Die Stille der Gletscher
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In ihrem neuen Roman "Die Stille der Gletscher" hangelt sich eine freiberufliche Fotografin von Auftrag zu Auftrag und sucht daneben auch die künstlerische Erfüllung. Als sie für eine Umweltschutzorganisation alte Gletscherfotos mit neuen Aufnahmen vergleichen soll, nützt sie diese Gelegenheit, Menschen, die mit Gletschern arbeiten, für ein Fotobuch zu porträtieren. Bald ereilt sie der Verdacht, dass nicht nur der Klimawandel Schuld am Gletschersterben trägt. Als auch noch die Leiche einer vermissten Biologin gefunden wird, ahnt sie schon, dass es sich um Mord handelt. Was als spannendes Projekt begonnen hat, wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit – zum Glück hat sie ein kundiges Team an ihrer Seite ...
Witzig, rasant & gut recherchiert. Ulrike Schmitzer bringt in "Die Stille der Gletscher" ein beängstigendes Zukunftsszenario in die Alpen.
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Book preview
Die Stille der Gletscher - Ulrike Schmitzer
ULRIKE SCHMITZER
Die Stille der Gletscher
ROMAN
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Nachwort von Dr. Michael Staudinger, Direktor der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, ZAMG
Glossar
Literatur
1
»Hoppla«, sagt Fritz.
Ich kenne den Gondelführer Fritz gerade einmal zwanzig Minuten, und schon befinden wir uns in einer Krise.
»Jetzt hat es uns hinausgeworfen.«
Das ist mir nicht entgangen. Die Gondel hängt in vierzig Metern Höhe, und sie schwankt vor und zurück. Fritz zieht sein Funkgerät aus der Plastikfolie an der Gondelwand und meldet einen Störfall.
»Dauert nicht lang«, sagt er.
Die vier Araber kichern und machen Fotos mit dem iPhone. Sie machen Fotos von sich selbst, nicht vom Gletscher. Fritz hat die Situation souverän unter Kontrolle.
»No problem!«, sagt er und lächelt freundlich.
Und dann flucht er. Wird wohl doch länger dauern.
»Da, schau«, sagt er und zeigt auf einen Felsblock.
Ich sehe nichts.
»Da war früher Eis. Vor zwei, drei Jahren haben wir schon einmal so eine extreme Hitze gehabt, fast dreißig Grad, da rinnt dir der Gletscher davon. Wenn wir nachher über die Zwölferstütze fahren, dort ist die Randzone, da musst du dann schauen.«
Fritz beobachtet den Gletscher seit seiner Kindheit. Der Gletscher war immer da, und er war immer Teil seines Lebens. Im Sommer ist er oft mit dem Vater auf den Gletscher gegangen. Vor fünfzig Jahren war er eineinhalb Kilometer groß, jetzt erstreckt sich das Eis nur noch über einen Kilometer. Fritz zeigt auf eine Baustelle, auf der gerade zwei Männer mit gelben Baustellenhelmen auf dem Kopf arbeiten. Mehr sieht man von oben nicht.
»Sie sprengen den Fels, damit sie Liftstützen versetzen können«, sagt Fritz. »Der Permafrost, auf dem sie bisher gebaut waren, taut auf.«
Die Seilbahn ruckelt und fährt langsam wieder los.
»Das mit der Gletscherschmelze muss man auch nicht so negativ sehen«, sagt Fritz, aber seine Augen sprechen eine andere Sprache. »Die meisten Skifahrer sind ohnehin nur noch die Kunstschnee-Pisten gewohnt. Die könnten auf Naturschnee gar nicht mehr fahren. Die da unten, was die zusammenfahren! Schau dir das an!«
Wir sind fast am Gipfel angekommen.
Fritz schüttelt den Kopf. Ich frage ihn, was der große, mit weißer Folie überspannte Hügel dort drüben ist.
»Das ist das Schneedepot. Was schätzt du, wie hoch der Haufen ist?«
»Keine Ahnung. Fünfzehn Meter?«
»Fünfundzwanzig Meter!«, sagt er triumphierend.
»Wie kommt der denn dahin?«, frage ich. »Schmilzt der bei der Hitze nicht?«
»Den haben wir im Winter mit den Pistenraupen zusammengeschoben, dann ein weißes Filzvlies drüber, und fertig ist der Reserveschnee. Was schätzt du, wie breit der Haufen ist?«
»Keine Ahnung«, sage ich wieder.
»Zweihundert Meter!«
Ich nicke anerkennend, vermutlich sind die Schneehaufen auf anderen Gletschern kleiner, sonst würde er das wohl nicht so betonen.
»Und wie lange hält der?«, frage ich.
»Der hält schon eine Zeit lang. Damit haben wir ein bisschen Spielraum. Die Gäste wollen schließlich Schnee sehen. Echten Schnee.«
Die Araber steigen aus der Gondel. Sie haben sich im Tal feste Winterschuhe und einen Anorak ausgeliehen. Es gibt schon vier Geschäfte, die auf die neuen Herausforderungen reagiert haben. Früher haben sie Ski und Skischuhe an die Touristen verliehen, aber die neue Gästeschicht kann gar nicht skifahren. Die will nur Schnee schauen. Und den gibt es nur noch auf dem Gletscher. »Gletscherbahnen« steht in großen Buchstaben auf dem Rücken der Araber. Oben am Gipfel stürzen sie sich gleich auf den zentimeterdünnen Streifen mit Frischschnee. Und simulieren eine Schneeballschlacht. Das haben sie wahrscheinlich im Internet gesehen. Sie lachen und wälzen sich im Schnee. Ich kann gar nicht sagen, was daran eigenartig ist. Es sieht irgendwie aus wie Spaß, aber es ist keiner. Fritz hat damit jedenfalls keine Freude.
»Jetzt müssen wir bis zur Ankunft der nächsten Gruppe gleich wieder beschneien«, sagt Fritz verärgert. »Die sind wie Kinder«.
Die Araber merken erst jetzt, wie kalt der Schnee ist und dass ihre Hosen nass geworden sind. Davon war im Internet keine Rede. Sie pusten sich die warme Luft in die zusammengefalteten Hände.
Ich sehe mich um und entdecke gleich neben der Bergstation eine Schneekanone. In der Garage dahinter stehen mindestens zehn von ihnen.
»So viele?«, frage ich Fritz.
»Die Schneekanonen müssen dem Gletscher immer weiter nachrücken. Jedes Jahr wird ihr Einsatzgebiet größer. Deshalb brauchen wir immer mehr von denen.«
Fritz muss zurück ins Tal. Die Gondel ist schon wieder voll mit Touristen, die genug vom Gletscher haben. Er zeigt mir noch den Weg zum Gletschermuseum, obwohl der gar nicht zu übersehen ist. Große Bildtafeln weisen zum Museum, das erst vor kurzem in den Berg gebaut wurde.
Ein Mann mit Tirolerhut empfängt eine Gruppe von Chinesen. Die Chinesen wissen vermutlich nicht, dass wir nicht in Tirol sind. Er muss noch warten, bis die Gruppe komplett ist. In der Zwischenzeit frage ich den Mann mit dem Tirolerhut, ob zurzeit viele Touristen kommen.
»Siehst ja«, sagt er.
Ein gesprächiger Führer, ideal für den Job, denke ich. Neugierig bin ich aber trotzdem.
»Warum brauchen die denn ein Museum am Gipfel, das ist doch ein herrliches Panorama?«, frage ich.
»Heute!«, sagt er. »Bei der Sonne! Aber was machst du mit den ganzen Leuten, wenn es regnet, wenn die Wolken in den Bergen hängen?«
Das habe ich mir noch nie überlegt. Was macht man am Berg, wenn man nichts sieht?
»Na, eben«, sagt er. »Jetzt kannst du ins Museum gehen. Die Bergkristalle bewundern und dir anhören, wie der Berg von innen klingt.«
»Da sind Bergkristalle drinnen?«, frage ich begeistert nach.
»Nein«, sagt er. »Schautafeln über Bergkristalle. Das reicht eh. Die meisten bleiben sowieso im Gletscherkino hängen.«
»Was gibt’s da zu sehen?«, frage ich, weil die Chinesen noch immer nicht vollzählig sind. Ein paar sind aufs Klo gegangen und scheinen nicht wiederzukommen.
»Einen Film.«
»Aha«, sage ich.
»Den Leuten musst du einen Film zeigen, in dem sie sehen, wie schön die Natur ist. Wenn sie dann aus dem Kino kommen, erkennen sie die Sachen wieder und freuen sich. Die können gar nicht mehr selber schauen«, sagt er.
»Wir verkaufen nicht die Berg- und Talfahrt. Wir verkaufen ein unvergessliches Erlebnis«, wird der Geschäftsführer der Gletscherbahnen später zu mir sagen.
Ich spaziere durch den mystisch beleuchteten Bergstollen, der Boden ist mit Gummimatten ausgelegt, er ist weich wie Gras. Man hört seinen eigenen Schritt nicht, obwohl jedes Räuspern ein Echo zurückwirft. Ich bin allein im Berg. Da hat sich jemand etwas einfallen lassen, man kann einen alten, vollbeladenen Holzkarren hochhieven und sich wie ein Bergarbeiter in alten Zeiten fühlen. In der nächsten Koje kommt eine Werbung für die Amethystwelt, die nicht weit entfernt ist. Wunderbare Lichtspiele! Zweihundert Meter geht es bergab, dann bricht der Stollen aus dem Berg aus, und ich stehe auf einer Plattform und blicke durch die Metallgitter in ein paar Hundert Meter Tiefe.
Ich stelle mein Stativ auf und fotografiere das Gletscher-Panorama, bevor ich im Berg zurück hinauf und zu den Punkten gehe, die mir die Umweltschutzorganisation aufgetragen hat. Von dort aus werden jedes Jahr Fotos gemacht, bis der Gletscher endgültig verschwunden sein wird. Der Fotograf, der das bisher gemacht hat, ist gestorben. Gut, dass er das Ende nicht erlebt, haben die Umweltschützer gesagt, das hätte er nicht verkraftet. Ich habe seine Fotos aus den Sechzigerjahren mit, die Perspektive muss stimmen, damit die Bilder dann im Zeitraffer geschnitten und abgespielt werden können. Damit die Dramatik besser zur Wirkung kommt.
2
Der Professor hat angeboten, mit mir auf den Gletscher zu fahren. Er kennt den Gletscher wie kein anderer. Seit fünfzig Jahren schon macht er Messungen auf dem Berg. Während seiner Studentenzeit hat er damit begonnen, aus reinem Forscherinteresse, sagt er. Erst im Lauf der Jahre stellte sich heraus, wie wertvoll eine derartige Langzeitreihenmessung ist.
»Das sind Daten, die kann mir niemand mehr nehmen«, meint er. »Die Forscher werden untereinander immer misstrauischer. Die Jungen eignen sich Daten an, die ihnen nicht gehören. Die wissen gar nicht mehr, dass man ins Feld hinaus muss, um Datenreihen zu bekommen. Dass man durch meterhohen Schnee waten muss, in Gletscherspalten zu stürzen droht und mit eisigem Wind zu kämpfen hat. Dass man meterhohe Schneeschächte graben muss. Die glauben, die Daten sind von alleine im Internet, die muss man nur herunterkopieren. Ich bin der einzige weltweit, der so lange Messreihen hat – fünfzig Jahre«, sagt er triumphierend zu mir. »Weltweit! Meine Daten kennt jeder Glaziologe von Grönland bis Chile! Ich hab 1963 begonnen, das war das erste Haushaltsjahr, und durch Extrapolationen und Berechnungen komm ich mit der Messreihe bis in die Vierzigerjahre zurück. Gut, es gibt noch andere Messreihen, die über fünfzig Jahre gehen, aber die hat nicht ein Forscher alleine gemacht. Ich kenne den Gletscher wie kein anderer.«
Der Gletscher hat ein Eigenleben. Er kommt und er geht. Es ist nicht so, dass er sich immer nur zurückzieht. Es hat Jahre gegeben, da ist der Gletscher vorgerückt. 1965, das war ein unheimlich spannendes Jahr, da waren die Sommer kühl und die Winter schneereich, daher haben die Gletscher an Masse aufgebaut, sie haben wieder vorzustoßen begonnen. Das Sonnblickkees-hat zehn