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Kampf der Klassenmedizin: Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen
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Ebook196 pages2 hours

Kampf der Klassenmedizin: Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen

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Wer heute krank wird, hat es in vielerlei Hinsicht schwer: Die Wartezeiten sind lang, die ökonomischen Vorgaben seitens der Kassen und der Politik wahnwitzig, die Bürokratie überbordend. Krankenhäuser werden heute als Unternehmen geführt, was keinen Gewinn bringt, kaum noch angeboten.

Das Wohl des Patienten gerät zusehends aus dem Blickfeld, eine Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe ist im Patientenalltag eine seltene Ausnahme – denn dafür wird kein Arzt bezahlt.

Gernot Rainer kämpft für eine Kehrtwende in der Medizin: Ein Patient ist keine bloße Nummer, sondern ein Mensch, dem man zuhören muss, der ernstgenommen sein will. Als Insider weiß Rainer um die Schwächen unseres Systems und warnt davor, es Bürokraten und Politikern zu überlassen. Er plädiert für eine Medizin, die den Mensch wieder in den Mittelpunkt stellt – in jeder Beziehung.
LanguageDeutsch
Release dateMar 10, 2017
ISBN9783710600678
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    Kampf der Klassenmedizin - Gernot Rainer

    stellen.

    1DAS SYSTEM IST BEDROHT

    Wir nehmen sie meist als selbstverständlich hin – unsere Gesundheit. Ähnlich ist es mit unserem Gesundheitswesen: Wenn wir gesund sind, kümmern uns das System und die dortigen Entwicklungen wenig. Wir nehmen es ebenso als selbstverständlich hin, dass es Krankenhäuser, Hausärzte und Apotheken in erreichbarer Nähe gibt. Nur selten ist das System für gesunde Menschen Thema: Manche von uns nörgeln über die scheinbar hohen Kosten der Krankenversicherungen – ohne zu wissen, dass die Beitragssätze im europäischen Vergleich nicht nur sehr niedrig, sondern seit den 80er Jahren nicht mehr erhöht worden sind. Andere wünschen sich Selbstbehalte und fordern mehr Eigenverantwortung. Meist allerdings wissen wir sehr wenig vom Gesundheitswesen und wie es funktioniert. Auch wir Ärzte kennen oft nur jenen Ausschnitt des Systems, in dem wir tätig sind.

    Wir wünschen uns gegenseitig Gesundheit zum Geburtstag und zum Jahreswechsel. Und wir wünschen uns rasch jemanden, der sich um uns kümmert, wenn unsere Gesundheit plötzlich abhandenkommt. Am Besten ist dann Tag und Nacht jemand da. Ist Gesundheit nicht mehr selbstverständlich und wir sind krank, wollen wir rasch wieder gesund werden. Dann wollen wir jemanden, der uns zuhört und uns heilt. Ob und was das kostet, ist meist Nebensache.

    Doch genau das wird sich in den kommenden Jahren ändern, wenn sich die aktuellen Entwicklungen fortsetzen: Wollen wir jemanden, der uns zuhört und heilt, werden wir künftig dafür bezahlen müssen. Es wird eben keine Selbstverständlichkeit mehr sein, dass uns alles – und noch dazu sofort – zur Verfügung steht. Im Gesundheitswesen gehen massive Veränderungen vor sich, die bereits in kürzester Zeit alles, was wir kennen, auf den Kopf stellen werden. Es lohnt sich also, einmal den Stellenwert des Systems zu betrachten: Das Gesundheitssystem ist historisch aus der Not von Menschen entstanden, die sich eine Gesundheitsversorgung nicht leisten konnten. Für Menschen, die meist an Ursachen erkrankten oder verstarben, die uns heute keinen Gedanken mehr wert sind, weil sie rasch und billig behandelt werden können.

    Es ist beispielsweise knapp 70 Jahre her, als in Wien der Film Der dritte Mann gedreht worden ist. Das zentrale Thema dabei war der Mangel an lebensnotwendigem Penicillin. Antibiotika waren überhaupt erst in der Zwischenkriegszeit entdeckt worden und boten gerade in den später kriegsgebeutelten Städten eine oft lebensnotwendige Medizin gegen Seuchen. Folglich war es damals äußerst lukrativ, das Medikament zu strecken und teuer am Schwarzmarkt zu verkaufen.

    Unser solidarisches Gesundheitswesen kann nicht zuletzt solche Entwicklungen verhindern. Es ist etwas, das wir uns als Gesellschaft leisten, und es ist nichts, was per se in irgendeiner Form auf Gewinn ausgerichtet ist. Es ist ein zentrales Element einer Solidargemeinschaft. Und das heißt, dass wir alle gemeinsam zuständig dafür sind, im Krankheitsfall jeden zu versorgen, ganz gleichgültig, was er vorher eingezahlt hat oder nicht. Die Krankenversicherungen sind nicht als Sparkasse zu verstehen, sondern als eine Solidarleistung der Gesellschaft für den Einzelnen.

    Dass wir uns grundsätzlich in Strukturen befinden, die zum Teil extrem ineffizient sind, soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden. In föderalen Staaten muss alles mit den Bundesländern und Krankenkassen multipliziert werden. Dazu kommt, dass in einem dualen System wie dem Bestehenden die Krankenkassen nur für die niedergelassene Versorgung zuständig sind und die Bundesländer und Gemeinden für die Krankenhäuser. Die Krankenkassen zahlen für diese lediglich einen gedeckelten Fixbetrag. Werden also viele Patienten in Spitälern behandelt, ist das den Kassen sogar recht – sie zahlen nur einmal in einen großen Topf. Die Länder, denen zwischenzeitlich die meisten Krankenhäuser gehören, möchten wiederum, dass möglichst viele Patienten im niedergelassenen Bereich therapiert werden. Dann fallen dafür in den Spitälern und damit für sie keine Kosten an. Abgesehen von den Fixkosten – und dafür wollen sie auch weiterhin den Fixbetrag der Krankenkassen erhalten. Für die Patienten bedeutet das allerdings, dass sie meist im Kreis geschickt werden. Die Krankenkassen wiederum haben mit den Ärzten in jedem Bundesland eigene Tarife in Leistungskatalogen ausgehandelt. Ein Ultraschall kostet also etwa in Vorarlberg weniger als in Niederösterreich. Und nicht in jedem Bundesland werden auch die gleichen Kosten von den Krankenversicherungen übernommen.

    Der Staat zieht sich in diesem Spiel der Kräfte zusehends aus seiner Verantwortung zurück. Tatsächlich reden wir hier aber über elementare gesellschaftspolitische Fragen. Der Staat ist maßgeblich zuständig und verantwortlich für Dinge wie Bildung, Gesundheit und dass die Menschen nicht auf der Straße verhungern. Doch genau diese Aufgaben sollen nun möglichst kostengünstig und effizient erledigt werden. Das klingt auf den ersten Blick gut, man wird kaum jemanden finden, der etwas dagegen hat. Das Problem dabei: Für die sogenannte öffentliche Hand scheint es neuerdings am günstigsten, wenn man mehr und mehr in die private Verantwortlichkeit verschiebt. Natürlich kann man Privatmedizin stark forcieren, das ist eine politische Willensentscheidung, die man treffen kann. Es sollte allerdings diskutiert werden, wohin das letztendlich führt. Vor allem aber auch, ob das die einzige Möglichkeit ist? Die Antwort ist: Nein. Es gibt Alternativen. Eine davon ist, den Blick vom System und den Strukturen abzuwenden und wieder hin zum Menschen, um den es in Wirklichkeit geht.

    Genau diese Intention steckt in allen Menschen, die Gesundheitsberufe ergreifen – es geht ihnen um den Menschen. Und sie leiden darunter, weil genau das immer mehr in den Hintergrund rückt. Weil das System den Menschen als Maschine sieht, den man möglichst optimiert behandeln soll. Rasche und billige Fehlerbehebung soll aus Sicht jener, die das Gesundheitswesen bezahlen und organisieren, eine wirkliche Ursachenforschung ablösen. Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt, er steht im Weg. Dieses Buch soll letztlich hier Alternativen zeigen. Denn nicht nur Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, auch alle, die damit in Berührung kommen – als Kranke, als Angehörige und Verantwortliche –, nehmen die Veränderungen mit großem Unbehagen wahr.

    Als ich begonnen habe, Medizin zu studieren, hatte das wenig damit zu tun, dass meine Eltern Ärzte waren. Eigentlich habe ich mich in Ermangelung einer besseren Idee in der damals längsten Schlange, die ich vor der Uni gefunden habe, angestellt – das war jene für das Medizinstudium. Ich dachte mir: „So viel Leute können sich nicht irren." Allerdings war das Studium zu Beginn recht enttäuschend. Es ging um die Themen, die mich nicht interessiert haben: Kolloquien über Chemie, Physik, Dinge, die mich schon in der Schule nicht sehr gefesselt haben. Interessant wurde es dann erstmals, und das war damals für die meisten Mediziner so, beim sogenannten Sezierkurs: Man erhält in einem großen, ganz stark formalingetränkten Raum eine menschliche Leiche zugeteilt. Sechs Studenten stehen am Tisch, drei jeweils an einer Seite eines Toten. Und dann wird strukturiert, nach Vorgaben der Lehrenden, Stück für Stück dieser Mensch seziert. Das ist ein Erlebnis der anderen Art, auf vielerlei Ebenen. Es ist gruselig, es ist sehr gewöhnungsbedürftig, weil nicht zuletzt dieser Formalingeruch dermaßen intensiv ist und jedes Kleidungsstück durchdringt und sich daran festsetzt. Man trägt das Erlebte also förmlich mit sich herum. Das Eigentliche dabei – nämlich ein Skalpell in die Hand zu nehmen und sich Stück für Stück letztendlich den Mechanismus Mensch anzusehen – geht Hand in Hand mit einer Vielzahl von Gefühlen und lehrt angehende Mediziner auch eine Ehrfurcht vor dem Leben und dem Wunder Mensch.

    Wirkliche Begeisterung für das Studium habe ich dann aber eigentlich in den letzten Studienabschnitten erlangt, in denen wir uns zunächst mit der Physiologie alle menschlichen Funktionen ansehen und fragen, wie der Mensch im Gesunden funktioniert. Nur aus dem lässt sich dann die sogenannte Pathologie ableiten: Wenn genau an irgendeiner Stelle dieser Regelkreise ein Fehler auftritt und wie die verschiedensten Erkrankungen entstehen. Die intellektuelle Leistung eines Arztes beginnt dann, wenn man erstmalig mit einem Patienten konfrontiert ist, der sich nicht präsentiert mit „Ich habe das, was auf Seite 284 im 2000 Seiten starken Pathologiebuch steht", sondern mit subjektiv erlebten und beschriebenen Symptomen.

    Dieser Mensch hat ein gesundheitliches Problem und wünscht sich rasch jemanden, der sich um ihn kümmert. Hier beginnt die eigentliche Arbeit eines Arztes, nämlich das Vernetzen von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Symptomen mit Erkrankungen. Richtig fasziniert hat mich Medizin in genau diesem Moment – also erst relativ spät – und dann nicht mehr losgelassen. Kranke Menschen wenden sich, wenn sie nicht gerade übertrieben skeptisch gegenüber der modernen Medizin sind, im Normalfall hilfesuchend an einen Arzt. Ab dem Moment, wo man krank ist, ist man im wahrsten Sinne des Wortes verletzlich. Man ist nicht im Besitz seiner ganzen Kräfte. Das induziert Angst. Daraus resultiert eine Ehrlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt, die man sonst im Normalfall nicht hätte. Durch den Moment, durch diese Verletzlichkeit, vor allem des Patienten, entsteht eine ganz eigene Gesprächsbasis. Und im optimalen Fall ist eben diese Ehrlichkeit und diese Gesprächsbasis schon Teil der Therapie. Dieses Öffnen und dass man weiß, was man jetzt tut, hat unmittelbare wichtige Konsequenz für den anderen.

    Die kommende Verknappung der öffentlichen Mittel und Strukturen durch die Ökonomisierung des Systems werden zu einem Wegfall einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung führen. Doch genau diese ist für einen Behandlungserfolg und für die Folgekosten extrem wichtig. Wir wissen: Je besser diese Arzt-Patienten-Beziehung ist, desto höher wird die Compliance des Patienten sein. Das heißt: Er wird dann auch das tun, was sein Arzt ihm vorschlägt. Man kann so zeitgerecht behandeln, Therapiefehler verhindern und sicherstellen, dass kranke Menschen in späterer Folge nicht noch einmal und noch teurer ins System zurückkehren. Die Grundidee der freien Arztwahl macht letztendlich das aus, was eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung darstellt. Ein Patient sucht den Arzt aus, zu dem er Vertrauen hat. Vertrauen in die Entscheidungen und Ratschläge, die der Arzt einem gibt und von denen man geneigt ist, dass man sie auch umsetzt. Mit den Strukturen, die jetzt konzipiert werden, wird das in dieser Form künftig nicht mehr möglich sein. Man wird mehr oder weniger mit einem Arzt oder einer Ärztin konfrontiert sein, die gerade Dienst haben. Die Vorinformationen beziehen sie nicht aus einer länger bestehenden Beziehung zum Patienten, sondern aus einem Datensystem. Welche Folgen das haben kann, wird in den kommenden Kapiteln noch im Detail analysiert werden.

    Zu beobachten ist derzeit ein dramatisches Zurückfahren der Spitalsstrukturen. Zugegeben, die Bettendichte und die Zahl der Standorte waren in Österreich sehr hoch. Weil alle Träger und folglich die dort Beschäftigten interessiert waren, die Strukturen auszulasten, hatte Österreich im internationalen Vergleich die höchsten Spitalsausgaben. Damit es nun bei Kürzungen und Verdichtungen nicht zu einer dramatischen Unter- oder Mangelversorgung kommt, müsste der niedergelassene Bereich hochgefahren oder so modifiziert werden, dass er die Verlagerungen und damit die kranken Menschen auffangen kann.

    Ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn das nicht richtig gemacht wird, sind die bildgebenden Verfahren. Bei MRT- und CT-Untersuchungen, die schon jetzt erhebliche Engpässe im stationären Bereich erleiden, zeigen sich die dramatischen Fehlentwicklungen. Wenn etwa in meinem Fach ein auffälliges Lungenröntgen bei einem Patienten gesichtet worden ist, braucht man zwingend eine Computertomographie, weil es sich oft um eine mögliche Lungenkrebsdiagnose handelt. Nur so kann die weitere Diagnostik und Therapie optimal durchgeführt werden. Durch die Veränderungen im Spital und das neue Arbeitszeitgesetz sind zuletzt etwa in Wien in einem Großteil der Spitäler die Nachmittagsschichten schlichtweg weggefallen. Patienten müssen also warten oder in den niedergelassenen Bereich ausweichen. Dieser kann die benötigte Menge an Untersuchungen aufgrund von finanziellen Deckelungen allerdings nicht abarbeiten. Auch wenn diese Entwicklung kurzfristig immer wieder in medialen Diskussionen erscheint, dann eine Taskforce eingerichtet wird und andere Reihungen der Patienten vorgenommen werden soll, erlebe ich immer noch dasselbe, nämlich dass dringend nötige Untersuchungen mitunter bis zu zwei Monate dauern können. Im schlimmsten aller Fälle braucht man sich die Frage dann überhaupt nicht mehr stellen, weil gerade Lungenkrebs und Unterarten des Lungenkrebses rasch tödlich verlaufen können.

    Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an ein Telefonat mit einer Patientin aus meiner Praxis, die ich vor wenigen Tagen ins Spital geschickt habe, weil sie ein sich nicht auflösendes Infiltrat nach einer Lungenentzündung im rechten Unterlappen hat, das über Monate nicht weggegangen ist. Da sollte zeitnah eine Lungenspiegelung, eine sogenannte Bronchoskopie, gemacht werden, weil sie akut wieder stark gefiebert hat. Die Patientin wird also im Krankenhaus vorstellig, der Blutbefund zeigt erhöhte Entzündungswerte, der diensthabende Arzt entscheidet richtig, sie am folgenden Morgen erneut für eine Bronchoskopie und Lungenspiegelung ins Krankenhaus zu holen. Das Ziel ist, mehr Informationen zu bekommen, um entscheiden zu können, ob und wie man interveniert, ob ein gezieltes Antibiotikum erforderlich ist oder eine immunsuppressive Therapie. Als sie dann am entscheidenden Tag ins Krankenhaus kommt – mit denselben Befunden, die am Tag davor an derselben Abteilung erhoben wurden –, wird ihr diesmal von einem

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