Die Frau des Gefangenen: Historischer Roman
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Die Frau des Gefangenen - Elisabeth Hering
ELISABETH HERING
DIE FRAU DES GEFANGENEN
EINE ERZÄHLUNG UM HUGO GROTIUS
Sie hat die hellen braunen Augen ihres Vaters Pieter Reigersberg, des verstorbenen Bürgermeisters von Veere. Wie bei ihm wölben sich auch bei ihr die Brauen zu fast halbkreisförmigen Bögen, so dass sie dem Blick etwas Fragendes geben, etwas Eindringliches. Und die widerspenstigen dunklen Haare wollen sich, ebenfalls wie bei ihm, von keiner noch so strengen Frisur bändigen lassen. Von ihrer Mutter Maria Nicolai aber hat sie den geduldigen Mund und die etwas zu breite Nase, hat sie die untersetzte, ein wenig zur Fülle neigende Gestalt.
Nicht die Schönheit ebenmäßiger Gesichtszüge ist es, was Marie Reigersberg so anziehend macht, sondern die Anmut der flinken und sicheren Bewegungen und die Lebendigkeit eines Mienenspiels, aus dem eine fröhliche Tatkraft ebenso spricht wie eine stille und unerschütterliche Güte.
Sie ist noch nicht achtundzwanzig Jahre alt – und hat doch bereits sechs Kinder geboren, von denen sie zwei auch schon wieder begrub. Nun trägt sie das siebente unter dem Herzen, und die Niederkunft steht in wenigen Wochen bevor.
Das ist für sie jedoch kein Grund, sich zu schonen. Wo käme sie hin mit dem großen Haushalt und den vielen Verpflichtungen, die ihr die Stellung ihres Mannes auferlegt, wenn sie nicht diese unverwüstliche Gesundheit hätte, mit der ihr Körper die Bürde der Mutterschaft so willig trägt?
Ihr Gatte, Hugo de Groot, ist ein Mann, von dem die Welt spricht. In seiner Jugend schon hat seine Gelehrsamkeit Aufsehen erregt, und er war noch keine dreißig Jahre alt, als die Stadt Rotterdam ihn zu ihrem besoldeten Rechtsberater gemacht und ihm somit das Amt des Ratspensionars anvertraut hat. Aber sein Wissen bringt ihm mehr Ruhm und Ehre ein als Geld und Gut, und sein Amt mehr Sorgen und schlaflose Nächte als Reichtum.
Ja, wäre er ein Kaufmann, der seine Schiffe nach Ostindien schickt, um Gewürze und andere kostbare Waren heranholen zu lassen und sie nach allen Ländern Europas weiter zu verfrachten – er hätte seiner Frau ein reiches und bequemes Leben verschaffen können. Weisheit aber? – die verhökert man nicht! Und Bücher? – die schreibt man nicht um Geld! Man schreibt sie, weil einen von innen die Gedanken bedrängen, die man sich über Recht und Freiheit macht und über Krieg und Frieden – und über die Zustände der weltlichen Staaten und über Gott und sein Reich. Und trotzdem würde man sich vielleicht scheuen, die Feder in die Hand zu nehmen, weil man bei Plato und Seneca, bei Paulus und Augustin, im Corpus juris und in all den unzähligen anderen Schriften, in denen man unermüdlich studiert, alles das, was einem durch den Kopf geht, bereits ausgesagt findet – und besser ausgesagt! Aber da sind die Freunde, mit denen man in niemals enden wollenden Gesprächen um diese Gedanken ringt und sie klärt und läutert, und die nie müde werden, das Feuer des Geistes immer aufs neue anzuschüren. Sie fügen zu dem Gären von innen das Drängen von außen, denn sie meinen, dass alles, was die Alten gelehrt haben, neu gedacht und neu verarbeitet werden müsse für diese neue, unerhörte Zeit, in der sie leben – für dieses angehende siebzehnte Jahrhundert, das die Fesseln der Vergangenheit zerbrochen und ihre Irrtümer abgestreift hat – und das sich anschickt, nicht nur ferne Welten jenseits des Meeres zu erforschen, sondern alles Überlieferte auf seine Gültigkeit zu untersuchen ohne Scheu vor Tradition und Autorität.
Das Jahrhundert der Reformation ist über die Christenheit dahingebraust wie ein Gewitter. Aber seine Blitze, die die Missstände der Kirche treffen sollten, haben auch das Gebäude ihrer Einheit in Schutt und Asche gelegt. Und das kommende Zeitalter (das ist die Ansicht des jungen Gelehrten und seiner Freunde) hat keine kleinere Aufgabe als die, in einer von allen diesen Missständen gereinigten Kirche Frieden und Einigkeit wiederherzustellen.
Gewiss, es kann an dieser Aufgabe vorübergehen! Doch das würde ein Scheitern bedeuten, ein Versinken in einen Abgrund, dessen Tiefe kein Auge ermisst! Und diese Gefahr ist groß!
Wie also dürfte der Warner schweigen? Würde er sich dann nicht mitschuldig machen an dem Verhängnis, dem zu entgehen er Wege weisen kann?
Und seiner Feder, die er zu führen versteht wie andere Männer das Schwert, bedarf neben der Kirche auch das Vaterland – diese niederländische Erde, abgerungen nicht nur dem Meer, sondern abgerungen einem Feind, der grausamer ist und mächtiger als das Meer. Auch auf ihr kann das Leben nur im Frieden gedeihen, und auch gegen ihren Frieden und ihre Freiheit erheben sich Gewalten, von außen ebenso wie von innen.
Viele Männer führen die Feder, als sei sie ein Schwert – führen sie, um mit ihr zu verwunden. Er aber führt sie, um mit ihr Wunden zu heilen und klaffende Risse zu schließen, so viel schwerer das auch ist!
Wenn er ein Buch geschrieben hat, ist es für ihn ein leichtes, einen Drucker zu finden, denn er hat mit seinen sechsunddreißig Jahren einen Namen, der in England und in Frankreich und in Italien den gleichen Klang hat wie in Deutschland und in der heimatlichen Republik. Geld dafür freilich hat ihm noch keiner dieser Drucker angeboten, und er erwartet das auch nicht. Nur eine Anzahl Freistücke erhält er, und auch die nur in losen Bogen, so dass er noch Geld hinzu tun muss, um sie binden zu lassen, denn seinen Freunden will er doch seine Bücher, an denen sie so leidenschaftlich Anteil nehmen, in würdiger Form zueignen.
Marie ist immer die Erste, der er die Frucht seines Fleißes und seiner Gedankenkraft in die Hände legt, und in seinem Gesicht entsteht ein Lächeln wie in dem einer Frau, die ihrem Gatten ein Neugeborenes zum ersten Male entgegenhält.
Marie ist stolz auf ihren berühmten Mann. Sie schlägt das Buch bedächtig auf und betrachtet Seite um Seite, obwohl sie ebenso wenig damit anfangen kann wie der Vater mit dem Säugling, denn es ist in der Sprache geschrieben, deren sich die gelehrten Männer bedienen, wenn sie eintauchen in diese Abgründe von Begriffen und Definitionen und Haarspaltereien in Beweisen und Gegenbeweisen, mit denen sie sich das Leben schwer machen und die sie dennoch zu brauchen scheinen wie Atemluft. Keine Sprache der Welt ist besser dazu geeignet, die Gedanken bis zur Feinheit einer Messerschneide zu schärfen, als dieses Latein, das Hugo de Groot (der sich, als Gelehrter, in ebendieser Sprache Grotius nennt) beherrscht wie seit den Tagen des Tacitus und des Cicero nur wenige noch in Europa. Doch seine Frau kann nicht viel anderes tun, als mit den Blicken den goldenen Aufdruck des ledernen Einbandes zu streicheln, ehe sie das Buch ihres Mannes in den riesigen eichenen Bücherspind stellt. Das lässt sie sich nicht nehmen, und sie fährt dann jedes Mal auch mit dem Staubwedel über die vielen dort bereits in Reih und Glied stehenden Folianten – und sie handhabt den Wedel mit einer Gebärde scheuer Zärtlichkeit.
Dann nickt Hugo ihr freundlich zu – und das heißt, dass er weiterarbeiten will. Denn wie sagten schon die Alten? ‚Nach dem Sieg binde den Helm fester!‘ Und Marie versteht dieses Nicken, das sie jedes Mal stolz und zugleich ein wenig traurig macht, und sie lehnt sich nicht dagegen auf, sondern geht still aus seiner Stube, denn eine der stärksten Triebfedern ihrer Liebe ist der Respekt.
Und sie nimmt es als etwas Selbstverständliches hin, dass ihr nicht so viel Geld zur Verfügung steht wie den Frauen ihrer Verwandtschaft, deren Männer ihre ganze Zeit und Kraft dem Verdienen widmen. Und sie ist genügsam und wirtschaftlich und lädt sich mehr und mehr Arbeit auf die jungen Schultern.
So tritt sie an diesem schwülen diesigen Vormittag des 29. August 1618 aus der dunklen Toreinfahrt des Hauses, das ihrem Mann als Dienstwohnung angewiesen ist. Sie will zum Wochen- markt gehn. Elsken, ihre Magd, trägt ihr die Körbe nach.
Um die beste und frischeste Ware zu bekommen und doch einen Stüber oder zwei abzuhandeln, schreitet Marie Reigersberg von Fischhändler zu Fischhändler, von Eierfrau zu Eierfrau. Sie wägt die Krautköpfe in der Hand und prüft ihre Festigkeit, und sie achtet darauf, dass das Laub der Mohrrüben und der Sellerieknollen nicht welk sei. Endlich sind die Körbe gefüllt.
„Was brauchen wir aus der Fleischbank? fragt sie die Magd. – „Gepökeltes ist noch genug im Fass
, antwortet Elsken, „aber falls wir Gäste bekommen, brauchen wir Frischfleisch. Auch haben wir keinen Unschlitt mehr, und unsere Kerzen sind fast zu Ende."
Marie dankt der Magd mit einem lobenden Zunicken. Wie gut, dass Elsken so umsichtig ist! Die teuren Wachslichter sind allein für Hugo bestimmt, der seine Augen beim Studieren ja sehr anstrengen muss, aber für Küche und Kinderzimmer tut die Unschlittkerze genügend guten Dienst, wenn sie auch leichter ins Flackern gerät.
Ehe sie jedoch den Weg zu den Fleischbänken einschlagen, bleibt Marie vor dem Gewölbe des Gewürzkrämers stehen. „Warte hier draußen auf mich, Elsken, sagt sie zur Magd, „ich will nur schnell etwas Pfeffer besorgen – es ist nicht nötig, dass wir den engen Laden zu zweit betreten.
Das Glöckchen der Tür bimmelt. Es schneidet mit seinem schrillen Geläut das Gespräch zweier Frauen ab, die bereits vorm Ladenpult stehen, und von denen die eine gerade sagt: „Man hat den Advokaten und …", ehe die andere, erschreckend, ihr ein Zeichen gibt, dass sie verstummt.
Marie kennt die beiden Frauen nicht, aber ihr ist, als werde ihr flüchtiger Gruß sehr nachdrücklich erwidert, und als werde sie ungebührlich von oben bis unten von zwei Augenpaaren gemessen.
Sie wird dadurch unsicher. Zwar wohnt sie schon seit fünf Jahren in Rotterdam, und doch sind ihr die meisten Menschen hier noch fremd, während sie selbst, als Gattin des Ratspensionars, sehr vielen bekannt ist. Das bereitet ihr manche Verlegenheit, und um dem so schnell wie möglich zu entgehen, hält sie sich im Laden heute nicht länger auf als unbedingt nötig, während sie sonst mit dem Krämer einige freundliche Worte zu wechseln pflegt, sondern sie sagt nur knapp ihren Wunsch, zählt das Geld auf und verabschiedet sich kurz.
Der Hitzeschwall des schwülen Tages, der ihr entgegenfährt, benimmt ihr fast den Atem. Und im selben Augenblick auch dringt der Gesprächsfetzen, den ihre Ohren in dem Gewölbe des Krämers aufgefangen haben, erst richtig in ihr Bewusstsein: „Man hat den Advokaten und …"
Was heißt das? Beziehen sich diese Worte auf den Advokaten der Provinz Holland – auf Johann Oldenbarnevelt?
Ihr wird einen Augenblick lang schwarz vor den Augen. Sie lehnt sich an den Türstock, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Und dann sagt sie, und ihre Stimme klingt ihr selbst fremd: „Geh allein zur Fleischbank, Elsken. Hole vier Pfund Unschlitt. Frischfleisch brauchst du nicht mitzubringen – Gäste sind keine zu erwarten, wenn der Hausherr abwesend ist!"
„Was ist mit Euch, Mevrouw? ruft Elsken erschrocken, da sie sieht, wie blutleer das sonst so frische Gesicht ihrer Herrin mit einem Mal geworden ist. Aber Marie hat sich schon wieder ermannt. „Nichts
, sagt sie, und sie versucht zu lächeln. „Bloß die Hitze. Ich komme schon gut auch allein nach Hause. Nur bleib nicht gar zu lange aus."
Sie schlägt einen raschen Schritt an, wie um sich selbst zu beweisen, dass der Schatten von Angst, der ihre Seele gestreift hat, schon gewichen sei. Und doch gelingt es ihr nicht ganz. Denn schon als ihr Mann diesmal von ihr Abschied nahm, um zur Versammlung der niederländischen Stände, der ‚Generalstaaten‘, nach Den Haag zu reisen, hatte sich ihrer ein dumpfes Gefühl bemächtigt, und sie hatte es ihm nicht verhehlt: „Ein Gewitter braut sich zusammen um den Advokaten von Holland! Und wenn ihn ein Blitz fällt, wirst auch du mit getroffen!"
Aber mit wie gut gegründeten Beweisen hatte er die Furchtlosigkeit und die Zuversicht, die in ihm selbst lebten, auch auf sie übertragen!
Und hat er nicht recht? Steht nicht der greise Staatsmann, der, als Prinz Wilhelm von Oranien dem Meuchelmörder erlegen war, ins Schiff seines Landes sprang und es als treuer Lotse an allen Klippen vorbei und durch alle Brandungen hindurchbrachte, heute noch, trotz seiner einundsiebzig Jahre, fest und aufrecht da wie ein Fels im Meer, dem auch Blitze nichts anhaben können? Gewiss, er hat Feinde! Welcher große Mann hat keine Feinde? Aber sein ganzes Sinnen und Trachten ist doch auf nichts anderes gerichtet als auf Frieden!
Ist es ihm nicht gelungen, den anmaßenden Grafen Leicester aus dem Lande zu drängen, ohne dadurch die Unterstützung von dessen Herrin, der englischen Königin Elisabeth, zu verlieren? Wahrhaftig ein Diplomatenkunststück sondergleichen! Und ist es ihm nicht ebenfalls gelungen, den grausamsten und blutdürstigsten Feind, den die niederländische Erde jemals gesehen hat, den Spanier, zu einem Waffenstillstand zu veranlassen, in dem das Haus Habsburg die Selbstständigkeit der sieben Vereinigten Provinzen anerkennen musste? Und jetzt, da die Waffen nach vierzig schweren Jahren endlich ruhen, aber innere Zwistigkeiten den Frieden des Landes bedrohen – steht da nicht jede Maßnahme, die er ergreift, im Einklang mit der Verfassung des Bündnisses, das die Vereinigten Provinzen im Jahre 1579 in der Utrechter Union miteinander geschlossen haben? Eines Bündnisses, in dem die alten Freiheiten, die der Spanier so lange mit Füßen getreten hat, wieder auferstanden sind? Eines Bündnisses, auf völlige Gleichberechtigung gegründet, in dem die Stände jeder Provinz und die Stände aller Städte Herren sind in ihrem eigenen Haus und niemand (auch die Generalstaaten nicht) ihnen hineinreden darf, wenn sie in ihrem Bereich etwas bestimmen in Angelegenheiten der Kirche oder des Landes?
Sollte also Holland, die bedeutendste der sieben Provinzen – sollten Städte wie Leiden und Utrecht und Haarlem und Rotterdam nicht ein Recht haben, die kirchlichen Zwistigkeiten beizulegen in ihrem Gebiet und es nicht mehr zu dulden, dass die Anhänger des Arminius und des Gomarus sich von den Kanzeln weiter beschimpfen und verketzern?
Als Marie ihren Mann so hatte sprechen hören, da hatte sich seine Sicherheit auch auf sie selbst übertragen. Ja gewiss – man lebte nicht in einem Lande wie Spanien, in