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Vorn ist noch Platz - Band 1
Vorn ist noch Platz - Band 1
Vorn ist noch Platz - Band 1
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Vorn ist noch Platz - Band 1

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About this ebook

Die alte Issa Halter liegt sterbend in ihrer Turmstube. Und während sich ihr Körper immer weniger dem allmählichen Versagen seiner Organe widersetzen kann, begibt sie selbst sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Geführt wird sie dabei von einer Stimme, die sich als Teil von Issa bezeichnet und einen Dialog mit ihr beginnt. Die Stimme ermuntert und bestärkt Issa. Zuweilen jedoch hat sie eine eher ernüchternde Wirkung auf die Sterbende, die staunend eine neue Welt betritt.
So findet sie sich auch wieder in der Zeit, als sie ihr Haus in der Rheinpfalz verkauft - kurzerhand, naiv-entschlossen und in burleskem Stil. Alles Inventar verschenkt sie und zieht in einen Turm in einem italienischen Dorf. Ihr anfängliches Leben dort ist voller grotesker Sprachschwierigkeiten. Von Land und Leuten hat sie wenig Kenntnis. In dieser Lage fällt ihr durch die Bekanntschaft mit Carlo, dem Lebenskünstler, eine wunderbare Starthilfe zu. Er wird für Issa ein ebenso schwer durchschaubarer wie herzlicher und tatkräftiger Freund. Obwohl beide sich zu einander hingezogen fühlen, gibt es eine spürbare Barriere zwischen ihnen, etwas Rätselhaftes, das lange unausgesprochen bleibt.
Die sterbende Issa erfährt in Todesnähe das Wunder, sich noch einmal als handelnder Mensch an den verschiedenen Stationen ihres Lebens bewegen zu können, an vielen Orten in Deutschland, Italien, Israel - und in dem Bewusstseinszustand ihres jeweiligen Lebensalters.
LanguageDeutsch
Release dateMay 4, 2017
ISBN9783744857604
Vorn ist noch Platz - Band 1
Author

Erika Burchard

Erika Burchard, geboren 1934 in Berlin, verbrachte die wesentlichen Kindheitsjahre da, wo heute Polen ist, ihre Jugend- und Studienjahre in München, London, Frankfurt am Main. Dort heiratete sie. Die Kindheit ihrer drei Söhne verlebte die Familie in einem hessischen Dorf. Ihre berufliche Entwicklung verlief ungefähr in Jahrzehnten: Sie schrieb für Zeitungen und arbeitete als Übersetzerin, wurde Lehrerin an einer Waldorfschule und in einem Seminar, machte nebenberuflich jahrelang Erfahrungen in der Bewährungshilfe, zog schließlich nach Italien und produzierte Olivenöl, gründete im Schwarzwald zusammen mit Freunden eine Hilfsorganisation für afrikanische Frauen und arbeitete in Tansania. Jetzt wohnt sie in einem norddeutschen Dorf und buddelt im Garten.

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    Vorn ist noch Platz - Band 1 - Erika Burchard

    zufrieden.

    Im Stolperschritt nach Italien

    ______________________________________ Vetulonia _____

    Trinkgeld

    Der Mann hat die Flasche ohne Absetzen fast geleert, er stellt sie auf dem Kühlschrank ab und wischt sich mit der Hand über den Mund. Sie legt den Fahrpreis, dreihunderttausend Lire, auf den Kühlschrank und schüttelt dazu alles Geld, das sonst noch in ihrem Geldbeutel ist, heraus. Eine Münze fällt hinunter auf den Steinboden, er bückt sich danach.

    „Ristorante, schlägt sie etwas hilflos vor, sie sagt es über seinen gebeugten Rücken hinweg, er fängt gerade das kollernde Geldstück ein. Sie ist ihm dankbar, aber es fehlt ihr an Worten, ihm das in seiner Muttersprache zu sagen. Sein mürrischer Gesichtsausdruck hellt sich über dem Geld auf. „Grazie, sagt er, scharrt es zusammen, steckt alles in die Tasche und schaut sich im Hinausgehen um: „Bella casa!" sagt er anerkennend und nickt ihr zu. Sie blickt ihm nach, wie er über den heißen Kiesvorplatz zur Straße geht, in sein Taxi steigt und wegfährt.

    __________________________________________ Siena _____

    Sind sie tot?

    Er ist der dritte Taxifahrer, den man in Siena für sie herbeigerufen hat. Die zwei davor sind schon bei der Nennung des Fahrtzieles sofort kopfschüttelnd abgefahren. Zu weit weg! Dieser, der dritte, sieht sich immerhin gnädig die Straßenkarte an, die sie ihm hinhält. „Vetulonia, sagt sie in bittendem Ton und tippt mit dem Finger auf den Ortsnamen in der Küstengegend, wohin sie jetzt selber hinfahren würde, wäre nicht ihr Auto hier eben auf einem Schrottplatz abgeladen worden. Der Taxifahrer wischt sich den Schweiß von der Stirn, drohend nennt er einen kühnen Preis: dreihunderttausend Lire. Sie stimmt sofort zu. Sie würde auch zustimmen, wenn er fünfhunderttausend verlangt hätte. Der Mann steigt aus und öffnet die Heckklappe, um ihre Habseligkeiten einzuladen. Stutzend verharrt er, als er die Käfige mit den beiden leblosen Katern am Straßenrand sieht. „Sono morte? fragt er und sie versteht das sogar, und obwohl auch sie selbst eben noch befürchtet hat, die Tiere könnten tatsächlich tot sein, schüttelt sie verneinend den Kopf, reicht ihm ihre Autodecke, die er über den Rücksitz breitet und die Käfige darauf abstellt. Ihre beiden Reisetaschen landen im Gepäckraum wie auch all die anderen Kleinigkeiten, die man aus dem Autowrack geräumt hat.

    Die Julisonne steht im Zenit. Issa wirft einen letzten Blick zurück auf die Bude, wo der Mann mit dem Silberzahn sein Radio wieder auf die volle Lautstärke gestellt hat, die ihr bei ihrer Ankunft vor etwa einer Stunde so heftig entgegengedröhnt hatte, dass sie kaum seine Stimme hören konnte, als er sagte: „I documenti, signora!"

    Die Zigarette, die an seiner Unterlippe klebt, hält jeder Erschütterung stand. Hinter ihr fährt in diesem Moment gerade der Abschleppwagen aus dem Gelände wieder heraus, ihr Auto ist nicht mehr auf der Ladefläche. Sie wendet sich wieder dem Mann zu, und ihr Blick bleibt an seinem Silberzahn hängen. Er greift hinter sich, dreht die Musik eine Spur leiser und wiederholt: „I documenti! Issa versteht endlich: Dies hier scheint die sonntägliche Notaufnahme einer Autowerkstatt zu sein. Sie zieht ihre Brieftasche aus dem Rucksack. Der Mann füllt ein Formular aus, schreibt Auto- und Typennummern von ihrem Fahrzeugschein ab, nimmt die Versicherungskarte an sich und schiebt ihr das Formular über den Tisch: „L‘indirizzo e suo numero telefono sagt er und pocht auf eine bestimmte Stelle des Blattes. Er lässt den Kugelschreiber aus zwanzig Zentimeter Höhe vor ihr auf das Formular fallen. Sie starrt auf die bezeichnete Stelle. Dankbar entdeckt sie dort das erhellende englische Wort address und trägt diejenige Anschrift ein, die ab heute ihr neues Zuhause werden soll. Sie befindet sich in einem - zugegeben etwas ungewöhnlichen – Umzug. Weisungsgemäß und inzwischen zu erschöpft, um den Versuch einer Nachprüfung zu unternehmen, unterschreibt sie das Formular. Als der Mann ihr die Geschäftskarte seiner Autowerkstatt hinlegt, meint sie zu verstehen, dass sie nächste Woche anrufen soll wegen der „assicurazione".

    Er telefoniert, zündet eine neue Zigarette an und deutet, indem er den Rauch aus Mund und Nase entweichen lässt, mit dem Kopf zur Straße: „Tassì!"

    Aha, sie versteht: ein Taxi hat er bestellt.

    Endlich sitzt sie neben dem Chauffeur, den diese Fuhre in das entfernte Küstenland zwar auch nicht begeistert, der aber nicht abhaut wie die beiden anderen. Er lenkt auf die Schnellstraße Siena-Grosseto ein. Feuerbälle scheinen auf der Fahrbahn zu rotieren. Das kleine grüne Kopfkissen fällt ihr ein, sie sieht sich suchend um, der Fahrer fängt den Blick auf und fragt: „Cosa cerca?"

    Sie schüttelt den Kopf. Dass sie seine Sprache nicht versteht und jetzt etwas so Nutzloses wie dieses Kissen sucht, macht ihr plötzlich bewusst, in welch chaotischem Zustand sie auf ihr neues Leben zurollt. Das grüne Kissen! Das hatte sie gestern bei ihrer Abreise von Deutschland ins Auto gelegt, weil sie auf der Nachtfahrt hin und wieder kleine Schlafpausen einlegen wollte. Ein fataler Irrtum, wie sich schon bald nach ihrer Abfahrt herausstellte.

    _____________________________________Autobahn Basel-Florenz _____

    Der fluchwürdige Plastikbeutel

    Wann immer sie anhält, ob zum Tanken oder zum Ausruhen, kreischen die beiden Kater und wollen hinaus. Sowie sie wieder weiter fährt, rollen sie sich zusammen und sind friedlich. Immer aufs Neue in dieser Nacht probiert sie für eine kurze Pause anzuhalten, aber wenn sie dann nach dem kleinen grünen Kissen greift, erlebt sie immer wieder dasselbe: die Kater heulen sofort los. Und so geht es endlos weiter, Ruhe während der Fahrt, aber sofort ein durchdringendes Jaulen, wenn sie verlangsamt und stoppt. Sie gibt also auf und fährt weiter.

    Was über die Nacht hin erfolgt, ist eine langsame Eskalation. Immer müder werdend, versucht sie mit schwindender Entschlusskraft, eine Unterbrechung zustande zu bringen, aber prompt beginnt das Kater-Duett bei jedem Halt wieder von vorn. Die Beruhigungstabletten der Tierklinik zeigen keinerlei Wirkung. Auf einem Rasthof, wo sie eine der zahlreichen hastigen Tassen Kaffee dieser Nacht runterkippt, schaut ein LKW-Fahrer im Vorübergehen ins Auto. „Mein Gott, sagt er, „die haben ja Stimmen wie Polizeisirenen. Und so fährt sie immer weiter, mit bleiernen Augenlidern, angetrieben von der gnädigen Stille, die ihr die Tiere gewähren, solange der Wagen rollt. Endlich kann sie den ersten Schimmer des neuen Morgens am Nachthimmel ausmachen. In ihrer Entschlusslosigkeit schöpft sie irgend eine vage Hoffnung aus dem Licht, obwohl sie hilflos ihre Müdigkeit bemerkt und immer langsamer fährt.

    Kurz vor Florenz - Sonne erhebt sich soeben - wird sie von einer geradezu explosionsartigen Erkenntnis jäh in die Höhe gerissen: Sie hat etwas vergessen! Ihr Erbschmuck ist im leeren Weinberghaus an der Wand hängen geblieben und daneben auch dieser fluchwürdige Plastikbeutel, der mit dem restlichen Kaufgeld, dem „Freiverfügbaren, wie Hauskäufer Vorward es genannt hatte. Den Beutel hatte sie auf einen Nagel an die Wand gehängt, um ihn nicht wieder zu vergessen. Und nun ist genau das geschehen. Morgen werden Vorwards Handwerker mit der Renovierung beginnen. Wie viel Geld war noch in dem Beutel? Dreißig- oder vierzigtausend? Sie lässt die Kater schreien und geht telefonieren. Vor Scham kriegt sie fast keine Luft. Sie muss Vorward dennoch sofort Bescheid sagen. Der Anruf am frühen Sonntagmorgen überrascht ihn natürlich im Schlaf, aber er scheint die Lage sofort zu erfassen, zeigt sich sachlich, enthält sich jeden Kommentars, lacht auch nicht, sondern verspricht höflich, noch heute persönlich zum Eselsberg zu fahren und die Sachen von der Wand zu nehmen. Zurück auf dem Parkplatz, stopft sie den zwei Viechern je eine weitere Beruhigungstablette in den Rachen und setzt beide in ihre Käfige. Sie schaut auf die Uhr: um diese Zeit hatte sie schon längst im neuen Domizil in Vetulonia sein wollen. Die Peinlichkeit des Telefonats mit Vorward reicht für weitere fünfzig Kilometer Wachheit am Steuer, dann aber ist es soweit: Unwiderstehlich, wie bei einer Narkose, klappen ihre Augendeckel zu, und sie schläft bei hundertzwanzig Stundenkilometern ganz und gar unköstliche und folgenschwere fünf Sekunden lang ein. Das Krachen und Bersten noch im Ohr, starrt sie auf ein abgerissenes und senkrecht hochstehendes Leitplanken-Ende und auf eingedrücktes Blech, das noch eben die rechte Seite ihres Autos gewesen ist. Einen Moment lang findet sie es erquicklich still, kein Geschrei ist zu hören und kein anderes Auto zu sehen. Die Käfige stehen Kopf, sie setzt sie an der Böschung ab. Mit weit geöffneten Augen liegen die beiden Kater da und rühren sich nicht. Ein Geländewagen hält neben ihr, der freundliche Fahrer sagt etwas, das sie nicht versteht, und dann telefoniert er. „ ACI, ruft er ihr schließlich beruhigend zu und fährt weiter. Immerhin funktioniert ihr Kopf noch soweit, dass sie weiß, er hat den Abschleppdienst angerufen. Andere Passanten sieht sie anhalten, hört sie Fragen stellen und wieder weiterfahren, alles ist jetzt zu weit weg, zu verschwommen für Höflichkeiten. Stumpf sieht sie dem Abschlepper entgegen, der nach einer zeitlosen Weile ankommt, sie klettert widerstandslos auf den Sitz neben den Kranwagenfahrer, der nimmt ihr Auto huckepack und stellt die Käfige auf den Laderaum. Bodenlose Gleichgültigkeit ergreift sie, die auch noch anhält, als - in Siena angekommen - der Fahrer ihre Siebensachen an den Straßenrand stellt, genau neben dem Tor eines Geländes voller Autowracks. Er deutet auf eine Bretterbude, aus der Musik dröhnt. Darin steht ein Mann mit einem auffallend silbernen Frontzahn und überschüttet sie mit Ausrufen und Fragen, während er grinsend dem Kranwagen nachblickt, der mit ihrem zerknautschten Auto in das Gelände einfährt. Als sie den Kopf schüttelt, erkennt der Mann, dass sie nicht italienisch spricht, und er beschränkt sich auf die allernötigste Verständigung.

    „Lei, da dove viene? Germania?" Sie starrt ihn an. Deutschland – das ist unglaublich weit weg. Hat es den Eselsberg wirklich gegeben?

    _______________________________________ Eselsberg _____

    Die Geschichte vom Zauberlehrling

    Spät abends starten will sie und mit dem ersten Morgenlicht in Vetulonia ankommen. Das scheint ihr einen angemessenen Auftakt für ihr neues Leben in Italien zu versprechen.

    Vor ihrer Abfahrt hat alles seine wohlgeplante Ordnung. Wegen der Julihitze will sie nicht über Tag fahren, auch den Tieren soll die Nachtkühle die Reise erleichtern. Am späten Abend stellt sie ihr weniges Gepäck ins Auto - die Taschen, Decken, Wasserflaschen, das kleine grüne Kissen und zum Schluss die Käfige mit den beiden Katern. Langsam rollt sie die Serpentine des Eselsbergs hinab. Ganz ohne Tränen.

    Einen kleinen Umweg macht sie zu einem Weindorf weiter unten an den Hängen der Hardtberge. Von dort aus hatte sie in den letzten Jahren oft zum Eselsberg hinauf geschaut. Man sieht den behäbigen Berg in seiner ganzen Majestät. Kirchlein und Burgruine scheinen, von hier aus gesehen, wie zu einer Bekrönung des Berges vereint. Immer wenn sie in der Vergangenheit diesen Anblick betrachtete, hatte sie bedauert, kein Fernglas zur Hand zu haben. Jetzt hingegen hat sie den Feldstecher griffbereit im Auto und kann sogar den Wipfel des hoch ragenden Mammutbaumes ausmachen. Er steht an der Terrasse jenes Hauses, das ihr Heimat gewesen war wie keiner der vielen anderen Plätze zuvor in ihrem ruhelosen Leben. Der riesige Baum überragt alle Dächer und Weingärten. Leb wohl. Leb wohl und bleib stark, wenn die Winterstürme kommen!

    Obwohl die beiden Kater gleich auf dem Autobahnzubringer zu wimmern anfangen, lässt sie sich davon nicht stören. Noch nicht. Sie verweilt in Gedanken bei der Erinnerung an den Anfang ihres Lebens auf dem Eselsberg:

    Sie und Norbert kommen aus dem Großstadtgewimmel von Frankfurt und sind überglücklich, in einem so prächtigen alten Weindorf ihr neues Zuhause zu finden. Der weite Blick über die Hügel! Der große Garten inmitten der Weinhänge! Auch den romantischen Eselsberger Friedhof inspizieren sie Hand in Hand und versichern sich gegenseitig, nirgendwo anders als hier dereinst begraben sein zu wollen. Bis zu den blauen Linien des Odenwaldes kann man sehen, wenn man auf der Bank neben der Friedhofskapelle sitzt. Blühende Gehölze überall.

    „Dieser herrliche Friedhof wird Scharen von Besucher zu unsern Gräbern locken," ulkt Norbert und nimmt Issa in den Arm.

    Der Notartermin folgt zwei Tage danach. Es ist eine späte und dennoch absolut neue Lebensphase für beide, allein zu zweit, ohne die Kinder, denn die sind im Studium und haben ihre eigenen Umkreise gefunden.

    Für Norbert und Issa beginnt ein zweiter Honigmond.

    * * *

    Die alte Issa versucht die Hand zu heben, um das, was da vor ihr abläuft, anzuhalten. Aber ihre Arme sind bleischwer und gehorchen nicht.

    Was willst du? fragt die Stimme.

    Das da, will sie sagen, das da läuft verkehrt! Aber sie bringt es nicht über die Lippen.

    Streng dich nicht so an, mahnt das namenlose Wesen. Was läuft denn verkehrt?

    Das da oben, denkt Issa aufgeregt und hört ihren Atem pfeifen. Ihre Sprache versagt. Wie sehr sie sich auch anstrengt – sie kann nichts Hörbares hervorbringen außer dieses Pfeifen. Sie versucht den Kopf zu schütteln.

    Warum kämpfst du so? fragt die Stimme sanft. Die Reihenfolge der Ereignisse stört dich? Lass doch einfach mal alles laufen, wie es will. Es wird sich schon alles ordnen. Mach dir keine Sorgen!

    Issas Erregung legt sich, sie sieht sich verstanden, obwohl sie nicht mehr sprechen kann. Aber ihre unausgesprochene Frage bleibt bestehen: Diese Reihenfolge stimmt nicht - wie kann ich auf dem Eselsberg ankommen, nachdem ich mich gerade von dort verabschiedet habe?

    Du musst jetzt keine Ordnung mehr schaffen! Überlass dich einfach dem, was geschieht, auch wenn alles rückwärts läuft. Was spricht denn dagegen? Du brauchst weder Füße noch Augen und bist dennoch in Bewegung und siehst auch ganz klar. Alles ist gut.

    In dieser Antwort liegt heitere Gelassenheit, kein Spott und keine Ironie. Die Alte gibt sich zufrieden.

    * * *

    Zehn Jahre der Zweisamkeit auf dem Eselsberg verbringen Nobert und Issa, zehn Jahre begeisterter Gestaltung des immer schöner werdenden Gartens, der Anlage von Staudenbeeten und eines allerliebsten Seerosenteichs. Viele geflügelte Nistkasten-Bewohner lernen störungsfrei mit mehreren Findlingskatzen zu koexistieren. Zehn Jahre glücklicher gemeinsamer Berufsarbeit an der Hochschule verstreichen, bis alles in kurzer Zeit zerfällt. Nach diesen zehn Jahren gerät Norbert plötzlich in eine schwierige persönliche Lage. Er, der Sechzigjährige, der Prinzipientreue, der von Kollegen geschätzte und von zahlreichen Studenten als Vorbild verehrte Professor verliebt sich unheilbar in eine junge Schöne. Diese hatte sich seit zwei Semestern als Studentin am Seminar probiert, was ihre drei kleinen Kinder offenbar nicht so recht zu würdigen wussten und außer Rand und Band geraten sind. Deshalb ist Greta, so heißt sie, und sie ist wirklich eine sehr hübsche junge Frau, schon bald bereit, ihr eigenes Leben und das ihrer drei Kinder in die Hände des allseits verehrten Professors, Psychologen und Pädagogen Norbert zu legen.

    Die drei leiblichen Väter von Gretas Kindern finden das eine fabelhafte Idee.

    Norbert ist durch Greta zum Zauberlehrling geworden. Ihm ist gelungen, durch ein schnelles magisches Wort eine gewaltige Flut in Gang zu setzen. Als dann aber das Wasser steigt und steigt, viel höher, als er es mit seinem Zauberspruch eigentlich beabsichtigt hatte, da steht ihm das rechte Wort nicht zu Gebot, um der bedrohlich gewordenen Woge Einhalt zu gebieten, es hilft ihm auch kein Hexenmeister mit dem richtigen Machtwort aus der Flut. Und so kommt es, dass Norbert und die ahnungslose Issa bis zu dem Tage, da alles auffliegt, in zärtlicher Gewohnheit ihr Ehebett teilen. Was die Sache keineswegs leichter macht.

    Ein Erdbeben erfasst alle Beteiligten, und man kann weder Norbert noch Issa und schon gar nicht der schönen Greta vorwerfen, sie hätten auch nur einen einzigen all jener Fehler ausgelassen, die bei solchen Ereignissen unter Menschen üblich sind. Norbert folgt schließlich den Geistern, die er gerufen hat. Allerdings nicht, ohne Issa noch schnell zu erklären, wie man ein Überweisungsformular ausfüllt, und welche laufenden Fixkosten für das Weinberghaus allmonatlich anfallen. Geld war so gar nicht ihr Ding. Für diesen Ernstfall zu proben haben die Eheleute tatsächlich seit mehr als zwei Jahrzehnten versäumt, alle beide haben diesen Fall schlichtweg für ausgeschlossen gehalten. Die späte Unterweisung fällt nun auch etwas knapp aus, denn Norberts blondes Schicksal zerrt arg an ihm, und mithin bleibt es höflich lächelnden Bankangestellten überlassen, Issa zu erklären, welche erstaunlichen Operationen man mit einer Scheckkarte ausführen kann.

    Natürlich weint Issa viel. Blacky, die älteste Katzendame des Weinberghauses, die bis dahin auf Norberts Schreibtisch gewohnt hat und während seiner Studienarbeiten von ihm so ganz nebenbei liebkost zu werden gewohnt ist, verliert nach dem plötzlichen Verschwinden ihres Streichlers die Fellhaare, und zwar allesamt. Mit widerwilligem Pflichtgefühl streicht Issa mitunter über den grauen Lederkörper des hässlich gewordenen Großmuttertiers, beide sehen sie nichts als Trostlosigkeit vor sich.

    Das geht mehrere Wochen so. Aber dann fällt Issa beim Räumen das schwarze Schultertuch ihrer seligen Oma in die Hände, ein kariertes Webmuster hat es und an den Rändern feine Knötchen mit Fransen. Issa legt es sich um und tritt vor den Spiegel. Eingehend betrachtet sie sich. Und obwohl ihrem Blick die zahlreichen grauen Haare in ihrer Lockenmähne nicht entgehen, sagt sie am Ende ihrer Musterung mit fast jugendlicher Energie nein zu ihrem Spiegelbild.

    Noch am gleichen Tag bringt sie Blacky zum Tierarzt.

    „Das mit dem Haarausfall, das kriegen wir schon wieder hin," sagt dieser mit Zuversicht.

    Ganz ohne Zuversicht allerdings beginnt Issa die Wohnungsangebote in den Zeitungen zu studieren. Es ist ihr nämlich klar: Ohne Norbert kann sie das geliebte Weinberghaus finanziell auf Dauer nicht halten. Sie muss sich also schnellstens eine bescheidenere Bleibe suchen. Unter all den Wohnungen, die sie in der Folgezeit anschaut und die sie alle anfremdeln, befindet sich eine in einem Nachbardorf, die kann sich Issa, wenn auch zögernd und unentschlossen, noch am ehesten als ihr zukünftiges Domizil vorstellen. Es ist eine Wohnung mit Blick auf einen alten, etwas schiefen Kirchturm und über einen spitzwegischen Ort voller malerisch krummer Dächer. Sie telefoniert mit Gunter, seines Zeichens Architekt und Bau-Sachverständiger. Übrigens auch Issas erster Ehemann. Helmbrecht heißt er. Das war früher auch Issas Namen gewesen. Gunter ist sogleich bereit, sie zu beraten und die in Frage stehende Wohnung mit ihr zusammen zu besichtigen.

    Bei der Konvoi-Fahrt dorthin kommt es zu einem dummen Zwischenfall. Issas kleines rotes Autochen, das Gunters eleganter weißer Limousine voraus fährt, kommt aus unerfindlichen Gründen von der Eselsberger Serpentinenstraße ab und kippt, sich mehrmals seitwärts überschlagend, den Hang hinab in den Weinberg. Es fällt Issa höllisch schwer, sich aus dem verklemmten Wrack rauszuquetschen. Dann aber klettert sie eiligst den Hang hinauf, denn sie ahnt schon, dass Gunter den Schrecken nicht gut überstanden haben dürfte. Tatsächlich findet sie ihn kreidebleich und im Schock reglos auf dem Fahrersitz seines Wagens sitzend, seine stolze aufrechte, breitschulterige Gestalt hängt schief hinter dem Steuer, er scheint unfähig sich zu bewegen. Als er allmählich wieder zu sich kommt und angesichts Issas Unversehrtheit auch seine Sprache wiederfindet, nehmen sie beide zusammen Zuflucht im nächsten Gasthaus im Tal und erkennen in dem Unfall ein entschiedenes Abwinken des Schicksals. Auf die geplante Wohnungsbesichtigung wird also verzichtet. Bei einem rettenden Glas Pfälzer Wein lässt Gunter seine frühere Ehefrau wissen, er halte ohnehin nicht viel von dem Gedanken an ihren schnellen Wohnortwechsel: „Du solltest vorläufig in deiner vertrauten Umgebung bleiben, wenigstens noch in der Zeit des größten Trennungsschmerzes," sagt er und blickt ihr tief in die Augen. Bedeutungsvoll fügt er hinzu:

    „Bei mir hat das damals mehr als drei Jahre gedauert!"

    Issas Gemüt bekommt Krämpfe unter dem Blick seiner umflorten Blauaugen, die sie einst geliebt hatte und die ihr niemals ganz gleichgültig geworden sind. Wieder einmal wächst ihre Schuld, ihn verlassen zu haben, gigantisch vor ihr auf. In solchen Schrecksekunden, die Gunter bei ihren selten gewordenen Zusammenkünften wie einen Schalter anzuknipsen versteht, vergisst Issa leider stets seine zahllosen Geliebten, unter deren wohlwollenden Blicken sie jahrelang versucht hatte, die Kinder mehr oder weniger allein aufzuziehen.

    Das aber ist nun Vergangenheit. Jetzt hat sie ganz andere Sorgen, nämlich: Wie kann sie das Weinberghaus finanziell noch eine Weile über Wasser halten?

    „Ganz einfach, sagt Gunter, und der altbekannte und hinreißend sichere Ton von Überlegenheit und Begeisterung kehrt in seine Stimme zurück, „du vermietest! Es ist ja reichlich Platz im Haus, wenn auch der großzügige Grundriss keine selbständigen Wohneinheiten hergibt, aber für eine WG wäre das Haus super geeignet, es hat ja viele Zimmer, und Mieter bringen dir Geld ins Haus. Such‘ dir tolerante Mitbewohner! Am besten Frauen.

    Gute Idee! Schon am nächsten Tag sucht sie los. Die toleranten Personen jedoch, die sich daraufhin einfinden, sind allesamt Männer und zwar solche, denen das Leben übel mitgepielt hat. Zuerst kommt Karl, siebzigjährig, aufrecht, groß und schlank, das Wort rüstig wäre in seinem Fall geradezu eine Beleidigung gewesen. Er hat wegen einer Fußamputation seine langjährige Stelle als Privathausmeister in einem großen Anwesen auf dem Eselsberg verloren und die dazugehörige Dienstwohnung auch. Nun trägt er eine nagelneue Fußprothese, vermeidet bei der Vorstellung peinlich jedwedes Hinken, er will um Gottes willen nicht behindert wirken. Auf keinen Fall möchte er zu seiner Tochter in die Stadt ziehen. Auf dem Eselsberg und nirgendwo anders will er leben. Ihm gefällt es im Untergeschoss des Weinberghauses. Den Mietpreis schlägt er selber vor, darüber hat Issa noch gar nicht nachgedacht. An Geld denkt sie immer nur im äußersten Notfall.

    Zweiter Bewerber ist Manfred, ein junger Ossi, Bio-Gärtner von Beruf, gut aussehend, zart von Gemüt und sehr melancholisch. Seine Ehefrau ist mit einem anderen durchgebrannt, der war weder jung noch zart und schon gar nicht melancholisch. Manfred sieht aus, als habe er noch nie im Leben satt zu essen bekommen. Statt auf einem Körper scheint sein schöner schmaler Kopf auf einem Kleiderständer zu stecken. Wenn er – sehr langsam und wohlartikuliert – spricht, hält er immer eine Hand vor den Mund, wie wenn er absichern wollte, dass nichts Unbedachtes herauskommt. Er wählt für sich das kleinste Zimmer aus, das es im Hause gibt.

    Dann erscheint der sanfte Joachim, ein Patriarch von Gestalt und eindrucksvoll von weißem Haupt- und Barthaar umwallt. Heilpraktiker und Masseur ist er und ein überzeugter Schüler von Satya Sai Baba im fernen Indien. Voller Freude erblickt er die vielen weißen Wandflächen in Flur und Treppenhaus und beginnt sogleich, sie mit schön gerahmten Fotos des verehrten Heiligen zu schmücken. Auch er ist von seiner Ehefrau verstoßen worden, denn er hat ihrer okkulten Karriere hinderlich im Wege gestanden. Gequält flüstert er: „Den ganzen Tag tanzt sie mit ihren spirituellen Gruppen, ich kann diese Musik einfach nicht mehr ertragen."

    Ganz zum Schluss stößt Karl-Heinz dazu, ein hochgewachsener Zweizentner-Mann und auch sonst von Bedeutung, ist er doch selbständiger Installateur im nahen Städtchen. Mit Sachverstand korrigiert er sofort etwas an der Zentralheizung und reserviert sich sodann zwei große Zimmer in Küchennähe. Er kocht gern, wie er sagt. Im Gegensatz zu den beiden anderen unglücklichen Ehemännern hat er sich freiwillig von Frau und Heimstatt getrennt. Klare Zeichen müsse er setzen, sagt er, seine Frau habe nämlich zum zweiten Male versucht, die Installationsfirma in den Konkurs zu treiben, indem sie völlig überzogene Luxuseinkäufe auf Kredit getätigt habe. Da sei nun ein Riegel vor.

    Was für eine glückliche Wendung diese Mitbewohner in Issas Leben bringen! Auf einmal hat sie Anschauungsmaterial in Fülle, an dem sie studieren kann, welche emanzipatorischen Chancen den Frauen von heute zur Verfügung stehen, auch und gerade den verheirateten. Diesen vorteilhaften Umstand hatte sie an Norberts Seite jahrzehntelang völlig übersehen. Nun ist sie voll heimlicher Bewunderung für die Ehefrauen ihrer Hausgenossen, die so energisch und unabhängig nach etwas ganz Neuem gegriffen haben. Issas fest gefügtes Bild von Ehe und Familie bekommt eigentlich erst jetzt einen tiefen Riss, durch den plötzlich ein frischer Wind hereinweht. Ihr Alltag verwandelt sich in liebenswürdigster Weise. Joachim massiert sie gratis und dezent, er möbelt dabei gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein entscheidend auf, indem er ihr leise, fast zärtlich im Tonfall, beim Massieren zu verstehen gibt, dass ihre Körperformen noch immer reizvoll seien, und dass man wahrlich von einem Hängebusen nicht sprechen könne.

    „Ein geliebtes Leben hinterlässt geliebte Spuren," philosophiert er versonnen, hält aber abrupt inne, als er bemerkt, wie wenig Grund sie alle beide haben, diese These zu unterschreiben.

    Manfred setzt den Kompost um, mehrere vernachlässigte Haufen, die er fachmännisch belüftet und ordentlich neu aufschichtet. So schnell wie jetzt hat Issa noch nie Humus aus Grünschnitt gewinnen können. Manfred beginnt ein Studium an der Hochschule in

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