Gefangen im Panoptikum: Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart
By Philipp Blom
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About this ebook
Aus der Reihe "Unruhe bewahren" in Kooperation mit der Akademie Graz und DIE PRESSE
Wir leben mitten in einer Krise der Aufklärung: Rationalität, Universalismus, Menschenrechte und Demokratie werden zunehmend in Frage gestellt. Um diese Entwicklung zu verstehen, greift Blom auf die großen Debatten der Aufklärung zurück. Denker wie Hobbes, Voltaire, Rousseau, Diderot, Kant und Bentham werden befragt, um einen Blick in unsere Zukunft zu werfen. Ihre Perspektiven auf die Gesellschaft nehmen unsere Kontroversen vorweg, ihre Argumente beschreiben Utopien, die unsere heutige Realität prägen. Vom Neoliberalismus und dem Kollaps der Linken bis hin zu identitären Argumenten, von der Überwachungsgesellschaft bis zur Naivität der Wohlmeinenden und dem Zynismus der Privilegierten – alles wird hier bereits kritisch verhandelt.
Philipp Blom
Philipp Blom, geboren 1970 in Hamburg, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Zu den bekanntesten Büchern des vielfach ausgezeichneten Bestseller-Autors zählen Der taumelnde Kontinent, Die zerrissenen Jahre, Die Welt aus den Angeln, Was auf dem Spiel steht sowie zuletzt Die Unterwerfung. Neben seinen historischen und literarischen Werken ist Philipp Blom journalistisch tätig, moderiert die Sendung Punkt Eins auf dem österreichischen Kultursender Ö1, macht Filme wie die mehrfach preisgekrönte Dokumentarserie Der taumelnde Kontinent und kuratiert Ausstellungen in Europa und den USA.
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Book preview
Gefangen im Panoptikum - Philipp Blom
André
I
Die Architektur der Träume
Manchmal muss man weit reisen, um sich selbst besser zu verstehen. Machen wir also eine Reise nach Kuba. Aber nicht nach Havanna, zu der Romantik alter Paläste, automobiler Fossilien und unter der Hand verkaufter Zigarren. Wir fahren weiter, zu einer kleinen Insel mit dem schönen Namen Isla de la Juventud. Dort, auf einem flachen Areal nahe dem Städtchen Nueva Gerona (Bevölkerung: 59 000), stehen fünf riesige, runde Gebäude in der Landschaft und verfallen langsam in der tropischen Hitze. Dies ist das Presidio Modelo, das Modellgefängnis, fertiggestellt 1928 unter dem zunächst durchaus fortschrittlichen Präsidenten und späteren brutalen Diktator General Gerardo Machado.
Der Zahn der Zeit und das Klima haben den Gebäuden des 1967 geschlossenen Gefängnisses arg zugesetzt. Die Außenmauern sind von Feuchtigkeit durchzogen, die Dächer brechen langsam ein, die Gebäude verrotten in der feucht-heißen Witterung der Insel, die noch vor zwei Jahrhunderten hauptsächlich von Sklaven bevölkert war.
Kuba – das war schon immer die Geschichte des Kampfes zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen Revolution und Reaktion. Auch Fidel Castro und mehrere seiner Mitstreiter waren Insassen des Presidio Modelo, bevor sie 1955 im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurden. Vier Jahre später, nach einem erbitterten Guerillakrieg, regierte Castro den Inselstaat.
Das Presidio Modelo war kein Gefängnis wie jedes andere. Es ist eine Stein gewordene Utopie. Die Zellen sind entlang der Außenwände angeordnet, in einem gigantischen, fünf Stockwerke hohen Kreis. Zum Zentrum hin haben die Zellen Gitter statt Wände. Von dem nur über einen unterirdischen Gang erreichbaren Wachturm aus, der sich in der Mitte des Kreises wie ein Leuchtfeuer erhebt, lässt sich jede Zelle jederzeit einsehen. Jeder Gefangene soll wissen und fühlen, dass er ständig unter Beobachtung ist. Unfreiwillig in der Obhut des Staates, hat er keine Geheimnisse mehr.
Sowohl das Gefängnis als auch die Revolutionäre, die darin eingesperrt waren, waren auf unterschiedliche Weise direkte Erben der Aufklärung, der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, auf die Macht der Vernunft, die Formbarkeit des Menschen. Vom modernen Kuba führt ein direkter Weg ins vorrevolutionäre Paris und in den Nebel Londons zu Ende des 18. Jahrhunderts. Der Vater des runden, totale Transparenz versprechenden Zuchthauses lebte hier. Sein Name war Jeremy Bentham, und man kann ihn noch heute besuchen – aber dazu später.
Bentham war Zeitgenossen zufolge ein seltsamer und eigenbrötlerischer Mensch. Er wurde 1748 als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren und entdeckte schon früh Bücher als seine engsten Vertrauten. Der einzige Mensch, der ihm wirklich nahestand, war sein neun Jahre jüngerer Bruder Samuel. Fünf weitere Geschwister hatten die frühen Kinderjahre nicht überlebt, Benthams Mutter starb, als der Junge zehn Jahre alt war. Kein Wunder, dass das kränkliche Kind sich panisch vor Geistern fürchtete und mit seinen Büchern zurückzog.
1 Innenansicht des Presidio Modelo, Isla de la Juventud, Kuba
Als intellektuelles Wunderkind gefeiert, studierte er schon mit zwölf Jahren am Oxforder Queen’s College Jura, beschrieb diese Zeit aber als einsam und eintönig. Seine Mitstudenten (von denen einige nicht wesentlich älter waren als der hochbegabte Jeremy) langweilten ihn und er verachtete ihren Standesdünkel. Nur seine Studien waren ihm wichtig, aber eine Karriere als Anwalt oder Richter interessierte ihn nicht. Seine ganze Leidenschaft galt der Rechtsphilosophie und der Systematisierung des juristischen Denkens. Er bewunderte Aufklärer wie David Hume, Cesare Beccaria und Claude Helvétius, die das Denken auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen wollten.
Nach seinen Studien zog sich Bentham, der über ein mehr als komfortables Einkommen aus Investitionen verfügte, ins Privatleben zurück. Bis ins hohe Alter vermied er größere Gruppen von Menschen. Der Schriftsteller William Hazlitt beschrieb den Philosophen: »In seinen allgemeinen Angewohnheiten und allem, was nicht seinen Beruf betrifft, ist er ein bloßes Kind. Er hat die letzten vierzig Jahre in einem Haus in Westminster gelebt, mit Blick über den Park, wie ein Einsiedler in seiner Zelle, hat das Gesetz zu einem System reduziert und den Geist des Menschen zur Maschine. Er geht kaum jemals aus und hat nur wenig Gesellschaft. Die wenigen Glücklichen, die das Privileg haben, bei ihm empfangen zu werden, werden nur einzeln zugelassen… Er spricht viel und hört nur zu, wenn ihm Fakten mitgeteilt werden.«¹
Benthams eigensinniger und einsamer Charakter hat einige Historiker vermuten lassen, er habe am Asperger-Syndrom gelitten, einer Art von Autismus. Tatsächlich wirft diese Annahme nicht nur ein interessantes Licht auf sein persönliches Leben, sondern auch auf seine Philosophie. Bentham ist der Begründer des Utilitarismus: Gut ist, was nützlich ist, das Ziel allen Handelns ist »the greatest happiness of the greatest number« – eine Formulierung, die er von Beccaria übernommen hat. Sein Ziel war es, Welt und Menschen lesbar zu machen und nach rationalen Kriterien und mit objektiven Zielen zu verbessern. John Stuart Mill, dessen Vater James eng mit Bentham zusammenarbeitete, schrieb später über seine Philosophie: »Sie kann die Möglichkeiten darstellen, die bloß geschäftlichen Aspekte sozialer Zusammenhänge zu organisieren und zu regeln… Er machte den Fehler zu meinen, dass der geschäftliche Teil der menschlichen Angelegenheiten das Ganze sei.«²
Vielleicht war es dieser Fehler, der Bentham auf die Idee für sein ehrgeizigstes Projekt brachte, das er über Jahre mit größter Verbissenheit verfolgen sollte. Diese Idee kam ihm in Kritschew in Weißrussland, wo er 1787 seinen Bruder Samuel besuchte, der dort ausgerechnet für Fürst Potemkin arbeitete, den berühmten Günstling der Zarin Katharina der Großen und Erfinder der Potemkinschen Dörfer. Die Dörfer, die nur aus Kulissen bestanden, durch die der Fürst seine Zarin mit dem Schlitten fahren konnte, um Fortschritt vorzutäuschen, sind so wahrscheinlich nie gebaut worden. Aber, si non è vero è ben trovato. Irgendjemand musste diese Geschichte erfinden.
Vielleicht waren es die reformerischen Ideen, die in Russland gerade Mode waren und für die Potemkin sich so energisch einsetzte, sowie der Einfluss der französischen Aufklärer am Zarenhof, vielleicht war es auch die Langeweile fern der Heimat, die Bentham dazu nötigte, sich mit einer neuen Idee zu beschäftigen. Jedenfalls glaubte er bald, auf eine geniale Eingebung gestoßen zu sein, eine einfache und sichere Methode, allen möglichen Missständen in der Gesellschaft nicht nur zu begegnen, sondern sie völlig zu beseitigen: »Die Sitte reformiert – der Gesundheit einen Dienst erwiesen – das Gewerbe gestärkt – die Methoden der Unterweisung verbessert – die öffentlichen Ausgaben gesenkt – die Wirtschaft gleichsam auf ein festes Fundament