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Karlchen oder Die Tücken der Tugend: Roman
Karlchen oder Die Tücken der Tugend: Roman
Karlchen oder Die Tücken der Tugend: Roman
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Karlchen oder Die Tücken der Tugend: Roman

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Karl Kunde, genannt Karlchen, 26 Jahre alt, kann nicht lügen. Karlchen sagt stets die Wahrheit und sorgt somit für Verwirrung und Missverständnisse seitens seiner Umwelt. Noch etwas kann Karlchen gut: Auto fahren; er hat Glück und erhält eine Anstellung als Taxifahrer. Auf seinen Wegen durch die Stadt trifft Karlchen Freunde wieder, besucht seinen alten Stammtisch und geht kurze Beziehungen mit Frauen ein.

Heinz Liepman erzählt mittels seines Antihelden Karlchen von einer Welt, in der die Anpassung nur durch die Lüge zu erreichen und die einfache Wahrheit zum Scheitern verurteilt ist. Der Roman ist eine Satire auf die zeitgenössische Gesellschaft, geprägt von einer tiefen Menschenliebe des Autors. In einem kurzen Beitrag für den Tagesspiegel bemerkte Liepman 1964: "Warum ich das Buch geschrieben habe? Weil ich Karlchen so gut kenne, und weil ich seit 5 Jahren so oft an ihn denken muss. Besuchszeit ist jeden ersten Dienstag im Monat, von 2 bis 4 Uhr nachmittags." Der Roman erschien erstmals 1964 und war Liepmans letztes Werk.
LanguageDeutsch
PublisherMilena Verlag
Release dateMar 8, 2017
ISBN9783903184008
Karlchen oder Die Tücken der Tugend: Roman

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    Karlchen oder Die Tücken der Tugend - Heinz Liepman

    23

    1

    Dr. Freundlich, der Abteilungsarzt, kam in den Wachsaal und lächelte. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Karlchen zu. Das alltägliche Ritual begann.

    »Wie geht’s uns heute, Karlchen?«

    »Danke, mir geht es gut, Herr Doktor.«

    »Gut geschlafen?«

    »Danke, ja.«

    »Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«

    »Danke, nein, Herr Doktor.«

    Dr. Freundlich setzte sich auf das Fußende von Karlchens Bett. »Was ist los, Karlchen?«

    »Nichts Besonderes, Herr Doktor …«, und noch bevor er den Mund geschlossen hatte, sah er den lauernden Blick. Dr. Freundlich merkte alles.

    »An was haben wir jetzt gedacht, Karlchen?«

    Karlchen zögerte. »Ja …«, sagte er.

    »An was?«

    »Ich werde ausbrechen, habe ich gedacht, Herr Doktor.«

    »Ausbrechen?«

    »Ausbrechen.«

    »Ja, warum, um Himmels willen? Gefällt es uns nicht bei uns? Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«

    »Danke, nein, Herr Doktor.«

    Dr. Freundlich zögerte, kniff die Augen zusammen und visierte Karlchens Gesicht, die verwaschenen hellen Augen, die stoppligen Kinderwangen, die kleinen Pickel und Runzeln, den ahnungslosen Mund. Er suchte in seinen Schubladen nach einer Frage, die Karlchens unerwartete Antwort einordnen und registrieren könnte; schließlich fragte er: »Verdauung in Ordnung?«

    »Ja, Herr Doktor, danke.«

    »Und nichts geträumt?«

    »Das übliche, Herr Doktor.«

    Dr. Freundlich legte seine Hand auf Karlchens. »Nun wollen wir mal vernünftig miteinander reden, wir zwei. Wir sind doch ein intelligenter Bursche – und dann reden wir so dumm. Hier kann man nicht ausbrechen, das wissen wir doch. Und warum sollten wir? In ein paar Wochen werden wir entlassen …«

    »Das sagen Sie mir seit drei Monaten, Herr Doktor. Sie hatten mir gesagt im Mai. Und jetzt ist Juni.«

    »Wir müssen noch ein paar Wochen Geduld haben, Karlchen. Ich kann Sie noch nicht entlassen. Wir sind gefährdet.«

    »Wer gefährdet mich denn, Herr Doktor? Mir tut doch keiner was. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: ich habe doch was Besonderes geträumt. Von der Chausseestraße.«

    »Chausseestraße? Was ist denn das?«

    »Eine Straße.«

    »Das verstehe ich. Was haben wir geträumt?«

    »Ich ging durch die Chausseestraße. Ich kam an einem Blumengeschäft vorbei. Es war ein heißer Tag. Es roch nach Staub und nach Schweiß. Die Straßenbahnen klingelten, und da waren viele Leute. Der Blumenladen sah kühl aus, mit gelben Rosen für Beerdigungen und Nelken für die Damen zum Anstecken, weiße. Ich sehe mir Blumen gern an; ich blieb stehen, Blumen widersprechen einem nicht, sie fressen einen nicht, sie tun einem nichts, sie riechen wie so ein Mädchen, noch nicht ganz fertig zu gebrauchen, aber bald. Da saß an der Registrierkasse eine junge Dame in einem rosaroten Pullover. Nylon-Fältchen unter den Kniekehlen. Passiert ist nichts weiter in dem Traum. Ich wachte auf, und da dachte ich, jetzt muß ich weg aus der Anstalt. – Wollen Sie mich nicht vielleicht doch entlassen, Herr Doktor?«

    »Geht doch noch nicht, Karlchen. Hier sind wir sicher, aber draußen, da sind wir gefährdet.«

    »Draußen, wer sollte mir da was tun? Ich tu doch keinem was …«

    »Das können wir nicht so übersehen, Karlchen. Das weiß ich besser. Draußen sind wir gefährdet, und zwar darum, weil wir für uns selbst gefährlich sind und darum auch für die anderen. Wir kennen doch unsere Erlebnisse, Karlchen, wir zwei – Sie und ich.«

    Karlchen wurde bockig. »Das war damals doch nur, weil ich keinen Vater hatte. Jetzt bin ich erwachsen. Wenn Sie mich nicht entlassen, Herr Doktor, dann büxe ich aus, ruck-zuck. Wenn Sie mich nicht entlassen, wo Sie es versprochen haben, für Mai, und jetzt ist Juni, dann hau ich ab, dann hält mich keiner mehr hier.«

    Die Ärzte argumentieren nie mit den Patienten. Dr. Freundlich war noch bei Karlchens Traum. Es sollte ihm etwas dazu einfallen, aber es fiel ihm nichts ein.

    »Gut, gut, Karlchen«, sagte Dr. Freundlich zerstreut, unentwegt lächelnd, »darüber sprechen wir noch, wenn es soweit ist. Interessanter Traum, der mit dem Blumengeschäft. Wird uns sicher weiterhelfen. Träumen, Karlchen, das bringt uns weiter.«

    Aber als Karlchen dann soweit war mit dem Ausbrechen, Montag nacht, da war Dr. Freundlich nicht da. Er, der immer alles wußte, hatte nicht gemerkt, daß es Karlchen ernst gewesen war. Er konnte nicht noch mal mit Karlchen darüber reden.

    Es war spät geworden, nach elf, es ging ja nicht früher. Nun ist Karlchen im Park, die Bäume rauschen, fern tutet es vom Hafen. Vielleicht haben sie es gemerkt, daß ich weg bin, und nun warten sie irgendwo auf mich im Dunkeln. Es ist eine gute Nacht, sanft und still, es riecht nach Regen, und über der ganzen Stadt hängt der Himmel hoch, schimmernd, unbeteiligt. Niemand ist hier, niemand wartet auf mich. Der Himmel, der verrät mich nicht, der verrät niemanden außer denen, die sich auf ihn verlassen, und die sind selbst schuld. Laß den Himmel in Ruh, und er läßt dich in Ruh …

    Bisher war es verhältnismäßig einfach, alles ging wie von selbst. Schwierig war es nur gewesen, die Kleider zu bekommen.

    Nachmittags um fünf, wenn die Patienten des Wachsaals von ihrem Spaziergang durch den Park zurückkommen – zwei Pfleger vorn, zwei Pfleger hinterher –, dann müssen sie ihre Kleider abgeben. Die Pfleger schieben die fahrbaren Garderobenständer in den Saal. Die Patienten ziehen sich aus, hängen ihre Anzüge und ihre Unterwäsche auf die Bügel und die Bügel an den Garderobenständer. Sie ziehen die kurzen, hinten geschlitzten Krankenhausnachthemden über – das begreifen sie alle, die stumpfen und auch die erregten und alle in der Wolke ihres kranken Männergeruchs, und dann rollen die Pfleger die Garderobenständer aus dem Saal, hinter die verschlossene Abteilungstür, in den Korridor, und da stehen sie dann den ganzen Abend und die Nacht und flüstern und stinken.

    An diesem Montagnachmittag hatte Karlchen sich blitzschnell als erster ausgezogen, er hatte seine Sachen schon über den Bügel und an den Ständer gehängt, als die anderen gerade anfingen, sich auszukleiden. Als dann die Männer, die Nachthemden über den mageren, haarigen Beinen, sich um ihn drängten und schoben, und die beiden Wärter an der anderen Seite des Wachsaals miteinander plauderten, da hatte er seinen Bügel ruhig, ohne Hast, wieder heruntergenommen vom Ständer und die Kleider unter die Decke seines Bettes gesteckt. Keiner der Pfleger sah ihn, und falls einer der Patienten ihn bemerkte, so verstand er nicht, was Karlchen da tat, oder falls er es verstand, dann sagte er nichts. Wenn man nicht muß, dann redet man nicht ungefragt im Wachsaal.

    Um neun Uhr abends, als die Männer schon eine halbe Stunde in ihren Betten lagen, stumpf, ausgeronnen alle Gedanken und Gefühle – entweder weil sie so waren oder weil man ihnen Spritzen, Pillen, Zäpfchen, Pulver, Einläufe, Tropfen gegeben hatte, damit sie über Nacht so seien –, um neun Uhr, da werden die Tagespfleger abgelöst und der Nachtmann kommt, Herr Brause, ein schwerfälliger Schrank von einem Mann, der seit hundert Jahren Nachtdienst macht und der an alles, was da passieren kann, gewöhnt ist. Schon um zehn sitzt er da, schlafend mit schweren Augenlidern, auf seinem Stuhl neben der Nachtlampe. Er erwacht auf die Minute genau jede Stunde, wenn er die Kontrolluhr stechen muß, und dann schläft er sofort weiter. Und von jedem ungewohnten Geräusch, das nicht in den Wachsaal gehört, und sei es auch noch so leise, erwacht er.

    Karlchen hockt auf dem Linoleumboden, dem schmalen Raum zwischen seinem Bett und dem des Nachbarn, in dem dunklen Tümpel, in den das Licht der Nachtlampe nicht fällt, und da kleidet er sich an. Ihm ist gut zumute, obwohl sein Herz hart klopft; endlich ist es soweit, und er ist so ausgekocht. Er versteht es, seine Bewegungen und ein gelegentliches Rascheln einzuordnen in die kleinen Geräusche des Saales: das Atmen und das Röcheln, das Schnauben und das Schnarchen und das sich ruhelos Umherwälzen. Dann auf den Socken hinter das dritte Bett von seinem, wo die Toilette ist – ohne Tür natürlich und ohne Kette, damit nichts passiert, keiner sich aufhängt oder sich die Pulsadern durchschneidet. Für die Spülung gibt es einen blanken Knopf; er drückt den Knopf, das Wasser rauscht gleichmütig, und da das gelegentliche Rauschen der Spülung zum Wachsaal gehört, zum Atmen und Schnarchen und Umherwälzen, so wacht Herr Brause davon nicht auf und auch sonst keiner. Noch während das Wasser rauscht, ist Karlchen zurückgehuscht zu seinem Bett, er hebt das Kopfende ein wenig an und nimmt den Drücker, den Vierkantschlüssel, aus dem hohlen Metallbein des Bettes.

    Wie er – am Vormittag – zu diesem Schlüssel, der alle Türen öffnet, gekommen ist, das war ein Zufall, ein günstiger Zufall gewesen, den er genützt hatte. Aber da Karlchen nicht an Zufälle glaubte, so bedeutete der gelungene Diebstahl des Drückers für ihn das Signal der Vorsehung. Das Signal: Karlchen, es ist soweit.

    Es war morgens, kurz nach elf. Dr. Freundlich kam eiligen Schrittes in den Wachsaal und gleich auf ihn zu. Karlchen erschrak, er wollte nicht mit Dr. Freundlich sprechen; der merkte immer alles, sogar wenn man es selbst noch gar nicht wußte, und vielleicht würde er merken, daß es Karlchen ernst war mit dem Durchgehen und würde ihn in eine der hinteren Abteilungen verlegen, mit den Zellen, die immer abgeschlossen waren. Karlchen mochte überhaupt nicht gern mit Dr. Freundlich sprechen, der wußte immer alles besser; er wußte wirklich alles besser, er behielt immer Recht, und das wurmte Karlchen.

    Aber an diesem Morgen stellte es sich heraus, daß der Arzt sich gar nicht unterhalten wollte. Vielleicht dachte er an etwas. Auch Irrenärzte, dachte Karlchen, Leute, die man sich nur im weißen Kittel, nur beruflich vorstellen kann, haben vielleicht eine Art Privatleben, das sie gelegentlich beschäftigt. Dr. Freundlich lächelte etwas knapper als gewöhnlich und sagte nur, er wolle jetzt wieder die körperliche Untersuchung vornehmen, sie sei wieder mal fällig.

    »Das Hemd aus, Karlchen«, sagte er, »und aufrecht im Bett sitzen.« Er begann Karlchen die Brust abzuklopfen. »Tief einatmen, Karlchen, und nun ausatmen …«, und da hatte Karlchen auf gut Glück, und weil er das immer tat, schon die Taschen des weißen Mantels durchsucht, den Dr. Freundlich trug, und den Vierkantschlüssel gefunden.

    (Weißer Mantel und so ein Drücker, der die verschlossenen Türen öffnet, dachte Karlchen, während der Arzt ihm nun den Rücken abklopfte, und er den Schlüssel in seiner rechten Hand hielt, die gehören zur Berufskleidung des Irrenarztes wie der Frack und die Peitsche zum Dompteur, wie die Schürze und der Kochlöffel zum Koch! Wie die Reizwäsche zur Nutte.)

    Karlchen mußte lachen.

    »Was ist denn so komisch, Karlchen? Tief einatmen sollen wir und wenn ich sage: Aus, dann ausatmen. Aus …« und Karlchen verkniff sich das Lachen und atmete tief aus. Er dachte nun an den Schlüssel, den er in der Hand hielt. Das ist das Signal, dachte er, jetzt ist es soweit, heute nacht hau ich ab.

    Dr. Freundlich klopfte ihm auf die Schulter. »Tadellos, Karlchen, das Herz und die Lungen, bis auf ein kleines Geräusch, wir rauchen wohl zuviel, muß mal darauf achten. Und jeden Tag ganz regelmäßig an den Spaziergängen im Park teilnehmen. Frische Luft, Karlchen.«

    »Jawohl, Herr Doktor«, sagte Karlchen höflich, »ich hab gerade an frische Luft gedacht.«

    Dr. Freundlich ging ein paar Betten weiter und beschäftigte sich mit einem anderen Patienten. Karlchen ließ sein Taschentuch fallen, sprang, nackt wie er war, aus dem Bett, zog das Nachthemd an und tat, als suche er das Taschentuch, das vor ihm lag. Er bückte sich tief, kroch unter das Bett und suchte überall nach dem Taschentuch. Niemand achtete auf ihn. Er hob das Kopfende des Bettes etwas an, der Vierkantschlüssel, hoch gestellt, paßte genau in das hohle Metallbein.

    Eine halbe Stunde später, kurz vor Mittag, war Dr. Freundlich mit seinen Untersuchungen fertig und wollte den Wachsaal verlassen. Als er die Tür in den Korridor aufschließen wollte, vermißte er den Drücker. Er suchte in allen Taschen, auch in den privaten, aber er fand ihn nicht. Er schüttelte den Kopf; zum ersten Mal, seitdem Karlchen ihn kannte, lächelte er nicht und sah ganz verändert aus ohne Lächeln, grau und privat, beinahe wie ein Patient. Es gab einen Alarm, ein halbes Dutzend Pfleger schwärmte in den Saal. Alle Patienten, bis auf die mit den Schlafkuren, mußten aus ihren Betten und sich in ihren kurzen Nachthemden an der hellen, leeren Wand aufstellen, den Rücken zur Wand. Alles wurde durchsucht, mit altgewohnter Routine, die Patienten zuerst, auch die schwankenden, die sich von ihren Sedativen noch nicht erholt hatten, und die Betten. Sonst war im Wachsaal kaum etwas zu durchsuchen, höchstens noch die Heizungskörper, ein Kalender an der Wand, einige Nachttischchen mit zwei Blumenvasen, die eine leer, die andere dick voll mit etwas Grünem, und der Tisch des Abteilungspflegers. Aber der Schlüssel wurde nicht gefunden. Schließlich durften die Männer zurück in ihre Betten, und dann kam auch schon der Wagen mit dem Mittagessen. »Vielleicht habe ich den Drücker im Büro gelassen«, sagte Dr. Freundlich, der spürte, daß alle ihm schweigend Vorwürfe machten, die Patienten und auch die Pfleger, »vielleicht hat einer der Pfleger mir die Tür aufgeschlossen, als ich kam, ich habe nicht darauf geachtet, ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, ich habe allerlei im Kopf heute morgen …« Er war etwas kleinlaut, soweit er das sein konnte, aber schon lächelte er wieder.

    Und nun in der Nacht, während das Wasser in der Toilette versickerte, holte Karlchen den Drücker aus dem hohlen Metallbein des Bettes. Dann nahm er seine Schuhe auf, die unter dem Bett standen. Unter den Einlagesohlen fühlte er die beiden Zwanzig-Mark-Scheine, die er dort versteckt hatte, als sie damals, am frühen Morgen, an die Zimmertür klopften, um ihn abzuholen und in die Anstalt zu bringen. Bei der Aufnahme hatte er auf die Frage: »Wertsachen?« nur seine Armbanduhr abgegeben, nach Geld fragten sie nicht, und so sagte er nichts. Er ärgerte sich jetzt über die Uhr, die Uhr war verloren, aber was hätte er machen sollen, damals?

    Die Schuhe in der Hand bewegte er sich lautlos an der Wand entlang, von Schatten zu Schatten. Ein Mann, an dessen Bett er vorbeikam, hob den Kopf und grinste ihn an.

    An der Tür, die vom Wachsaal ins ärztliche Untersuchungszimmer führte, stellte Karlchen die Schuhe auf den Boden. Von dem Nachtpfleger, Herrn Brause, und seiner Lampe war er durch die ganze Länge des Wachsaals getrennt. Dies war nun der Abschied. Karlchen betrachtete noch einmal den dunklen, atmenden Raum, so wie er des Nachts aussieht. Die weißgetünchte Decke zuerst, niedrig, fleckig und solid. Diese Decke, die Ewigkeit, das ist die Heimat. Sein Blick glitt über die offenen Münder hinweg, mit dem fauligen Geruch, die da Nacht für Nacht hinaufatmen, und er sah die leeren Augen, die da stets hinaufstarren. Ihm kam der Gedanke: So mag für manche das Grauen aussehen – aber für manche, für die ist es das Zuhause. Nicht nur für die Patienten, die zählen ja nicht; aber das Zuhause auch für die Pfleger und für manche der alten Ärzte. Sie werden alt und grau in diesem Wachsaal und merken es nicht; und für sie ist er so alltäglich wie kahle Bäume im Herbst oder wie das Kartoffelschälen für die alten Frauen.

    Karlchen blieb eine Zeitlang stehen und sah dem Saal zu. Er hatte es nicht eilig. Denn es war der Abschied von einer der Heimaten, an die er sich hatte gewöhnen müssen und an die er sich genauso gewöhnt hatte wie an all die anderen. Karlchen dachte beinahe ein wenig traurig: Sie haben wenigstens für mich gesorgt. Essen und Zigaretten und das Bett. Nun muß ich wieder ins Leben. Er seufzte. Er wandte sich zu der Tür und suchte mit den Fingerspitzen das Schloß. Lautlos bohrte er den Vierkantschlüssel in das Schloß, drehte ganz langsam, öffnete die Tür.

    Vor ihm Finsternis. Er hob die Schuhe auf und fühlte sich hinein in das Dunkel. Dann, unhörbar, die Schuhe auf dem Boden, richtete er sich auf, schloß die Tür hinter sich, langsam, sehr geduldig, mit beiden Händen und dem Drücker im Schloß.

    Er wartete eine halbe Minute, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nun war es schon nicht mehr so dunkel, vom Fenster her ein Schimmer von Helligkeit. Er zog die Schuhe an. Vorsichtig tastete er sich zum Fenster.

    Die Erinnerung hatte ihn nicht betrogen.

    Vor den unzerbrechlichen Fenstern des Wachsaals stehen solide Zuchthausgitter, aber die ärztlichen Untersuchungszimmer, die sind für zivilisierte Gespräche, für wohlwollende Ärzte und für Patienten, die sich zusammennehmen, weil sie die Prüfung bestehen möchten, und nach Hause. In den ärztlichen Untersuchungszimmern, da lassen sich die Fenster öffnen wie in normalen Wohnhäusern, und davor sind nur ein paar anmutige Schnörkel aus dünnem Eisen. Mit denen wird man fertig.

    Karlchen öffnete das Fenster, dann holte er die Fußbank, die unter dem Untersuchungstisch stand, und stemmte sie gegen die Schnörkel. Sie ließen sich auseinanderbiegen. Er stieg auf die Fensterbank und zwängte sich durch die verbogenen Schnörkel. Er hielt sich an ihnen fest.

    Er blickte hinunter. Es war nur ein Stockwerk hoch. Er sah undeutlich die Bäume, die Äste und Büsche und die Schatten. Die Spitzen der Büsche und Äste schwankten ein wenig, als ob sie im Nachtwind ungestört miteinander sprächen, etwas Ernsthaftes und Heimliches.

    Plötzlich dachte er: da unten stehen sie im Dunkel, lautlos, und warten auf dich. Sie wissen doch immer alles. Sie wissen längst, daß ich hier stehe. Es hat keinen Zweck, Karlchen. Gib auf, Karlchen. Geh zurück, Karlchen, melde dich bei Herrn Brause, er soll dir was zum Schlafen geben. Du weißt doch, daß du es nicht kannst, dieses Leben.

    Und da ließ er los. Im Fallen drehte er sich um, ließ sich rückwärts fallen, in die Büsche hinein und die Sträucher. Die schnappten nach ihm, fingen ihn, kratzten, bogen sich – dann fiel er langsamer weiter, in das Gestrüpp und rutschte sanft bis auf den Boden. Er blieb liegen; nichts verletzt, nichts weh getan, kein Laut als sein eigenes Atmen. Sollen sie kommen, dachte er, ich rühre mich nicht.

    Eine Glocke begann zu schlagen, unerwartet und darum erschreckend laut und dumpf und nah, als liege er unmittelbar neben dem vibrierenden Ton. Zweimal schlug es, und dann summte es noch eine Zeitlang weiter. Halb zwölf. Dann kam langsam die Stille zurück und das Dunkel und der Geruch der Erde.

    Sie wissen eben doch nichts, dachte er. Sie spielen uns nur vor, als wüßten sie alles, und wir, wir glauben ihnen. Ich gefährlich? Ist ja gar nicht wahr. Sie schlafen, die Dummköpfe, die ewig böse lächelnden. Sie haben keine Ahnung. Es ist halb zwölf, noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Dann wird es Dienstag sein.

    Dienstag, der 16. Juni.

    Das ist mein Tag.

    Karlchen erhebt sich, bürstet sich mit den Händen ab. Ich kann gehen, wohin ich will.

    Zum Beispiel zur Chausseestraße.

    Oder zum Weinhaus zur Traube. Nein, das geht nicht, Stammtisch ist Dienstag abend, und ich nicht rasiert und ohne Schlips. Besser zur Chausseestraße, da schlafen sie jetzt, und ich kann sie mir ansehen, ganz für mich, und ohne daß sie mich.

    Auf jeden Fall: erst mal raus. Tief einatmen die Luft, die mir gehört. Es ist Juni. Jetzt fängt das Leben wieder an. Mein Leben. Meine Nacht.

    Karlchens Herz schlägt schneller, wenn er daran denkt. Alles Leben, das ich erwischen kann, das will ich.

    Zum Beispiel (denkt er): Mit dem eigenen Taxi durch die Einbahnstraßen, und alle Lichter wechseln auf grün …

    Ein Eisberg. Das Schiff neigt sich schief, schräg, es sinkt, es gurgelt. Ich stehe aufrecht, kommandiere ruhig: Frauen und Kinder erst, und die Boote stoßen ab; ich bleibe zurück, sie winken mir zu …

    In meinem Schrebergarten, ich grabe, schwitze naß. Der Hund blickt

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