Unterwegs: Biblische Weggeschichten heute
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Im Blick sind innere und äußere Prozesse, die, durch das Unterwegssein angeregt, in Be-Weg-ung geraten. Darum haben sie bis heute ihre Aktualität behalten.
Sie erzählen von konkreten Wegen biblischer Personen – von Abraham und Sara über Rut und Noomi, den Wegen des Paulus bis zum sprichwörtlichen breiten und engen Weg aus der Bergpredigt. Flucht-Wege stehen neben Pilgerwegen, Abschiedswege und auch die Wege Gottes werden zum Thema. Sich im eigenen Leben bewegen zu lassen, ist ein Angebot an alle Menschen.
Der Band schließt die langjährige Buchreihe »WerkstattBibel« ab.
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Book preview
Unterwegs - Verlag Katholisches Bibelwerk
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I. Teil
Bibeltheologische Einführung
1 10.000 Schritte im Land der Ideen
JHWH führte Abram hinaus und sprach: „Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst!"
Gen 15,5
Wer an „biblische Personen unterwegs" denkt, begegnet eher früher als später Abram und Sarai. Ihre Geschichte ist legendär: Zusammen mit Abrams Vater Terach und ihrem Neffen Lot sind sie schon von Ur in Chaldäa nach Haran ausgewandert (Gen 11,31). Später lassen sie Terach dort zurück und ziehen in hohem Alter weiter bis nach Kanaan. Im Gepäck haben Abram und Sarai die Verheißung, dass Gott sie dort zu einem großen Volk machen werde (Gen 12,1ff). Doch auch in Kanaan finden sie keine Ruhe: Hungersnöte lassen sie in Ägpyten Zuflucht suchen (Gen 12,10), und das verheißene Kind bleibt so lange aus, dass es darüber zu bedrohlichen Verwicklungen kommt (Gen 16). Gott bekräftigt zwar seinen Bund und gibt den beiden ihre neuen Namen Abraham und Sara (Gen 17). Doch auch dann dauert es noch, bis sich die Erfüllung der Verheißungen ankündigt.
Die wirklich wichtigen, lebensprägenden Wege gehen Abraham und Sara deshalb nicht auf den Straßen zwischen Haran, Ägypten und Kanaan, sondern in ihrem Innern. In ihrem Leben geht es um Aufbruch und Hoffnung, Verzweiflung und Vertrauen, Verunsicherung und Bestärkung. Orientierung brauchen und erfahren Abraham und Sara deshalb weniger an Straßenkreuzungen und Wegweisern, sondern im Land der Verheißungen und Perspektiven, dem „Land der Ideen" in dem sie ihr Leben lang unterwegs sind. Nicht zufällig werden gerade ihre Lebenswege deshalb über viele Jahrhunderte hinweg zur Inspiration: ProphetInnen und Geschicht(en)schreiber zur Zeit des Ersten Testaments berufen sich genauso auf sie wie noch später der Apostel Paulus, der in ihrem Weg ein Vorbild für die frühchristlichen Gemeinden seiner Zeit sieht.
Das passt dazu, dass wir bei vielen der biblischen Weg-Geschichten – vor allem, aber nicht nur bei jenen im Ersten Testament – kaum sagen können, ob die Wege, von denen dort erzählt wird, jemals konkret gegangen worden sind. Abraham und Rut, David und Mirjam und die vielen anderen biblischen Frauen und Männer, die in den Texten bedeutungsvolle Wege unter ihre Füße nehmen, sind zunächst biblische Erzählfiguren. Die Theologie beschreibt sie mehrheitlich als Kollektivpersönlichkeiten: In ihren Lebens(weg)geschichten entdeckt und erkennt Israel seine Identität als Volk Gottes unterwegs und erfährt sich dabei von Gott begleitet und manchmal auch verlassen, liebevoll geführt oder auch ausgeliefert. In manchen dieser Erzählfiguren, z.B. in den Familiengeschichten des Buches Genesis, verdichten sich die Erfahrungen historischer Gruppen wie z.B. der halbnomadischen Bevölkerung Israels und seiner Umwelt. In anderen wie z.B. Jaël oder Ester personalisiert sich die Hoffnung auf Rettung vor lebensgefährlicher Bedrohung des ganzen Volkes, z.B. durch feindliche Feldherren und Armeen oder im Exil.
Biblische Weg-Geschichten brauchen deshalb keine Historizität, um wahr zu sein. Aber sie brauchen Konkretion und Nachahmung: Sie laden dazu ein, mit den Texten als „innerer Landkarte" und den biblischen Erzählfiguren als BegleiterInnen eigene Weg-Erfahrungen zu machen. Sie regen dazu an, über eigene Lebenswege nachzudenken, neue Wege auszuprobieren und Schritt für Schritt das Gehen zu lernen: Gehen im Land der Ideen, des Suchens, Fragens und Zweifelns, des Loslassens, Aufbrechens und Ankommens, und in all dem: Schritte im Land des Glaubens. Nur eines wollen sie nicht: dass sich jemand vorschnell an und mit dem Ort zufrieden gibt, an dem er bzw. sie gerade zufällig ist.
2Wege, Laufen, Gehen: Biblische Streifzüge
Der Bote JHWHs fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle am Weg nach Schur.
Gen 16,7
Biblische Theologie beschäftigt sich zwar nicht mit dem Schrittzählen. Das Wörterzählen ist aber seit jeher ein wichtiges Mittel jüdisch-christlicher Textanalyse und Bibelinterpretation und steht oft am Anfang der Beschäftigung mit einem Thema: Wo, wie oft, mit welchen Bedeutungen und in welchen Textzusammenhängen kommen bestimmte Worte und Wendungen in der Bibel vor?
Das hebräische Wort für „Weg" (dérech) wird im Ersten Testament gut 700 Mal verwendet (von Gen 3,24 bis Mal 3,1) und ist damit eines der wichtigsten Substantive und zugleich ein theologischer Kernbegriff des Alten Testaments. Hinzu kommen acht weitere Worte ähnlicher Bedeutung mit insgesamt 130 weiteren Vorkommen.³
Die Bedeutungsnuancen des Wortfeldes sind äußerst zahlreich und vielschichtig. Sie reichen vom „normalen" Weg über Konkretisierungen wie Reise, Richtung, Feldzug u.ä. bis hin zu metaphorischen Bedeutungen wie Lebenswandel (ca. 1/3 aller Belege überhaupt!), Lebensweg/Ergehen, Ethik (= der zu gehende Weg), Geschichte (= Weg einer Person/ eines Volkes) und schließlich den Wegen/Plänen Gottes.
In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der Septuaginta, sowie im Neuen Testament deckt das äquivalente griechische Wort (hódos) ein ähnlich breites Bedeutungsspektrum ab. Erweitert man die Analyse auf Wortfelder wie Laufen, Gehen usw. (z.B. das hebräische Verb halách und das griechische poreúomai), kommen mehrere Tausend ebenfalls sehr vielschichtige Stellen hinzu. Und schließlich gibt es zahlreiche Texte, die inhaltliche Weg-Motive aufweisen, ohne überhaupt eines dieser Worte zu verwenden.
Diese Fülle und inhaltliche Vielfalt macht biblische Weg-Geschichten so attraktiv für Bibelarbeiten – und erschwert zugleich eine systematisierende Perspektive. Die hier gesetzten Akzente sind deshalb eine persönlich geprägte Auswahl, eine Handvoll frischen Wassers aus einer überreichlich sprudelnden Quelle. Zahlreiche wichtige Texte wurden allein deshalb nicht gewählt, weil sie bereits in früheren Bänden der WerkstattBibel unter anderen Aspekten behandelt wurden.⁴ Die folgende Zusammenstellung gibt deshalb die schon sehr beschränkte Textauswahl wieder, aus der die Projektgruppe der WerkstattBibel die fett gedruckten, in Teil III ausführlich bearbeiteten Texte ausgewählt hat, und soll einen kleinen Eindruck von der inhaltlichen Vielfalt biblischer Weg-Geschichten und möglicher Texte vermitteln:
3Flucht-Wege
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.
Jes 43,1f
Der erste Weg des Menschen ist, nach biblischer Erzählung, ein Flucht-Weg. Gott selbst vertreibt, verstellt den Rückweg, zwingt zum Blick nach vorne (vgl. die erste Bibelarbeit in diesem Band: Der Weg aus dem Paradies: Gen 3). Das bedeutet auch: Perspektive und Zukunft, Verheißung und neues Leben liegen nicht in der Rückkehr an einen Ort oder in eine Zeit, an dem bzw. zu der – angeblich – alles anders und besser gewesen sei. Zukunft eröffnet sich nur im Vorwärtsgehen. Die christliche Bibel drückt das auf besondere Weise aus: Das letzte Hoffnungsbild in der Offenbarung des Johannes verheißt keine Rückkehr ins verlorene Paradies, sondern die Ankunft einer neuen Stadt, des neuen Jerusalem (Offb 21). Dieses Bild greift zahlreiche Motive aus der Paradieserzählung wie z.B. den Lebensbaum und die Flüsse auf und macht damit klar: Gott nimmt die Wege, Erfahrungen und Lebensentscheidungen, die Menschen seit den Anfängen gegangen sind, ernst. Dabei müssen nicht alle Schritte von den Menschen selber geleistet werden. Gott kommt seiner Schöpfung am Ende nicht mit einer Wiederherstellung des Paradieses entgegen, sondern eben mit der Ankunft einer neuen Stadt, dem – ambivalenten! – Inbegriff kulturell-zivilisatorischer Kreativität.
So verliert der Flucht-Weg des Anfangs auch seine ausschließlich negative Bedeutung: Er wird zur Aufforderung und Ermutigung, das Leben selber in die Hand zu