat es wieder gefroren. Der Erdboden ist steinhart. Mutter überlegt, welche Arbeiten wohl heute am dringlichsten seien. Die beiden Gehilfinnen, Jadwiga aus Polen und Marta aus der Ukraine, erscheinen zum Frühstück. Ich sitze schon am Küchentisch und reibe mir den Schlaf aus den Augen.

    Nach dem Frühstück soll es wieder in die Obstplantagen gehen, so lautet die Anordnung der Chefin. Ich soll wie immer in die Baumkronen klettern und sägen und schneiden, während den beiden Mädels das Aufsammeln und Wegtragen obliegt. Die Schäferhündin Minka hat, wie immer, alles zu überwachen. Nachdem sich das Arbeitstrio warm angezogen hat, geht es mit Gesang in den Obstgarten. Es ist ein kalter, aber heller Tag. Der stahlblaue Himmel, so glaube ich, lässt nichts Gutes ahnen. Bei einer so guten Sicht muss man wohl wieder mit einem amerikanischen Bomberbesuch rechnen. Die beiden Mädels haben denselben Gedanken: Um 11 Uhr spätestens werden wir, wie so oft, eine Pause einlegen, um uns im Luftschutzkeller ausruhen und aufwärmen zu können.

    Ich klettere, säge und schneide, während Marta und Jadwiga sammeln und tragen, so wie schon in den vergangenen Tagen. Um 10 Uhr wird eine Pause eingelegt, um sich in der Küche wieder etwas aufzuwärmen. Es gibt heißen Tee. Zur weiteren Stärkung stehen Brei – auf Russisch Kascha genannt – geschnittenes Brot, Kuhbutter und selbst gestampfte Ziegenbutter, Rübensirup, Erdbeermarmelade, Quark und vor allem saure Milch auf dem Tisch. Jeder kann sich bedienen.

    Jadwiga fragt höflich, ob es auch heißen Kaffee gäbe. Meine Mutter nickt ihr zu: »Ja, aber wir haben nur Muckefuck, dieses scheußliche Getränk, das schon Napoleon verabscheute!«

    Jadwiga meint, dass man diesen Kaffee auch in Polen kenne. Es gäbe sogar noch schlimmere Arten von Kaffeeersatz. Marta bleibt wie immer bei ihrem geliebten Tschai (Tee).

    Für meine Mutter, selbst aus einer alten Hugenotten-Familie stammend, ist dieses Thema ein willkommener Anlass, eine Lobeshymne auf die gepflegte französische Kultur und insbesondere auf die den Geist anregende Wirkung des Kaffees zu singen. Sie versäumt es in der Regel aber auch nicht, sich von den groben Sitten und der unmöglichen Sprache der preußischen Landbevölkerung zu distanzieren. Indem sie sich bei Jadwiga und Marta für das einfache märkische Landleben zu entschuldigen versucht, gibt sie bei dieser und ähnlicher Gelegenheit gerne einen ihrer meist selbst erdachten französischen Sprüche zum Besten:

    »Voilà! Aujourd’hui il y a du café, mais on a du Moka faux!« Lächelnd fügt sie ihren Lieblingsreim hinzu: »Aujourd’hui chez nous seulement café fou !« Und das mit dem Hinweis auf den Autor, der kein geringerer als Napoleon persönlich gewesen sein soll.

    Ich versuche, dieses Wortspiel, das zugleich auch eine etymologische Erklärung für das gebräuchliche Wort »Muckefuck« sein soll, ins Polnische und Russische zu übersetzen.

    Marta meint dazu: »Bei uns auch man sagt Ersatzkoje. – No, ja bichotel tschai, pajschalista!« (Aber ich möchte bitte Tee!)

    Mutter blickt die beiden Helferinnen fragend an: »Ist die Arbeit heute in der Plantage etwa zu schwer oder wegen der Kälte zu anstrengend?«

    Marta: »Bei uns zu Hause alles war viel schwerer! Ich schon mit zwölf Jahren auf Kolchos gearbeitet! Das war schwer! Ich schwaches Mädchen! Auf dem Feld hinter Traktor! Alles mit Hände! – Alle Mädel im Dorf gearbeitet auf Kolchos! Korn geschnitten und gebunden! – Das hier leichte Arbeit! – Kälte nicht schlimm! – Kälte bei uns viel mehr!«

    Jadwiga stimmt dem nickend zu: »Diese Arbeit ist leicht! Sigurd muss mehr schwer arbeiten – auf Bäume! Das möchte ich nicht!«

    Das war das erste Mal, dass Marta etwas über ihre Heimat und über eine Kolchose erzählt hat. Ich will mehr über Kolchosen wissen, aber Marta schweigt.

    Alle haben sich wieder aufgewärmt. Die Arbeit in der Obstplantage kann also weitergehen.

    Ich schaue noch einmal zur Uhr und frage: »Es ist schon 11 Uhr durch und noch immer kein Fliegeralarm? – Heute bei dem klaren Wetter? – Wer soll das verstehen? – Haben die Amerikaner kein Interesse mehr an Berlin? – Sollte alles schon so weit zerbombt sein, dass sich der Aufwand nicht mehr lohnt? – Na ja, umso besser. Dann können wir ja ganz ungestört den Bäumen weiter zu Leibe rücken!«

    Pfeifend, summend und singend geht das Trio erneut an die Arbeit. Nach einer guten Stunde sind die Hände vor Kälte steif geworden. Die drei sind sich einig: Wir brauchen wieder eine kleine Aufwärmung! – Außerdem ist ja schon bald Mittagszeit! Das fleißige Dreigespann begibt sich ins Haus. Mutter hat schon das Wesentliche vorbereitet.

    Auf der »Kochmaschine« steht ein Topf mit gekochten Kartoffeln bereit. Es kann aufgetragen werden. Aber jeder muss seine Kartoffeln selbst pellen. Das Pellen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, vor allem wegen des intensiven Geruches, der das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt. Es steht auch der weiße Käse bereit, der besonders gut zu heißen Pellkartoffeln schmeckt. Außerdem befindet sich selbst gestampfte und gesalzene Butter aus Ziegenmilch auf dem Tisch. Jeder darf sich bedienen. Zum Nachtisch soll es heute Pudding mit heißen Sauerkirschen aus eigener Ernte geben. Niemand soll hungrig vom Tisch aufstehen.

    Meine Mutter nimmt Platz, faltet ihre Hände. Das Arbeitstrio tut ein Gleiches. Heute bittet sie den Herrn um Frieden und dass alle Menschen, die Haus und Hof verloren haben, unbehelligt eine neue Heimat in friedlicher Umgebung finden mögen. Sie hätten dasselbe Recht auf ein glückliches Leben wie unsereins. Nach dem »Amen« folgt die obligatorische Schweigeminute zur Besinnung und zum Nachdenken. Ich frage mich, warum sie gerade heute die Flüchtlinge in ihr Gebet einschließt. Hat sie wieder eine Vorahnung, wieder ihr zweites Gesicht? Oder ist es nur der alte Aberglaube, dass ein Freitag, der in dicker, schwarzer Schrift auf dem Kalender erscheint, ein schwarzer Freitag sei und Unheil verkünde?

    Nachdem sie das erlösende »Bon appetit!« gesprochen hatte, darf zugegriffen und wieder frei geplaudert werden.

    Während die Tischrunde fleißig pellt und kaut, ist von draußen plötzlich ein lauter werdendes Brummen zu hören. Ich springe auf und laufe nach draußen auf den Hof, um Ausschau zu halten. Nähern sich etwa die schon seit einer Stunde erwarteten Bomber?

    Am Himmel über mir kreisen drei einmotorige Jagdflugzeuge. Sie fliegen so hoch, dass die Hoheitszeichen nicht zu erkennen sind. Es könnten deutsche Maschinen vom Typ Me 109 sein. Dafür spricht auch die Tatsache, dass bisher kein Alarm gegeben wurde.

    Jadwiga und Marta kommen ebenfalls aus dem Haus, um das Fliegerspektakel nicht zu verpassen. In diesem Moment verlässt der erste der drei Flieger seine Höhe und braust im Tiefflug auf uns zu. Jedenfalls haben wir Schaulustige den Eindruck, als wolle der Pilot uns ins Visier nehmen. Jetzt fliegt das Jagdflugzeug schon so tief, dass ich die blau-weiß-rote Kokarde unter den Tragflächen und den Flugzeugtyp sicher erkennen kann: »Mein Gott, das ist ja eine englische ›Spitfire‹, ein feindliches Jagdflugzeug, das geradewegs auf uns zukommt!« Sofort rufe ich den beiden zu: »Runter! Flach auf die Erde!«

    Die beiden Mädels werfen sich auf den gepflasterten Hof. Ich lasse mich flach auf den zementierten Vorplatz fallen und robbe bis an die Hauswand, wobei ich die anfliegende Maschine fest im Auge behalte.

    Jetzt ändert sie ihre Richtung. Sie fliegt einige Hundert Meter weiter östlich an uns vorbei, sodass wir ihre Breitseite genau erkennen und sogar den Kopf des Piloten sehen können.

    Genau in diesem Moment feuert die »Spitfire« etwa zwei bis drei Sekunden lang aus allen Rohren. Ich kann die dicht aufeinanderfolgenden Feuerblitze, die aus den beiden Tragflächen nach vorne herausspritzen, und zugleich die schwarzen Rauchstreifen, die hinter den Tragflächen erscheinen, genau beobachten. Begleitet wird dieses tödliche Feuer aus den 12,7- cm-Bordkanonen und den 20-mm-MGs von einem ohrenbetäubenden lang gezogenen Dröhnen.

    Kein Zweifel, das ist ein gezielter Beschuss! – Wehe dem, den es trifft! Jetzt greift die zweite »Spitfire« an und feuert aus allen Rohren. Kaum hat auch diese Kampfmaschine ihr Feuer ausgespuckt, nähert sich schon das dritte Flugzeug und setzt zum Tiefflug an. Wieder sehe ich die blitzenden Feuersalven und höre das Dröhnen.

    Jadwiga und Marta blicken wie erstarrt. Der Schweiß steht ihnen auf der Stirne.

    Marta mit zitternder Stimme: »Slawa bogu!« (Gott sei Dank!)

    »Was wollen die?«, fragt Jadwiga.

    Ich blicke wieder in den stahlblauen Himmel und rufe ihr zu: »Weiß ich nicht! – Aber die Gefahr ist noch nicht vorüber! Ich sehe, dass die Maschinen eine Schleife fliegen. Sie werden gleich wiederkommen! Am besten, ihr geht zusammen mit Mutter in den Luftschutzkeller! Da seid ihr sicher! – Nehmt Minka mit in den Keller!«

    Die beiden verschwinden ins Haus. Ich habe mich nicht geirrt. Die drei Jagdflugzeuge fliegen tatsächlich den nächsten Angriff. Die erste Maschine setzt zum Tiefflug an. Ich möchte jetzt mehr sehen und laufe hinauf zum Dachboden, um aus der Dachluke den Angriff noch genauer beobachten zu können. Meine Vermutung scheint sich zu bewahrheiten: Die Jagdflieger beschießen irgendetwas auf der Chaussee am Rande von Damsdorf.

    Der Angriff wiederholt sich noch ein drittes Mal. Ich zähle nach: »Es sind drei Maschinen. Jede hat drei Mal gefeuert. Das bedeutet, dass das Ziel neun Mal mit diesen überschweren MGs beschossen wurde. Wer weiß, welches Unheil sie angerichtet haben, wo es an der Stelle doch gar keine militärischen Ziele gibt?!«

    Ich beobachte die Maschinen noch einige Minuten. Sie gewinnen wieder an Höhe, entfernen sich in östlicher Richtung und verschwinden schließlich am Horizont. Augenblicklich verlasse ich meine gute Aussicht und gehe wieder nach unten. Mutter und die beiden Helferinnen kommen ebenfalls aus dem Keller. Die Runde hat noch nicht wieder ihre Plätze eingenommen, als jemand die Flurtreppe heraufgepoltert kommt.

    Es ist mein Freund Egon, der noch völlig außer Puste unbedingt eine Neuigkeit loswerden möchte: »Die haben eben einen Flüchtlingstreck beschossen und sollen ein fürchterliches Blutbad angerichtet haben!« Er erfasst meine Hand: »Komm mit, wir werden gebraucht!«

    Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, springe ich auf, ziehe meine schwarze Uniformjacke über, greife mir meine Schirmmütze, schnalle mir mein Koppel um und hake den Schulterriemen ein. Alles geschieht im Laufschritt. Auf dem Hof angekommen, schwingen wir uns auf unsere Fahrräder und radeln so schnell wir können nach Damsdorf, wo wir die Unglücksstelle vermuten. Wir wählen die Chaussee, fahren den Berg hinunter und erreichen nach wenigen Minuten die kleine Tankstelle der Familie Leitzke. Hier müssen wir halten. Ein weiteres Durchkommen ist vollkommen unmöglich, denn die Straße ist total blockiert.

    Erste Hilfe

    Fassungslos und wie angewurzelt stehen wir beide auf der Straße. Welch ein schrecklicher Anblick! Was wir uns da ansehen müssen, ist nicht mit Worten zu beschreiben. Dieses Bild wird uns immer in Erinnerung bleiben: Mehrere Plan-, Kasten- und Leiterwagen stehen quer, liegen auf der Seite oder sind miteinander verkeilt. Andere wurden anscheinend in die dicken Bäume beiderseits der Straße gerammt oder völlig auseinander gerissen. Ihre Deichseln sind zumeist zersplittert. Auf der Straße sieht man zwischen Stroh und Heu überall Blutlachen. Neben der Fahrbahn liegen tote Pferde. An den Wagen hängen noch Reste der Geschirre mit Leinen und Ortscheiten.

    Ein einziges grauenhaftes Chaos! Menschen laufen schreiend und kopflos durcheinander. Einige rufen laut um Hilfe, jammern oder wimmern. Viele bluten. Personen liegen bewegungslos auf der Straße. Auch unter den Wagen sind Menschen und strecken ihre Arme hilfesuchend empor.

    Egon stottert: »Das ist ja schrecklich!«

    Ich fühle genauso wie er. Mein Mund ist trocken. Es gelingt mir nicht, meine Gefühle auszusprechen. Am liebsten hätte ich zum Himmel geschrien: »Warum dieses furchtbare Unglück? – Was haben die Flieger hier angerichtet?«

    Jetzt erscheinen einige Frauen aus dem Dorf mit einer weißen Armbinde. Sie gehören dem Luftschutzbund an und wurden für die »Erste Hilfe« ausgebildet. Sie tragen Verbandskoffer und Taschen, die mit dem »Roten Kreuz« gekennzeichnet sind.

    In diesem Moment erscheint auch der Dorfpolizist: Wilhelm Volkstädt, der sogleich das Kommando übernimmt. Er bemerkt uns. Wir stehen noch immer wie angewurzelt neben der kleinen Tankstelle und starren in das blutige Chaos.

    »Hier wird nicht rumgestanden und geglotzt«, ruft er uns laut zu, »jeder muss hier mithelfen und anpacken!– Nun mal los! Ich will sehen, was in euch steckt! – Nicht umsonst tragt ihr die Uniform unseres Führers!«

    Durch diese markigen Worte aufgerüttelt, versuchen wir, wieder Haltung anzunehmen und neuen Mut zu fassen. Langsam nähern wir uns den Unglückswagen.

    Der Polizist wendet sich an die anderen Helfer, die in der Zwischenzeit erschienen sind, und beginnt mit der Aufgabenverteilung. Die Frauen hätten sich unverzüglich um die Verwundeten zu kümmern. Alle Leichtverletzungen seien hier am Ort zu versorgen, d. h., es sollen Notverbände oder Schienen usw. sofort angelegt werden. Sodann seien die Verwundeten behutsam in das nahe gelegene Gehöft Tügge zu transportieren. Von dort würden sie zur weiteren Behandlung nach Lehnin ins Stift gebracht, wo schon entsprechende Vorkehrungen getroffen seien.

    Jetzt wendet er sich uns Jungen zu und erteilt uns folgende Anweisung: »Alle Wagen nach Toten durchsuchen und diese bergen. Die Leichen zunächst auf die Straße legen. Nachdem alle identifiziert sind, werden sie in das Gewächshaus der Familie Leitzke gekarrt!« Er zeigt auf ein flaches Gewächshaus, das sich in Höhe der Unglücksstelle direkt neben der Chaussee befindet.

    Egon und ich haben unseren ersten Schock überwunden. Etwas zögerlich, jedoch von der Pflicht getrieben, machen wir uns an die befohlene Arbeit. In der Zwischenzeit sind noch andere uniformierte Jungen und einige ältere Männer aus dem Dorf eingetroffen, sodass wir nicht alle Wagen inspizieren müssen.

    Mutig und gefasst krieche ich in den ersten Planwagen. Die Plane ist eingerissen und hängt seitlich herunter. Der vordere Holm wurde von einem Geschoss durchschlagen.

    Ich steige auf die Deichsel, stütze mich auf den Kutscherbock und rufe in den dunklen Wagen hinein: »Ist hier jemand?« Keine Antwort. Ich krabbele in den Wagen hinein, zwänge mich zwischen allerlei Gepäck und Heu hindurch, versuche, Koffer und Kisten und anderen Hausrat zur Seite zu drücken, wühle mich durch Strohballen, Strohsäcke und Futtersäcke hindurch und gelange so schließlich in den hinteren Wagenteil. Hier ist es total dunkel, denn die überdachende Plane ist im mittleren und hinteren Teil des Wagens noch intakt. Plötzlich fühle ich zwischen nassem Stroh eine Hand. Ich schrecke zurück: Liegt hier etwa ein Mensch? Ich schiebe das Stroh weiter zurück. Meine Vermutung bestätigt sich: Hier liegt ein vollkommen bekleideter menschlicher Körper! Ich taste ihn ab und fühle in seinem Brustbereich flüssiges, noch warmes Blut. Meine Hände zittern. Ich beiße die Zähne zusammen und beginne den Körper zwischen all dem Hausrat herauszuziehen. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, meine Kräfte reichen nicht aus.

    Ich arbeite mich wieder zum Vorderwagen vor und rufe laut: »Wer kann mir helfen? Ich habe einen Körper gefunden!«

    Ein älterer Mann aus dem Dorf kommt mir sofort zur Hilfe. Mit vereinten Kräften und äußerster Gewaltanwendung gelingt es uns schließlich, den regungslosen, mit einem Mantel und einer Fellmütze bekleideten Körper nach vorne zu ziehen. Als uns sodann ein weiterer Herr aus dem Dorf zur Hilfe kommt, schaffen wir es tatsächlich, den Toten behutsam auf die Straße zu tragen und auf den Asphalt zu legen.

    Sein Gesicht ist unverletzt. Offensichtlich wurde er im Brustbereich getroffen. Ich vermeide es, dem Toten ins Gesicht zu sehen. Doch ein Gedanke lässt mich nicht los: Wie schnell kann ein Leben ausgelöscht werden?!

    Egon und ein anderer Pimpf aus dem Dorf sind unterdessen damit beschäftigt, zwei leblose Körper zu bergen. Es sind kleine Körper, offensichtlich noch Kinder.

    Auch sie werden auf dem Asphalt abgelegt. Mein Gott, muss ich unwillkürlich denken, die sind ja noch blutjunge Knaben, höchstens so alt wie wir! Der Polizist mahnt zur Eile. Die Chaussee müsse spätestens heute Abend wieder frei sein.

    Während wir weiter in den Wagen suchen, tragen andere Helfer wieder zwei blutüberströmte Körper zum Ablageplatz, auf dem nun schon sechs Tote liegen. Neben den leblosen, nur unvollständig abgedeckten Körpern stehen oder knien Angehörige oder vielleicht auch Verwandte und Freunde, die den Treck-Beschuss überlebten. Ihr Weinen und Schluchzen geht mir durch und durch. Am liebsten möchte ich auf der Stelle den Ort verlassen.

    Noch sind nicht alle Wagen durchsucht. Irgendwer ruft: »Ein Junge fehlt noch! – Es ist der kleine Heinz! Er muss noch in dem Wagen der Familie Baum sein! Seinen Opa haben wir gefunden. Der liegt schon bei den anderen Toten!«

    Herr Volkstädt schaut mich fragend an. Ich willige ein. Dann gibt er mir den Befehl, in den Wagen der Familie Baum zu steigen, um nach dem Jungen zu suchen. Ich führe den Befehl aus, begebe mich jedoch, um ehrlich zu sein, mit weichen Knien in den Wagen. Ich robbe wieder über allerlei Gepäck und Hausrat und taste mich syste­matisch vor. Zunächst kann ich nichts Verdächtiges fühlen oder sehen. Doch dann etwa in der Mitte des Wagens stößt meine Hand auf etwas Weiches. Ich zucke zurück, taste dann aber wieder weiter. Ich fühle zwischen Stroh und allerlei Gegenständen so etwas wie eine Jacke. Tatsächlich, es ist eine feuchte Jacke, die ich jetzt in der Hand habe. Ich krieche näher heran und kann bei den schlechten Lichtverhältnissen eine kleine Gestalt erkennen, die teilweise mit einer blutigen Decke umwickelt ist.

    Der kleine Körper liegt auf lockerem Stroh, das mit Blut durchtränkt ist. Mir schießt es durch den Kopf: Das kann nur der noch fehlende kleine Heinz sein.

    Ich ziehe an seinen Beinen und denke: Ja, das muss er sein! Der Junge ist ja nur eine halbe Portion! Den hole ich ohne fremde Hilfe aus dem Wagen. Ich greife mir eine zweite Stoffdecke, die daneben liegt, decke sie über den Körper und wickele ihn notdürftig ein, ohne dabei genau hinzusehen. Ohne große Schwierigkeiten gelingt es mir, den kleinen Körper aus dem Wagen zu bringen, auf die Chaussee zu tragen und neben die anderen Toten zu legen.

    Der Polizist kommt und schlägt die Decke auf, um den Körper identifizieren zu lassen. Ich will noch immer nicht hinschauen. Hatte ich heute nicht genug gesehen? Am liebsten hätte ich mich jetzt umgedreht und diese grausame Aufbahrungsstätte verlassen. Doch da fasst mich unser Polizist an den Ärmel und flüstert mir zu: »Schau mal genau hin, was du da gebracht hast!«

    Ich werfe einen kurzen Blick auf den nunmehr halb entblößten Körper: Oh Gott! Ein unbeschreiblicher Schreck durchfährt mich. Mein Herz scheint stillzustehen. Meine gesamte Muskulatur verkrampft sich. Ich stehe wie gelähmt da und kann nur noch hauchen: »Oh großer Gott! – Wie furchtbar! -Dem Jungen fehlt ja der Kopf!«

    Gott sei Dank behält der Polizist seine Fassung. Er redet in ruhigem Ton auf mich ein: »Ich kann dich verstehen! – So etwas habe ich auch noch nicht gesehen. Aber hier heißt es Zähne zusammenbeißen und zupacken! Jetzt kannst du beweisen, dass du tapfer bist: Hol den fehlenden Kopf aus dem Wagen!«

    Ich muss mich mit aller Gewalt zwingen, nicht nachzudenken, sondern nur einen Befehl auszuführen. Ohne ein Widerwort zu geben, steige ich wieder in den Wagen der Familie Baum und beginne an der Stelle, wo sich das blutdurchtränkte Stroh befand, erneut zu suchen.

    Schrecklich die Vorstellung, ich würde jetzt irgendwie in den blutigen Hals fassen! – Aber was hat der Polizist eben noch gesagt? »Zähne zusammenbeißen und zupacken!«

    Nach wenigen Minuten fühle ich etwas. Zwischen zwei Kisten taste ich Haare und etwas Hartes. Das fühlt sich so wie ein feuchter kleiner Kopf an. Ohne genau hinzuschauen, stecke ich den Kopf in die daneben liegende Fellmütze und bringe den grauenvollen Fund auf die Straße.

    Der Polizist lobt mich mit markigen Worten für diese Tat. Ich bin noch ganz in Gedanken versunken und kann mich weder konzentrieren noch zuhören. Alles ist schon so unerträglich, so unfassbar schrecklich, und nun musste ich auch das noch tun!

    Wir Jungen scharen uns nun wieder um den Polizisten und warten auf neue Befehle, die wir sodann auch erhalten. Es komme jetzt darauf an, die sieben Toten zu bergen. Alle Toten seien mit einer Karre in Leitzkes Treibhaus zu bringen. Die Aufbahrung übernähmen Frauen aus dem Dorf. Wir Jungen gehen ans Werk. Die Toten sind ja alle in Decken eingewickelt. Wir müssen also kein Blut und keine Gesichter sehen.

    Der Polizist will uns aber immer noch nicht entlassen. Er hat offensichtlich noch eine Aufgabe für uns. In ruhigem Ton teilt er uns mit: »Keine Angst, Jungs! – Ich habe eine leichte Aufgabe für euch. Wie ihr seht, sind alle Pferde, die nicht getötet wurden, vor Angst durchgegangen und davongaloppiert. Ihr müsst jetzt den Hufspuren nachgehen, die Pferde suchen, einfangen und zurück bringen!«

    Endlich eine Aufgabe, die leichtfällt und sogar Spaß macht! Mit diesen Worten folgen wir den frischen Hufspuren, ganz so, wie es Karl May beschrieb. Zuerst sind es noch viele Spuren, die in verschiedene Richtungen führen. Am Waldrand allerdings verdichten sich die Hufabdrücke zu einem ausgetretenen Pfad, dem wir nach Trapper-Art folgen.

    Schon nach etwa 500 Metern haben wir unser Ziel erreicht. Dicht am Waldrand steht die gesuchte kleine Herde auf einer Wiese. Wir nähern uns langsam und versuchen, durch lockende Rufe die Ausreißer zu beruhigen und ein weiteres Flüchten zu verhindern. Pferde einzufangen haben wir schon von früher Jugend auf gelernt. Schließlich mussten wir schon oft Pferde gegen ihren Willen von der Weide holen und in den Stall bringen.

    Je näher wir kommen, desto deutlicher erkennbar wird der erbärmliche Zustand der Vermissten. Zwei Pferde bluten aus größeren Wunden an der Brust und am Bauch. Andere haben blutige Hinterbeine. Bei einigen hängen Teile des Geschirrs am Körper. Andere schleifen Lederriemen und zerbrochene Ortscheite hinter sich her. Zum Glück sind bei allen Pferden noch die Kopfstücke des Zaumzeuges vorhanden.

    Wir können mit Pferden umgehen. Jedes Pferd muss zuerst beruhigt werden, indem es am Kopf gekrault und gestreichelt wird. Als Nächstes sind die herunterhängenden Geschirrteile sowie die Zügel und Ortscheite zusammenzubinden und über den Pferderücken zu hängen. Wir Jungen wissen aus schlechter Erfahrung, worauf man besonders zu achten hat. Will man ein Pferd ruhig führen, darf das Pferd niemals irgendwelche Geschirrteile hinter sich herziehen, denn das macht das Tier nervös und unberechenbar.

    Die Pferde stehen total erschöpft da. Sie stecken ihre Köpfe dicht zusammen. Manche lecken oder scheuern sich gegenseitig. Der Rückweg zum Treck macht keine Schwierigkeiten. Freudestrahlend können wir die Pferde ihren Besitzern übergeben.

    In der Zwischenzeit sind noch andere Helfer erschienen, die mit vereinten Kräften versuchen, die Wagen herauszuziehen und die Geschirre wieder instand zu setzen, sodass die Chaussee in Kürze geräumt werden kann.

    Einige Flüchtlingsfamilien sind fest entschlossen, nicht weiter zu trecken, sondern in Damsdorf zu bleiben.

    Am Nachmittag erscheint auch Opa Hannemann am Tatort, um sich vom Hergang des Geschehens ein Bild zu machen. Er geht von Wagen zu Wagen, schaut sich alles genau an, spricht mit dem und jenem und macht sich Notizen. Dann geht er mit sehr ernster Miene zu den Toten. Nach einer Schweigeminute spricht er die weisen Worte: »MORS CERTA HORA INCERTA! (Der Tod ist sicher, die Stunde unsicher!) – Noch vor ein paar Stunden haben diese Menschen geglaubt, sie seien gerettet, hätten das Schlimmste überstanden, und nun sind sie schon im Jenseits.«

    Schließlich trifft er Herrn Volkstedt. Beide begrüßen sich. Angesichts des furchtbaren Blutbades und der Toten kommt es zwischen den beiden Herren zu einem unvergesslichen Gespräch, das Egon und ich mithören. Zunächst geht es um den Tod, das Unfassbare und um unsere Machtlosigkeit, das eigene Schicksal zu bestimmen. Dann aber konzentriert sich das Gespräch auf den »Treckbeschuss« selbst. In einem Punkt sind sich beide Herren einig: Es waren eindeutig englische Flugzeuge, die dieses Blutbad angerichtet haben. Aber bei der Frage nach dem Warum gehen die Ansichten auseinander.

    Der Polizist vertritt die Meinung, die Piloten hätten in den Wagen entweder getarntes militärisches Material vermutet oder sie hätten diesen Transportweg für alle nachfolgenden Truppenbewegungen der Wehrmacht blockieren wollen. Darüber, ob sie wehrlose Frauen und Kinder töten, hätten sie nicht nachgedacht, denn das Töten gehöre nun mal zu jedem Krieg. Opa Hannemann glaubt nicht an diese Erklärung. Die Piloten hätten bei dem klaren Wetter sehr genau sehen können, dass es sich um einen Flüchtlingstreck, also um Zivilisten gehandelt habe. Dass sie dennoch das Feuer eröffnet hätten, müsse einen anderen Grund gehabt haben. Er glaube, dass die Piloten einen Hass auf die Deutschen hätten.

    Nicht anders seien auch die nächtlichen Bombardements unserer Städte mit den Tausenden von zivilen Opfern zu erklären. Vielleicht hätten diese Piloten selbst Angehörige zu beklagen, die bei deutschen Luftangriffen auf englische Städte oder durch die V-Waffen in London ums Leben gekommen seien. Beide sind sich schließlich darin einig, dass dieser Angriff ein besonders tragisches Ereignis sei. Diese aus dem Warthe-Gau kommenden Flüchtlinge, die vor den Sowjets geflohen seien, um irgendwo im Westen bei den Engländern oder Amerikanern Schutz zu finden, seien hier also kurz vor ihrem Ziel von ihren ersehnten Beschützern getötet worden.

    Bilder aus der Jugendzeit

    Jon legt den Hefter auf den Schreibtisch, wobei er mit weinerlicher Stimme bemerkt: »So etwas Trauriges hast du erlebt?«

    Ich schaue ihn verständnisvoll an und erkläre ihm, dass wir damals viele Sterbende und Tote gesehen hätten.

    So unwahr, wie das heute klingen mag, aber im Krieg hätte der Tod zum täglichen Leben gehört. Man habe damit gelebt und oftmals kaum noch ernsthaft darüber nachgedacht.

    »Dennoch konnte ich Zeit meines Lebens all diese grausamen Erlebnisse nie vergessen und höre manchmal heute noch im Traum das MG-Feuer und das Stöhnen der Sterbenden.«

    Jon betrachtet noch immer die Zeichnung, die die Situation nach dem Treckbeschuss darstellt, und fragt: »Haben denn die Flieger so genau auf die Kinder und die Pferde zielen können?«

    Ich glaube, diese Frage leicht beantworten zu können: »Natürlich nicht. Die Piloten haben auch gar nicht so genau auf einzelne Personen oder Tiere gezielt. Sie haben den gesamten Treck ins Visier genommen und dann einfach draufgehalten. – Aus verschiedenen Gesprächen, die ich viele Jahre später mit ehemaligen britischen und amerikanischen Piloten führen konnte, kamen immer dieselben Antworten. Sie hatten ihre Befehle, die jeweiligen genau beschriebenen Ziele anzugreifen und zu bekämpfen, sei es mit Bomben oder Maschinengewehren. Die Jagdflieger, um die es hier in dem Bericht geht, die wir damals ›Tiefflieger‹ nannten, hatten nichts anderes im Sinn, als ihre militärischen Befehle auszuführen, d. h., auf die angegebenen Bodenziele zu schießen. Die Piloten hatten praktisch keine Vorstellung von dem Blutbad, das sie unter den Zivilisten anrichteten. Das war die stets gleichlautende Aussage. Ihre Sorgen waren ganz anderer Art. Sie wollten möglichst unversehrt den Krieg überstehen, also auf jeden Fall heile zu ihrem Flugplatz zurückkehren. Bei jedem Angriff mussten sie sich auf ihre Fliegerei, auf ihren Kurs und die Flughöhe konzentrieren und dabei die möglicherweise wechselnde Windrichtung oder sogar aufkommende Windböen genau beachten. Auch während des Abfeuerns hätten sie nie an schreiende Menschen, sondern nur an ihre Maschinen gedacht. Sie hofften, dass die Tragflächen das gewaltige, durch die feuernden Kanonen und MGs verursachte Rütteln, den Einsatz überständen.«

    Jon kann das alles kaum verstehen. Ihn interessiert jedoch noch eine Sache: »Du schreibst gar nichts darüber, was mit den Toten weiter geschehen ist?«

    »Die Toten hatte man einige Tage danach auf dem neuen Friedhof in Damsdorf feierlich beigesetzt. Ihre Gräber wurden noch viele Jahre gepflegt. Jetzt sind die einzelnen Grabstellen nicht mehr vorhanden. Stattdessen liegt an dieser Stelle ein Sandstein mit den eingemeißelten Namen und Daten. Ich habe ihn 2010 fotografiert. Das entsprechende Foto wollte ich gerne weiter aufbewahren und all denen zeigen, die dazu neigen, den Krieg zu verharmlosen oder gar zu glorifizieren.«

    »In deinem Bericht erwähnst du deinen Freund Egon. Hattest du damals viele Freunde? Die würden mich interessieren.«

    »In der Kriegszeit hatte ich nur zwei gute Freunde, Peter und Egon. Wir drei hatten uns ewige Treue geschworen, wollten gemeinsam durch dick und dünn gehen und hatten sogar Blutsbrüderschaft geschlossen. Über meine beiden besten Freunde wirst du im Folgenden noch manches von mir hören. Wir konnten uns immer aufeinander verlassen. Durch unseren Pakt waren wir gegen alle Angriffe der fremden Jungen aus dem Dorf geschützt.«

    Wir betrachten das erste Bild: »Das ist mein Freund Peter Auler. Dieses und die folgenden Bilder sind mit Bleistift auf einfaches Papier gezeichnet. Peter war mein ältester Freund. Er gehörte zu den besten Schülern unserer Klasse. Seine sportlichen Leistungen waren nicht gerade überragend, wurden aber mit gut bewertet. Zeichnen war absolut nicht seine Stärke. Mein zweitbester Freund hieß Egon. Er war ein eher unauffälliger Schüler. Sport und Erdkunde waren seine Lieblingsfächer. Im Laufen und Weitsprung war er der Klassenbeste. Sein Vater war schon 1941 gefallen. Sein 5 Jahre älterer Bruder war seit Anfang 1944 vermisst, worüber seine Mutter nicht hinwegkam. Egon war ein heller Kopf und an vielen technischen Dingen interessiert. Er wollte später Ingenieur werden und noch größere und schnelle Lokomotiven bauen. Er war ein pflichtbewusster Pimpf, ganz zum Ärger seinen Großvaters, der im Ort nur ›Opa Hannemann‹ genannt wurde, der gegen das NS-System stänkerte, aber Narrenfreiheit genoss. Über ihn später mehr.«

    Jon fragt: »Hast du nicht auch ein Bild von dir?«

    »Keine Frage. Hier siehst du deinen Großvater als munteren Knaben. So habe ich mich damals im Spiegel gesehen als ich so alt war wie du. Wie meine beiden engen Freunde, so musste auch ich ohne Geschwister aufwachsen und war mir oft selbst überlassen. – Einer meiner Lehrer hatte eine schriftliche Beurteilung über mich abzugeben, die ich zufällig in die Hand bekam. Darin stand zu lesen, dass ich ein fröhlicher und aufgeweckter aber auch sensibler, und phantasiebegabter Junge sei. Meine Stärke läge im Musischen. Ich gehöre zu der Gruppe der besseren Schüler. Mathematik, Geschichte und Sport seien meine Lieblingsfächer. Aber auch für Fremdsprachen hätte ich ein besonderes Ohr. Ich selbst hatte oft das Gefühl, von der anders gearteten bäuerlichen Dorfjugend ausgegrenzt zu werden. Wegen meiner dunklen Haarfarbe und der etwas größeren, leicht gekrümmten Nase musste ich schon so manche Beschimpfung hinnehmen. Oft wurde mir das Wort ›Judennase‹ nachgerufen.«

    Jon: »So ganz gerade ist deine Nase nie geworden!«

    Ich lächelnd: »Manches Erbgut kann man nicht verbergen! Aber es gibt noch einige Tagebuchnotizen von meiner Mutter über mich, z.B. diese aus dem Jahr 1944: ›Der Herrgott hat ihm ein goldenes Geschenk in die Wiege gelegt. Er hat eine ausgeprägte Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, besondere Ereignisse und vor allem Gesichter in sich aufnehmen und sie später naturgetreu nachzeichnen zu können.‹ Deshalb brauchen wir auch keinen Fotoapparat.«

    Jon möchte gerne alte Familienbilder sehen: »Hast du auch ein Bild von deiner Mutter und deinem Vater?«

    Ich suche in meiner Datei: »Schau mal, hier siehst du zwei Bilder von meinem Vater, von meiner Mutter, von mir und meiner Minka. – Mein Vater war zu der Zeit schon beim Militär. Diese Bilder wurden im Sommer 1942, als er Fronturlaub hatte, aufgenommen. Wie du erkennen kannst, stehe ich barfuß neben meiner Mutter. Zu der Zeit liefen wir Jungen in den Sommermonaten ohne Schuhe. Wegen der Schuhknappheit waren wir gezwungen, im Winter mit Holzpantinen, die wir ›Holzklotzen‹ oder nur ›Klotzen‹ nannten, vorliebzunehmen.«

    Jon betrachtet die Bilder interessiert: »Gehörten die Bäume zu eurer Landwirtschaft?«

    »Ja! Diese Bilder wurden auf unserem Grundstück aufgenommen. Im Hintergrund siehst du die halbstämmigen Apfelbäume und andere Obstbäume. Wie hatten einen großen Gartenbaubetrieb mit 600 Apfelbäumen, 100 Kirschbäumen, 40 Pflaumenbäumen usw. Weiterhin zahlreiche Sträucher und sogar eine kleine Haselnuss-Plantage. Dazu gehörten mehrere Morgen für den Gemüseanbau, aber auch für Kartoffeln und Getreide.«

    Ich klicke das nächste Bild an: »Hier habe ich eine Zeichnung von unserem Haus. Darin siehst du den Hof, das kleine Gewächshaus und das Frühbeet und im Hintergrund die Stallungen, die mein Vater selbst gebaut hatte.« Ich mache eine Pause.

    »Wenn du noch mehr von meiner frühen Jugendzeit erfahren möchtest, kann ich dir noch eine kleine Geschichte erzählen. Im Herbst 1944 reifte in mir die Einsicht, dass ich mich vor den Dorfrüpeln schützen müsse, was mir allerdings durch Raufen oder Prügeln nicht gelang. Meine Überlegungen brachten mich auf eine glorreiche Idee, nämlich mit meinen Freunden einen Packt zu schließen. Ich erinnerte mich an unseren Geschichtsunterricht: War es nicht oft so, dass kleine oder schwache Staaten mit anderen einen Packt schlossen, um sich zu schützten? Meine Idee stieß bei meinen Freunden auf Gegenliebe und wir beschlossen einen ›Nichtangriffspackt‹, schwörten uns ewige Treue und formulierten sogar einen Eid, den wir kunstvoll zu Papier brachten und mit unserem Blut höchst feierlich besiegelten. Unsere Devise lautete fortan: Einigkeit macht stark! Die nötigen Blutstropfen wurden zwar mühsam aber mannhaft mutig aus den angestochenen Fingerbeeren gepresst. Keiner verzog eine Miene …«

    Jon unterbricht: »Eure Blutsbrüderschaft finde ich stark! War das wirklich ein blutiger Pakt?«

    »So könnte man es nennen. Wir kannten auch schon das Wort ›Nichtangriffspakt‹. Es hatte in meiner Jugendzeit eine recht große Bedeutung. Du kennst sicher einige Beispiele aus der Geschichte. In den 20er-, 30er- und sogar 40er-Jahren gab es eine Reihe derartiger Pakte zwischen mehreren europäischen Staaten. Bedeutungsvoll sind z. B. die Deutsch-Polnische Erklärung von 1934, die Beistandsvereinbarung zwischen Polen und Großbritannien mit der anschließenden Britisch-Französischen Garantieerklärung gegenüber Polen vom 31. 3. 1939, dann der sogenannte Dreimächtepakt zwischen Italien, Japan und Deutschland von 1940, der in der Folgezeit durch Einbeziehung von Ungarn zu einem Vierer-Vertrag erweitert wurde.Der bekannteste Vertrag war jedoch der im August 1939 unterzeichnete sogenannte Hitler-Stalin-Pakt, der zehn Jahre Gültigkeit haben sollte, jedoch im Juni 1941 von Hitler einseitig gebrochen wurde …«

    Jon unterbricht mich wieder: »Wenn es so viele Verträge gab, wieso konnte denn überhaupt der große Krieg kommen?«

    Ich seufzend: »Verträge haben eben nur unter Ehrbaren Gültigkeit. Für einen Verbrecher sind sie weniger wert als das Papier, auf dem sie geschrieben stehen. – So war es leider auch zwischen 1939 und 1941. Als Hitler den Vertrag mit Polen brach und seine Truppen in polnisches Gebiet einmarschieren ließ und dann noch das britische Ultimatum ignorierte, war der 2. Weltkrieg entbrannt. Die weiteren verheerenden Folgen kennst du.«

    Jon antwortet etwas gelangweilt: »Ja, kenn’ ich. Was waren deine schlimmsten Erlebnisse damals in der Nazi-Zeit?«

    Ich überlege und erkläre ihm, dass mir die Flüchtlingstrecks mit ihrem ganzen Elend unvergesslich geblieben seien.

    »Ich habe noch immer die vielen Menschen vor Augen, die Haus und Hof verlassen hatten und sich erschöpft mit ihren Pferdegespannen und Handwagen von Ost nach West schleppten. Manche konnten nicht mehr weiter und sind am Straßenrand liegen geblieben. Den Pferden ist es nicht besser gegangen. Hier habe ich eine Zeichnung angeklickt: So sah es damals auf unseren Straßen aus. Manchmal konnten die Flüchtlinge nicht weiter trecken, weil das Militär mit seinen schweren Fahrzeugen den Vorrang hatte und die Straßen blockierte! Wenn die schweren Kettenfahrzeuge mit einem riesigen Getöse ankamen, mussten die Fuhrwerke ausweichen. Die Flüchtlinge gerieten mit ihren Pferden oft in Panik, mussten von ihren Wagen springen, um die Pferde im Zaum zu halten.«

    Jon: »Das kann ich mir gut vorstellen. Hast du noch mehr Bilder aus der Zeit?«

    »Ja, in dieser Datei sind noch Bilder vom Großangriff auf Potsdam. Dazu gibt es auch einen Bericht, den du dir durchlesen solltest, um die Bilder besser zu verstehen. Hier hast du den nächsten Hefter!«

    Großangriff auf Potsdam

    Heute schreiben wir Sonnabend, den 14. April 1945. Um 21.45 Uhr verkünden die ersten Sirenen im Großraum Potsdam »L 30«. Jeder in Berlin und Potsdam sowie in der Umgebung kennt diese Vorwarnung und weiß, dass in 30 Minuten das Alarmsignal, das Mark und Bein durchdringende auf- und abschwellende Sirenengeheul, erfolgen wird. Diese 30-minütige Vorlaufzeit soll jedermann nutzen, um seine Habseligkeiten zusammenzupacken und sich in die ausgewiesenen Bunker, Luftschutzräume, Luftschutzkeller etc. zu begeben.

    Das wird aber in diesen Apriltagen nicht mehr so ernst genommen, denn in Werder a. d. Havel sowie in den umliegenden Dörfern und Dörfchen

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