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Nacht über Herathis: Ein Splittermond-Roman
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Nacht über Herathis: Ein Splittermond-Roman
Ebook326 pages4 hours

Nacht über Herathis: Ein Splittermond-Roman

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About this ebook

Mord. Für ihre "Kunden" ist das üblicherweise eine einmalige Sache. Für Dorn und Pitt jedoch, zwei der erfahrensten Meuchler von Herathis, das tägliche Brot. Die Routine wird empfindlich gestört, als durch die Gilde der Langen Messer ein neuer Wind weht. Warum steigt die Zahl der Morde so sprunghaft an und welche Rolle spielen der berühmte Feenmarkt und die Magistratswahl dabei? Die beiden Schattenklingen müssen eine Wahl treffen, die sie eigentlich für längst entschieden hielten: Gold oder Moral?

Ein phantastischer Roman aus Lorakis, der Welt des dreifach mit dem deutschen Rollenspielpreis ausgezeichneten Rollenspiels Splittermond.
LanguageDeutsch
Release dateMar 16, 2017
ISBN9783867622806
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    Nacht über Herathis - Anton Weste

    Herrmann.

    Kapitel I

    Henkersmahl

    Kunsttag, 26. Saatmond 991 LZ, später Nachmittag

    Die Blüten rochen widerlich. Jeder Windhauch trieb eine weitere Flut roter Jokablätter durch das vergitterte Fensterloch in die Zelle. Die Pritsche war rot gesprenkelt, der Boden schon bedeckt. Auch auf dem Holzbrett mit der Henkersmahlzeit für den Schwarzen breiteten sich die Flocken zunehmend aus.

    Aris mochte die Hafenstadt Lamera nicht sonderlich. Zu provinziell, zu langweilig. Aber im Frühling, wenn der Jokabaum überall seinen widerlich süßen Gestank verbreitete, hasste er sie regelrecht. Wie musste es in diesen Tagen erst draußen sein, unter dem Blätterdach des Baumriesen? Wo man dem roten Dreck, den die Brise vom Elyrischen Golf überall hinwirbelte, kaum entgehen konnte?

    Der große Varg schnaubte eine Blüte fort, die sich auf seinen Nüstern niedergelassen hatte. Das reichte jetzt. Aris legte die Hühnerkeule auf den Teller, grunzte gereizt, sprang auf und schüttelte sein Fell. Rote Blütenblätter stoben in alle Richtungen. Die Ketten an seinen Tatzen und Beinen klirrten. Der Schwarze sah nur kurz herüber, dann starrte er wieder still an die Wand.

    Aris spie aus, rieb sich mit dem befellten Handrücken die Schnauze sauber und sog die Luft tief ein. Da waren sie wieder, die tiefer liegenden, hartnäckig nistenden Aromen dieses Ortes. Der Rußgeruch brennender Fackeln. Der Schweiß der schwarzen Nackthaut auf der anderen Pritsche. Die Jauche, die Aris und so viele vor ihm im alten Zellenstroh hinterlassen hatten. Die Angst der anderen wimmernden Insassen. Der Schimmel an den klammen Kerkerwänden.

    Besser. Viel besser als diese widerwärtigen Blüten.

    Seit Baron Mordaki die Stadt unterjocht hatte, war der Kerker Lameras gut gefüllt, obwohl kaum jemand lange Zeit hier verbrachte. Der Tyrann witterte überall Bedrohungen für seine Herrschaft. Er ließ kaum ein anderes Verdikt gelten als das Urteil seines Richtbeils. Und das der Hand, die es führte: Seine eigene.

    „Nein! Nicht auf den Richtblock! Ich habe nichts getan."

    Wieder Gejammer. Wieder taumelte ein Verurteilter mit schreckensbleichem Gesicht durch den Zellenkorridor. Hinter ihm eine Wache, die die todgeweihte Gestalt voranstieß. „Weiter! Spar dir das Wehklagen!"

    „Bitte! Ich weiß nicht, wer das an mein Haus geschmiert hat, klagte der Mann. „Ich ehre den großen Mordaki!

    „Halt’s Maul, Aufrührer. Dieses Geschrei! Bestimmt bin ich taub, wenn dein Kopf in den Korb rollt." Die dicke Wache kniff selbstmitleidig die Augen zusammen.

    Kettengeklirr erhob sich in den Zellen. Wie jedes Mal, wenn einer seinen letzten Gang antrat. Aris stimmte mit den Gliedern der Ketten an seinen Pfoten rhythmisch mit ein. Der Verurteilte war schmal, die Augen angstgeweitet. Die Blutergüsse auf seiner Haut nicht alt. Er trug das grobe Leinen der Schauerleute vom Hafen.

    Aris leckte sich über die Lefzen. Würde sich der Stumpfzahn einpissen, bevor oder nachdem das Richtbeil seinen Hals durchtrennte? Bei Isgars Klöten, diese Menschen! Sie waren erbärmlich in ihrer steten Furcht vor Mangel, vor Schmerz, vor dem Tod. Gab es etwas, vor dem sie keine Angst hatten? Keine würdigen Gegner für einen echten Kämpfer.

    Als der Verurteilte unter angeschwollenem Kettengeklirr Aris passierte, schnüffelte der Varg durch die Eisenstangen der Zellentür.

    Vorher.

    Eindeutig.

    Varis wusste: Wenn für ihn selbst die Letzte Stunde anbrach, so würde dies eine Stunde des Triumphs sein. Er würde sie mit Würde und Stärke begehen. Seine Krallen, seine Zähne und vor allem seine beiden Falchions hatten Isgar immer einen hohen Blutzoll geschenkt. Viele Feinde hatten schon vor Aris im Staub gelegen, sich das Gekröse gehalten und waren doch mit äußerst traurigen letzten Worten auf ewig hinter die Heulende Pforte getreten. Hatten nur noch stinkende Kadaver zurückgelassen. Aris würde aufrecht durch den Lanzenwall der jenseitigen Heroen schreiten. Auf Geheiß des Herrn der Schlachten würden sie ihre Häupter ehrenvoll neigen, den Blick aus rot glosenden Augen senken. Isgar der Unnachgiebige, der Gott der gestählten Seelen, würde Aris rühmen für seine Stärke und seinen Mut.

    Die behelmte Wache neben dem Ausgang gähnte und schlug dreimal kräftig mit der Hellebarde gegen das hölzerne Kerkertor. Wimmernd stand der Todgeweihte davor. Ein Riegel schnellte hoch. Zugketten rasselten, Angeln knirschten. Die Torflügel schwangen auf.

    Mit dem Licht des späten Tages wehte erneut eine Wolke roter Blütenblätter in den Kerker. Der Varg fletschte angewidert die Zähne. Draußen auf dem Richtplatz erhob sich das Raunen der Menge: Krakeelen, Jubeln, vereinzelte Entsetzensrufe. Von groben Händen weitergestoßen trat der Verurteilte den letzten Gang zum Richtblock an. Hinter ihm krachte das Tor zu.

    Aris wandte sich um, griff das Fleisch vom Teller und stellte sich mit dem Happen so dicht an das hohe, vergitterte Fensterloch wie es die stramm gespannte Fußfessel zuließ. Der in der Wand verankerte Eisenring knirschte. Aris’ schwarzhäutiger Zellengenosse rührte sich nicht. Er saß nur da, starrte Löcher in die Luft, kaute auf einem Strohhalm und ließ die Beine hängen.

    Dank seiner Größe von mehr als zwei Metern konnte der Varg mühelos auf den Platz hinaussehen. Der Verurteilte taumelte auf das gezimmerte Schafott, das heute schon das Blut mehrerer Exekutionen getrunken hatte. Das Getöse des Volks von Lamera schwoll an.

    Aris lutschte hastig Hähnchenfleisch vom Knochen. „Der Nächste. Mann, gleich ist der auch nur noch ein stinkender Kadaver. Widerlich."

    Er schielte seitlich auf den Stumpfzahn neben sich, der im Schatten saß, nur die Augen hell und wach.

    „Gleich kommen sie und holen dich, Schwarzer."

    „Kann sein", murmelte der Angesprochene.

    „Kann sein, kann sein, äffte Aris nach und warf Hähnchenknochen hinter sich. „Oh! Da ist der Fürst.

    Aris klammerte seine Hände um das Gitter, als könnte er so besser hinaussehen. Er pustete ein paar hereinwehende Jokablüten beiseite. „Oh, Scheiße, dieser Prunk und Protz. Sogar seine Lakaien tragen Brokat. Der Mann hat’s richtig gemacht und jetzt Gold ohne Ende."

    Leise trug die Rede des Tyrannen über das Geraune der Menge bis in die Kerkerzelle.

    „Bürger! Freunde! Waffenbrüder! Dieser Mann hat mich, Mordaki, Herr von Lamera und Baron von Jokania, beleidigt in meiner Ehre. Wie für meine Kinder sorge ich für euch, nehme mich eures Kummers an – und dies ist der Dank. Anstatt sein Wort offen an mich zu richten, hat dieser Mann feige Schmierereien auf Wände gesetzt. Er hat sich des Aufruhrs und der Verunglimpfung schuldig gemacht. Die Strafe dafür ist der Tod. Mit scharfem Mondstahl soll er geköpft werden. Sein Blut soll dem Jokabaum zur Nahrung dienen. Seine Hände und Füße werden ihm abgeschlagen und seine sechs Körperteile sollen in den sechs Vierteln der Stadt ausgestellt werden, damit er noch im Tode anderen als Mahnung dient."

    „Blutgold", sagte der Schwarze.

    Aris drehte sich um. „Hm, was?"

    „Das Gold, das er hat. Er plündert die Bevölkerung aus. Blutgold. Er ist kein Fürst. Er ist ein Tyrann."

    „Ja, der weiß, wie man’s macht, hechelte Aris. „War doch mal ein ganz kleines Licht in seiner Familie. Und jetzt oben angekommen. Ist durch das Blut seiner Verwandten und seiner Feinde gegangen wie ein flotter ... Aris lange Zunge hing überrascht aus seiner Schnauze. „He! Das war jetzt mehr, als du in den letzten drei Tagen gesagt hast, Schwarzer!"

    Der Mensch streckte sich. „Kann sein."

    „Kann sein", äffte Aris nach. Er ließ den Zellengenossen nicht aus den Augen, als er noch ein Stück Fleisch vom Brett griff.

    „Und du willst wirklich nichts von deiner Henkersmahlzeit, Schwarzer? Ist gut. Würzig. Saftig. Also, ich bin ja ein grober Klotz. Aber ich will nicht eines fernen Tages vor Gunwars Heulender Pforte zum Totenreich stehen und mir anhören müssen: Du Sack! Hast einem Todgeweihten das letzte Mahl geklaut!"

    „Iss nur."

    „Na, komm schon. Wenigstens ein bisschen Wein. Hm?" Aris öffnete den Weinschlauch und goss den roten Tropfen in einen Messingkelch. Südfanger Aschewein, sagte ihm seine feine Nase. In Lamera wussten sie anscheinend noch, was zu einem letzten Mahl gehört.

    „Macht langsam und träge." Der Schwarze stand auf, seine Ketten klirrten. Er lockerte die Muskeln an Armen und Beinen.

    Draußen ging ein Raunen durch die Menge. Aris war sofort wieder vom Geschehen auf dem Platz gebannt. „Oh Scheiße, jetzt passiert’s!" Die Zunge hing ihm vor Aufregung heraus. Er hechelte.

    Mordaki sprach seine Schlussformel. „Im Namen der Gerechtigkeit gebe ich dich in Gunwars Hände. Mit Blut soll deine Untat gesühnt sein."

    Die Mondstahlklinge des Beils glänzte bläulich zwischen den fallenden Jokablüten im späten Sonnenlicht dieses Tages. Dann sauste sie nieder. Die Menge hielt den Atem an, dann enteilten ihr Rufe des Erstaunens und der Erregung.

    „Eiiii..." Aris verzog die Miene und sog Luft zwischen den Zähnen ein.

    Ein weiterer Schlag fiel. Aris wippte auf den Beinen. Ein dritter landete auf dem Nacken des Opfers. Auf dem Platz brach Jubel aus. Mor-daki! Mor-daki! skandierte die Menge.

    Aris nahm einen tiefen Schluck Wein aus dem Kelch. „Beim dritten Schlag! Aber dann ist der Schädel sauber heruntergepurzelt. Stinkender Kadaver. Aus die Maus."

    Er schielte wieder zum Schwarzen. Der einzige Insasse dieses Kerkers, von dem er keinen Angstschweiß roch. Aris hatte schon mal schwarze Nackthäute gesehen, die aus den Dschungeln Arakeas stammten. Aber dieser hier passte nicht dazu. Nase, Wangen, Lippen – im Gesicht war alles anders. Die Augen waren anders.

    „Schwarzer, ich werd’ nicht schlau aus dir. Aris schlürfte laut. „Ich bin Söldner, mal hier, mal da. Vermiete meine Krallen, meine Zähne, meine lieben Falchions. Und ich bin halt hier drin, weil ich mich an Mordakis Soldkasse vergriffen habe. Hab’ mich erwischen lassen. War blöd. Eine Riesenscheiße. Morgen bin ich auch da draußen. Aus die Maus.

    Der Schwarze zeigte keine Regung. Aris wischte sich ein paar stinkende Blüten aus dem Fell und fuhr fort. „Aber du? Ein Kerl mit Haut so dunkel wie Kohle. Keiner weiß, wer du bist, woher du kommst. Tauchst einfach auf und stichst den Hauptmann der Söldlinge hier in Lamera ab. Den wichtigsten Mann Mordakis. Vor dem Hurenhaus, aus dem er kam. Eiskalt. Bewunderung legte sich in Aris’ raue Stimme. „Eine Riesensauerei! Stimmt es wirklich, dass du stehen geblieben bist, wie ’ne Kuh vor’m Melkschemel? Und dann haben dich die Söldner einfach festgenommen?

    „Ja."

    „Aber warum, bei Iosaris’ fauligem Schoß?"

    „Man nennt die Herrin der Teufel nicht beim Namen."

    Zwei Stinkeblüten hatten sich im Haar des Schwarzen niedergelassen. Aris zuckte. Er musste sich beherrschen, sie nicht mit grober Pranke wegzuwischen. „Wen juckt’s? Warum bist du nicht abgehauen?"

    Der Schwarze spielte mit dem Strohhalm in seiner Hand und brach ihn ab. „Ich habe hier etwas zu erledigen."

    Das schwere Tor zum Richtplatz öffnete sich wieder. Zugketten rasselten, Angeln knirschten.

    Aris starrte den Schwarzen hohl an. „Was zu erledigen? Dir ist hier drin doch das Hirn vergammelt! Schwarzer, du bist gleich tot, ein stinkender Kadaver, aus die Maus, nur noch ein Sack voller Fleisch, Blut und Eiter."

    Das Tor fiel zu. Das Echo hallte durch die Kerkerräume. „Jetzt weiß ich’s. Die haben mir hier einen Verrückten in die Zelle gepackt. Du bist einfach ein armer Irrer. Wie ist dein Name?"

    Unter den Wachen kreiste ein Krug. Die Wärter schlugen sich auf die Schultern, beglückwünschten sich, dass der größte Teil der Arbeit für heute erledigt war. „Und jetzt der Mörder des Hauptmanns!", rief der narbige Wächter.

    „Mit ‚Schwarzer‘ hast du’s schon fast", sagte der Todgeweihte und steckte sich den Strohhalm in den Rachen. Er hustete, würgte.

    Aris hob die buschigen Wolfsbrauen. „Was, bei allen fallenden Sternen, machst du da?"

    Der Schwarze übergab sich und würgte ein kleines Stück Metall hervor, einen Dietrich. Mit flinken Fingern fischte er das Werkzeug aus dem Erbrochenen und verbarg es in der Hand.

    Aris sprang auf, war fast über ihm, konnte ihn aber nicht erreichen. Die Fußkette war zum Äußersten gespannt. „Was ist das? Was versteckst du da?"

    Der Schwarze wischte sich den Mund ab, lehnte sich entspannt zurück und legte einen Finger auf die Lippen: Psst.

    Die Wachen näherten sich. „So, Schluss mit Rumsitzen. Zeit, den Kopf ein wenig freizukriegen, sagte der Dicke. Sie lachten. Der Dicke schloss die Zellentür auf, zwei andere flankierten den Ausgang mit Hellebarden. Aris stand immer noch vor dem Schwarzen. „Ja, verabschiedet euch schön, ihr Süßen, raunte der Schlüsselträger. „Umdrehen!"

    Er beugte sich zum linken Fuß des Schwarzen und schloss die eiserne Fußfessel auf. Der narbige Hellebardenträger rümpfte die Nase. „Gekotzt, hä? Scheint ein zartes Blümchen zu sein."

    Die Hände des Schwarzen blieben zusammengekettet. Die Wachen schoben ihn aus der Zelle. Aris fletschte die Zähne und wandte sich an den dicken Schlüsselträger. „Um, äh, Wärter! Wenn ich etwas echt Wichtiges über den Gefangenen verraten kann, kriege ich dann so ‘ne Begnadigung?"

    Blutunterlaufene und müde Augen blickten den Varg an. „Schnauze halten! Heute will mir wohl jeder ein Ohr abkauen. Wenigstens ist Blümchen still." Die Zellentür fiel zu. Der Schlüssel dreht sich.

    Der Schwarze wandte sich noch einmal zu den Gitterstäben. „Aris?"

    „Ja?"

    „Ich kannte mal ein Hündchen, das so hieß."

    „Leck mich!"

    Entnervt schlug der Dicke gegen das Gitter und stieß den Schwarzen in Richtung Tor. „Schnauze, hab ich gesagt! Gehen wir, Blümchen."

    Geräuschvoll öffnete sich das große Tor und ließ Licht, Blüten und das Gejohle des Volks herein. Die Wachen und der Schwarze gingen hinaus. Aris rüttelte am Gitter der Zelle, als wollte er die Stäbe auseinanderreißen. Unter seinem Fell spannten sich die Muskeln. „Hee! Heeey!", brüllte er, riss das Maul auf. „Er verarscht euch, Leute! Er verarscht euch! Er wollte doch hier rein!"

    Leuchtend rote Jokablüten wehten ihm auf die Zunge, in den Rachen. Aris hustete, keuchte und würgte. Er glaubte, er müsste ersticken.

    Kapitel II

    Gerichtet

    Kunsttag, 26. Saatmond 991 LZ, später Nachmittag

    Man konnte Vieles über den Jokabaum in Lamera sagen. Dass er ein gewöhnlicher Baum sei, gehörte nicht dazu.

    Da war zunächst – und für jeden Beobachter eindeutig bemerkenswert – seine Größe. Über einhundert Meter ragte der Wipfel über dem Erdboden auf. Nicht weniger wies die gigantische, dichte Baumkrone im Durchmesser auf. Im Schatten unter dem grünen, blaugeäderten Blattwerk stand ein ganzes Viertel der Stadt, komplett mit mehrstöckigen Häusern und verwinkelten Gassen. Der Stamm erhob sich so stark und mächtig, als schien er das ganze Himmelsgewölbe von Lorakis zu tragen. Selbst dreißig Menschen, die sich die Hände reichten, konnten seine rissige Borke am Stamm nicht umfassen. Die Lameraner hatten einst ein steinernes Heiligtum um den Jokabaum errichtet. Eine prächtige Kathedrale, der gebenden Herrin Fleadyne geweiht. Doch unter dem Giganten wirkte sie wie ein Gnomenhaus. Das ewige Wahrzeichen Lameras dominierte die Stadt und den nordpatalischen Küstenstreifen am Elyrischen Golf. Das Leuchtfeuer, das man in ein Lichthaus in die Baumspitze gesetzt hatte, konnten Schiffe an klaren Tagen noch in 50 Meilen Entfernung ausmachen.

    Die Küsten und Gestade von Lorakis waren schier endlos und reichten bis in fernste und seltsamste Gefilde. Weit gereiste Portalkundige und Gelehrte sagten, es stünden höhere Bäume in Landen am anderen Ende des Erdkreises. In den Wandernden Wäldern der Frostlande, im Shahirat Badashan oder den Dschungeln Arakeas. Doch am Elyrischen Golf, in ganz Patalis und im Umkreis von tausend Meilen kannte man nichts Vergleichbares. Vielleicht in den Tälern und Nebeln des Unreichs, wer wusste das schon genau?

    Der Jokabaum war alt. Sehr alt. Er war schon alt, als vor zwei Menschengenerationen das Kaiserreich Selenia im Vierten Mondsteinkrieg seinen Einfluss bis auf Herathis und den Elyrischen Golf ausdehnte. Seine Borke war schon vernarbt, als die Silberschiffe aus Patalis vor 350 Jahren die Piraten von Elyrea niederwarfen. Und glaubt man den Schriften, so war er schon so gewaltig und voll ausgewachsen, als vor 600 Jahren herathische Helden den Drachen Urdfang von seinen Wurzeln vertrieben und kurz darauf die Stadt Lamera gründeten. Manche sagten, der Jokabaum stamme vom geborstenen Splittermond selbst. Als der Blaue Mond vor einem Jahrtausend zerbrach und seine Trümmer auf Lorakis regneten, fiel demnach ein Brocken mit einer Baumsaat dorthin, wo heute Lamera lag. Der Samen machte sich die lorakische Erde zu eigen und spross und gedieh. Andere glaubten, dass der Baumgigant noch weit älter war und seine Wurzeln schon in grauer Vorzeit in die Tiefen des Landes reichten. Ihrer Ansicht nach pflanzte einst Fleadyne selbst den Schößling, als sie den Frühling in die Welt brachte. Die milde Göttin soll ihn den Völkern als Andenken an das Wunder des Lebens geschenkt haben – und als Erinnerung, dass zu jedem Geben auch ein Nehmen gehörte.

    Wie viele Jahre der Jokabaum auch gesehen hatte, es stand fest, dass er einzigartig war. Auch große Pflanzenkenner und Botaniker aus gelehrteren und beleseneren Städten in Patalis wussten um keinen anderen seiner Art. Selbst bestens gebildete Naturkenner, die eigens wegen des Jokabaumes aus Ländern jenseits der Mondpfade in den Norden von Patalis gereist waren, brachten keinen Rat. Sie kamen aus Kintai, wo der Schönheitssinn der leibhaftigen Göttin Myuriko die Bäume formte, von den fernen, feuchtheißen Stromlandinseln und aus dem albischen Dämmerwald mit seinen Bäumen, die selbst die Gottbestien überragten. Aber sie kannten keinen Baum, der wie dieser war.

    Im Frühjahr sprossen Myriaden kleiner roter Blüten aus seinen Knospen und fielen über Wochen als roter Regen auf Lamera herab. Sie bedeckten Dächer und Straßen, sprenkelten den Hafen und schmückten das Meer. Die intensiv riechenden Blüten wurden zu Ölen und Duftwassern destilliert. Das mächtige Laubwerk des Sommers mit seinen dicken und ledrigen, blaugeäderten Blättern ließ sich zu Lampenschirmen, Fensterbespannungen, Säcken und Segeln verarbeiten. Der dickflüssige Saft aus der inneren Rinde war mit Gold nicht aufzuwiegen und diente Alchemisten als Grundlage für mächtige Elixiere der Heilung und des Wandels. Noch begehrter waren nur die seltenen Früchte des Baumes, die apfelgroßen Jokanüsse. Trotz seiner riesigen Baumkrone und hunderten von Ästen ist kein Herbst verzeichnet, an dem der Baum mehr als drei Dutzend Jokanüsse reifen ließ. Sie sollten ungeahnte magische Kräfte verleihen und mächtige Zauberzeremonien ermöglichen. Die Gaben des Jokabaums, geerntet von sorgsamen Baumwarten, wurden bis zu entfernten Metropolen wie der patalischen Hauptstadt Ultia, der selenischen Kaiserstadt Sarnburg und der Orakelstadt Ioria gehandelt und brachten Lamera Wohlstand.

    Der Segen war jedoch ein zweischneidiges Schwert – und von diesem erzählten die Händler, die teure Jokabaumteile verkauften, nur unwillig und mit beschwichtigenden Formeln und Gesten: Der Jokabaum trank Blut. Das Blut von Menschen, Alben, Gnomen, Vargen oder anderen verständigen Wesen. Er brauchte es zum Blühen und Gedeihen.

    Die Lameraner hatten sich um diesen Nachteil so ihre Gedanken gemacht. Sie hatten es mit Hühnern, Schafen, Schweinen und Rindern probiert. Fässer voll des roten Lebenssafts flossen in die Wurzelgruben. Mit edlem Getier wie Hirsch, Baumlöwe, Delphin und Bär. Auch mit gefangenem Gesindel, das aus verkommenen Völkern stammte wie den Rattlingen, den Orks und Schrecken der Tiefe, die sich in Fangnetzen verheddert hatten. Doch das Ergebnis war immer gleich: Der Baum darbte, er verlor seine Blätter und bildete im nächsten Jahr keine neuen Knopsen und Blüten. Eine Fäule begann sich in seinem Holz auszubreiten. Erst das Lebensopfer von Einwohnern der Stadt ließ ihn wieder erblühen und gesunden. Und es sollten am besten junge Leute sein, gesund und voller Kraft.

    Ein wählerisches Pflänzchen.

    Um sich den heiligen und Gold bringenden Baumriesen zu erhalten, dachten sich die Bürger der Stadt über die Jahrhunderte einiges aus. Da gab es die Blütenlotterie, an der jeder Einwohner der Stadt jährlich teilnehmen musste. Freikaufen konnte man sich nur mit einer hohen Summe. An den Tagen der Ziehung für das Dutzend Opfer spielten sich große Dramen auf entsetzten Gesichtern ab, und Schreien und Schluchzen, Zerren und Zittern waren allgegenwärtig in der Stadt.

    Und es gab die Schule der Kinder des Jokabaumes, in die Eltern ihren Nachwuchs schon in jungen Jahren gaben. Ihre familiäre Entbehrung und ihre Bereitschaft, das Liebste zu geben, wurde ihnen mit viel Silber versüßt. Die künftigen Opfer für den Baum lebten eine umsorgte, goldene Kindheit bevor sie im zarten Alter von 18 Jahren zwischen seidenen Laken zu ihrem letzten, ihrem großen Tag erwachten.

    Seit sich aber vor einem Jahr die Machtverhältnisse in Lamera grundlegend verändert hatten, waren solche Traditionen ausgesetzt. Doch als Besserung verstanden das die wenigsten Einwohner. Bis dahin hatte der von den Bürgern gewählte Magistrat die Geschicke der Hafenstadt gelenkt. Die Stadt war stolz auf ihren Wohlstand und die Freiheit ihrer Bürger. Doch des Reichtums dunkle Seite war die Gier. Sie kam in Form Mordakis, des Barons der umliegenden Lande von Jokania. Mordaki, eigentlich ein unbedeutendes Mitglied eines alten patalischen Adelshauses, galt als Lebemann und Stutzer, der sich gerne auf den Banketten und Orgien in Ultia verlustierte. Doch er zeigte einen großen Willen zur Macht, als er sich mit Intrigen und Morden das Erbe seiner Familie sicherte und seine Finger nach Lamera ausstreckte. Er verwickelte die Stadt in einen Streit um Zölle, um freie Passagen und Ehrbezeugungen, um ihr dann die Feindschaft zu erklären. Mit einem Söldnerhaufen setzte er durch, was er als sein Recht betrachtete. Er besetzte die Stadt, suspendierte den Magistrat und presste die Lameraner fortan aus. Wer sich wehrte, bekam die Härte seiner Herrschaft zu spüren.

    Die Blutgerichtsbarkeit des Tyrannen lieferte dem Jokabaum nun mehr als genug Nahrung. Die Blütenpracht dieses Jahres 991 nach Lunarer Zeitrechnung war nach allgemeiner Ansicht herausragend und es wurde allseits mit prächtigen Ernten gerechnet. Es war klar zu erkennen, dass Mordaki selbst den Rahm abschöpfen wollte. Den bislang tolerierten Schmuggel mit Baumteilen nach Herathis unterband er rigoros. Jeder Vorwand, durch den der Baron Blütenöle, Baumsaft und Nüsse konfiszieren konnte, kam ihm gelegen. Mordakis Schreckensherrschaft traf zunehmend kleine Gauner, lose Zungen und Unschuldige, die wegen harmloser Vergehen oder missgünstiger Denunziation auf dem Richtblock endeten. Es traf einfache Wäscher genau so wie angesehene Händlerfamilien.

    „Der Baum ist satt", sagte man hinter vorgehaltener Hand in den Tavernen und Hinterhöfen. Es rumorte in den Köpfen und in den Gassen.

    Der Schwarze Dorn fand den Anblick des Jokabaumes immer wieder beeindruckend. Als er von den Wachen auf den Richtplatz geführt wurde, achtete er kaum auf

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