Melatonin: Das Geheimnis eines wunderbaren Hormons
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Melatonin - Dr. Jan-Dirk Fauteck
geht.
Einleitung
Unser Leben wird von Rhythmen bestimmt, ebenso wie unser Körper: Wir stehen morgens auf, wir essen mehrmals am Tag, verrichten diverse Tätigkeiten, in der Nacht schlafen wir. Verantwortlich für diese Rhythmussteuerung ist ein Hormon, das erst Mitte der 1950er-Jahre entdeckt wurde: Melatonin. Seitdem macht es in seiner „Karriere als Untersuchungsobjekt Quantensprünge und wird immer wieder mit neuen vielversprechenden Synonymen bedacht: Melatonin gilt als das „Schweizer Messer
(Reiter et al. 2014a) unter den Hormonen, als multifunktionales Talent, das mit seiner vielseitigen Wirkung auf unsere Gesundheit längst zum Star-Hormon avanciert ist. Doch hält es auch, was es verspricht?
Die Wissenschaft ist sich einig: Melatonin als das Multitasking-Hormon (Reiter et al. 2014a) hat schon jetzt alle Erwartungen bei weitem übertroffen! Und es ist noch mehr zu erwarten, denn die Forschung steckt, verglichen mit den jahrzehntelangen intensiven Untersuchungen anderer Körperfunktionen, noch in den Kinderschuhen.
Neben seinem schlafunterstützenden Effekt schützt Melatonin als potentes Antioxidans unseren Körper vor freien Radikalen und sichert Lebensqualität und geistige Fitness auch im hohen Alter. Es stärkt unser Immunsystem, senkt den Blutdruck und Cholesterinspiegel und kann damit helfen, Herzerkrankungen vorzubeugen. Aktuelle Studien beweisen zudem seine hervorragende Wirksamkeit u.a. in der Behandlung von Krebs, Diabetes, Migräne, chronischen Schmerzen, Augenerkrankungen oder Unfruchtbarkeit. Melatonin ist damit ein wahrer Tausendsassa für unsere Gesundheit.
Stellen Sie sich Ihre Organe als Orchester vor, das nur durch perfektes Zusammenspiel unter der Leitung eines begnadeten Dirigenten reibungslos funktioniert. Am Dirigentenpult: Melatonin, unser körpereigener Taktgeber, der für den Rhythmus sorgt und in der Nacht an alle wichtigen Körperfunktionen und Organe das Signal zur Regeneration gibt. Stimmt unser Rhythmus nicht mehr, kommt unser Körper aus dem Gleichgewicht. Ein Thema, mit dem sich die Chronobiologie seit erst rund zwei Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Dank dieser jungen Wissenschaft haben wir erkannt, wie wichtig die Feinabstimmung der Rhythmizität für unsere Gesundheit und im Kampf gegen viele Krankheiten ist. Schon jetzt liefert uns die Chronobiologie maßgebliche physiologische und pathologische Erkenntnisse für eine individuelle Medizin. Und noch viel mehr ist in der Zukunft von dieser Wissenschaft zu erwarten.
Seit fast zwei Milliarden Jahren vorhanden
Melatonin wird vor allem in der Zirbeldrüse produziert, die als Epiphyse oder Glandula pinealis seit Jahrtausenden erforscht wird. Schriftlich wurde die Pinealis erstmals bei Galenus von Pergamon (130 bis 200 n. Chr.), einem griechischen Arzt und Astronomen, erwähnt, der als Erster ihre Form, Struktur und Funktion beschrieben hat. Galenus wie auch andere griechische Philosophen sahen den Sitz der Seele bereits im Gehirn, d.h. speziell in der Pinealis, und nicht wie bis dahin üblich im Herzen. (Vgl. z.B. Kunz 2006, Arendt 1995, Yu et al. 1993)
Auch der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes beschäftigte sich, auf der Suche nach dem Sitz des Denkens, mit der Zirbeldrüse. Er war fasziniert von der Pinealis und schrieb ihr, gewissermaßen als „drittes Auge", die Kontrolle der Körperbewegungen zu. Denn er war überzeugt, dies geschehe über die Retina, die Netzhaut des Auges. Und: Descartes war der festen Meinung, der Sitz der Bewegung liege in der Pinealdrüse.
Abb. 1: Historische Abbildung nach Descartes
Im 17. Jahrhundert kam diese Theorie dann wieder ins Wanken: Wissenschaftler dieser Zeit betrachteten die Pinealis lediglich als verkümmerte Drüse ohne jegliche Funktion. In den folgenden Jahrhunderten weckte die pinienförmige Zirbeldrüse – daher auch ihr lateinischer Name Glandula pinealis – das Forschungsinteresse nur selten und lediglich halbherzige Untersuchungen wurden angestellt. Dennoch wurde immer wieder der Versuch unternommen, ihr Mysterium zu lüften, doch behielt sie bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts viele ihrer Geheimnisse.
1950er-Jahre: Melatonin wird entdeckt
Bewegung in die moderne Melatonin-Forschung kam 1958 durch den Dermatologen Aaron Lerner. Mit Tests an Amphibien wollte er jenes Hormon, das für den bleichenden Faktor ihrer Haut verantwortlich ist, untersuchen. Dafür interessierte er sich besonders für die Zirbeldrüse, die bisher auf kein großes wissenschaftliches Interesse im dermatologischen Bereich gestoßen war. Nach vier langen Forschungsjahren glückte Lerner der Durchbruch und er konnte das Hormon benennen, das für die Hautbleichung verantwortlich ist: „N-acetyl-5-methoxy-tryptamin, das er kurz als „Melatonin
bezeichnete, eine Wortschöpfung aus dem Pigmentstoff „Melanin (Mela-) und dem Glückshormon „Seratonin
(-tonin), aus dem Melatonin – vereinfacht ausgedrückt – produziert wird.
Lerner war es auch, der durch einen Selbstversuch erstmals die schlafunterstützende Wirkung von Melatonin entdeckte: Er nahm 100 mg Melatonin ein und bemerkte, dass er, außer großer Müdigkeit, keine Nebenwirkungen verspürte. Ein weiterer Durchbruch gelang 1963, als Richard Wurtmann herausfand, dass Melatonin nur in der Dunkelheit in den Kreislauf gelangt bzw. produziert wird.
Die negative Wirkung von Licht auf die Melatoninproduktion konnte Alfred Lewy 1981 erstmals beweisen – eine wichtige Erkenntnis auch für die Chronobiologie. Somit konnte nämlich gezeigt werden, dass der Taktgeber Hell-Dunkel in unserem Körper in ein Signal übersetzt wird, das in weiterer Folge unseren Rhythmus bestimmt. Gerade diesem Unterschied von Tag- und Nacht-Rhythmus – zum Beispiel beim Jetlag – und seinen Auswirkungen auf unseren Körper und unsere Gesundheit haben sich bis heute viele Forscher verschrieben. (Vgl. dazu Johnston & Skene 2015)
Vom Hype zur intensiven Forschungsarbeit
Ab den 1980er-Jahren intensivierte sich das Interesse an Melatonin und seiner Erforschung – und hält bis heute an (Varoni et al. 2016) –, um seinen vielfältigen Wirkungen auf unsere Gesundheit auf den Grund zu gehen. Noch vieles bleibt zur Wirkungsweise zu erforschen, bisherige Studien lassen aber ein noch breiteres Spektrum seiner positiven Effekte auf unseren Organismus erwarten als bisher angenommen.
Seinen „Hype erlebte Melatonin in den 1990er-Jahren, vor allem in den USA: Als Wundermittel propagiert, stürzten sich die Amerikaner geradezu auf die bald frei verkäuflichen Präparate, noch gefördert durch das 1995 erschienene Buch „The Melatonin Miracle
. (Pierpaoli & Regelson 1995) Erste Studien und Tests erteilten allen wundersamen Versprechungen dieser Publikation eine Absage: Skepsis über die nicht eindeutige und erhoffte Wirkung von Melatonin war die Folge. (Reiter & Robinson 1995)
In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich das Interesse an Melatonin sprunghaft: Laut PubMed, einer englischsprachigen Datenbank mit wissenschaftlichen Artikeln zur gesamten Biomedizin, wurden im Jahre 1995 465 Arbeiten zu Melatonin veröffentlicht. 2016 waren es 1.092 Arbeiten, die in hochwissenschaftlichen Zeitschriften publiziert wurden. Sie sehen: Das Forschungsinteresse an Melatonin ist enorm, insgesamt werden auf PubMed derzeit (Stand: Jänner 2017) sage und schreibe 21.893 Beiträge gelistet, die sich mit der Wirkung von Melatonin beschäftigen.
I. Grundlagen aus der Melatonin-Forschung
Chronobiologie
Die Chronobiologie, die Wissenschaft der inneren Rhythmen, leitet sich ab aus den griechischen Wörtern „chrónos (Zeit), „bíos
(Leben) und „lógos" (Rede, Wort). Sie beschreibt damit unsere biologischen Rhythmen, die beeinflusst sind von inneren (endogenen) und äußeren (exogenen) Taktgebern, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen. Herzschlag, Atmung, Schlaf – all das wird von unseren inneren Rhythmen gesteuert.
Der wichtigste exogene Taktgeber ist die Sonne. Vor Urzeiten, als unsere Vorfahren noch nicht einmal das Feuer für sich entdeckt hatten, passte sich der Mensch diesem natürlichen Zeitgeber an. Ab Sonnenaufgang arbeitete man, die Nacht diente dem Schlaf und der Regeneration.
Die Rhythmik unseres Körpers
Hormone, Organe, unser ganzer Körper folgt einer bestimmten Rhythmik, die wiederum den Tageszeiten unterworfen ist. Haben Sie schon einmal Schuhe am frühen Vormittag gekauft? Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie Ihren neuen Kauf am Abend zum Ausgehen anprobiert haben? Haben sie noch genauso gut gepasst wie zu Beginn des Tages? – Vermutlich nicht, was mit Ihren geschwollenen Füßen zusammenhängt, und dies wiederum mit der Rhythmik Ihres Körpers.
Oder ein anderes Beispiel: Wann kuscheln Sie am liebsten mit Ihrem Partner? Am Vormittag? Oder zu Mittag? Vermutlich eher am Abend und das ist völlig normal. Denn die Wissenschaft weiß längst, dass die Sexualhormone des Menschen keineswegs vor dem Schlafengehen auf ihrem Höchststand sind, sondern vielmehr morgens, wenn die Geschlechtsorgane gut durchblutet und weich sind. Das sogenannte „Kuschelhormon" hingegen hat seinen Höhepunkt zum Abend hin.
Abb. 2: Der Rhythmus des Lebens
Sie sehen schon: Alle Vorgänge in unserem Körper werden von einem Rhythmus bestimmt, der mitunter sogar messbar ist, wie das Schuh-Beispiel zeigt. Auch unsere Körpergröße variiert, ähnlich wie die Füße, im Laufe eines Tages zwischen ein und zwei Zentimetern. Für die medizinische Diagnostik ist es ebenfalls wichtig, die Gesetze der Chronobiologie zu beachten: Eine Blutanalyse am Abend durchgeführt, zeigt im Ergebnis mehr Blutkörperchen als am Morgen.
Unbewusst wenden Sie die Gesetzmäßigkeiten der Chronobiologie vermutlich schon jetzt an: Wenn Sie eine Frau sind, tragen Sie morgens vielleicht eine leichtere Hautcreme mit UV-Schutz auf als am Abend. Wenn Sie eine Diät machen, nehmen Sie am Abend wohl kaum eine Kalorienbombe zu sich. Viele Menschen verzichten ab einer bestimmten Uhrzeit auf Kaffee, weil sie dann nur schwer einschlafen können. Die Chronobiologie bestimmt damit viele unserer täglichen Handlungen, ohne dass wir diese bewusst wahrnehmen. (Siehe Abb. 2, S. 19)
Chronobiologie: Früher belächelt, heute anerkannt
Die Chronobiologie hat sich erst spät, Mitte der 1980er-Jahre, als eigenständige und anerkannte wissenschaftliche Disziplin etabliert. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die tageszeitlichen rhythmischen Schwankungen unseres Körpers, zum Beispiel die Herzfrequenz, der Blutdruck oder die Körpertemperatur, nicht mehr als pathologische, also krankhafte Erscheinungen betrachtet, sondern als physiologische, natürliche Prozesse.
Was drei Jahrzehnte zuvor noch belächelt wurde, wird heute intensiv erforscht – mit beeindruckenden und erstaunlichen Ergebnissen zum Zusammenspiel von Körper, Geist und Zeit. Untersuchungen haben gezeigt, dass zum Beispiel Herzfrequenz, Blutdruck oder Körpertemperatur rhythmisch während des Tages schwanken: So ist Ihre Körpertemperatur in der Früh höher als am Abend. – Ein ganz natürlicher Vorgang, denn Ihr Organismus passt sich seiner Umgebung an.
Wenn diese Anpassungsleistung fehlt oder Ihre Biorhythmen Störungen ausgesetzt sind, kommt es zum Stress für den Organismus – mit oft ernsten Konsequenzen für die Gesundheit. Denken Sie an Menschen, die täglich Schichtarbeit leisten, mit völlig unterschiedlichen Tag-Nacht-Rhythmen. Studien haben ergeben, dass sie wesentlich öfter an Diabetes, Bluthochdruck und Krebs leiden. Ihre inneren Rhythmen sind völlig aus dem Gleichgewicht, sie arbeiten eigentlich gegen ihren Rhythmus, was zusätzlich zu Verdauungsproblemen, Nervosität, Schlafstörungen, Herzkrankheit, reduzierten Gedächtnisleistungen und minderer Konzentration führen kann. All diese Rhythmusstörungen haben eins gemeinsam: eine gestörte, oftmals erniedrigte Melatoninproduktion.
Die gedrosselte Melatoninproduktion stört auch Prozesse der Zellteilung und Zellreparatur, wodurch das Risiko einer Tumorbildung erhöht wird. Ältere (z.B. Reiter & Robinson 1995) und neuere Studien (z.B. Vetter et al. 2016, Bhatti et al. 2016, Qian & Scheer 2016) kommen stets zum selben Schluss: Jede Störung unseres natürlichen Rhythmus bzw. eine veränderte Melatoninfreisetzung zieht schwere Folgen für unsere Gesundheit nach sich.
Das dritte Auge: Melatonin als Botschafter des Tag-Nacht-Rhythmus
Licht und Dunkel – diese Impulse bestimmen unsere Wachzeiten und unseren Schlaf, kurz: unseren Tag-Nacht-Rhythmus. Melatonin, das Hormon der Dunkelheit, gibt die Information „Nachtbetrieb" an unser Gehirn und alle anderen Organe in unserem Körper weiter: Die Körpertemperatur sinkt, unsere Organe beginnen mit ihrer Regeneration.
Melatonin wird hauptsächlich in der Zirbeldrüse (= Pinealorgan), dem sogenannten „dritten Auge", gebildet. Es wird deshalb so bezeichnet, weil jeder Lichtimpuls von der Netzhaut des Auges, der Retina, an die innere Uhr, den SCN – Nucleus suprachiasmaticus – weitergeleitet wird, der eine Schaltzentrale unseres Gehirns ist. Der SCN wiederum ist über einen komplexen Weg mit der Zirbeldrüse verbunden, wo das Melatonin vor allem in der Nacht, also bei kompletter Dunkelheit, gebildet wird.
Abb. 3: Schematische Darstellung der komplexen Verknüpfung verschiedener Zeitgeber (modifiziert nach Hardeland 2013)
Weitere Orte im Körper, wo das Melatonin während des Tages produziert wird, sind der Verdauungstrakt oder die Blutplättchen, die Retina, der Hoden und die Eierstöcke, das Rückenmark, die Lymphozyten, die Haut usw. – Dieses, auch bei Tageslicht produzierte, Melatonin hat vor allem lokale Effekte, zum Beispiel in seiner Wirkung als Antioxidans. Inwiefern und ob überhaupt das hier produzierte Melatonin die nächtliche Melatoninproduktion in der Zirbeldrüse beeinflusst und somit auch als übergeordneter Zeitgeber funktioniert, ist noch Gegenstand von Untersuchungen. (Siehe Abb. 3)
Biologische Rhythmen: Durch Licht und Dunkelheit reguliert
Melatonin wird, wie erwähnt, vor allem bei Dunkelheit, also in der Nacht, im Pinealorgan produziert und freigesetzt. Licht hingegen unterdrückt diese Produktion. Die Information „Dunkelheit" wird durch das Melatonin an fast alle Zellen und Organe weitergegeben. Das Hormon wirkt dadurch wie ein innerer Signal- und Zeitgeber auf die Zellen und Organe ein, denn jede Zelle folgt einer bestimmten Rhythmik. (Siehe Abb. 4, S. 24)
Während des Tages wird sehr wenig Melatonin ausgeschüttet, erst am Abend beginnt die intensive Produktion. Gegen 23:00 Uhr schnellt der Pegel des „Schlafhormons auf das Achtfache des Tagespensums. Das ist das Signal für den Befehl „Nachtbetrieb
an die Organe, und das Gehirn speichert jetzt zum Beispiel die wichtigen Informationen vom Tag ins Langzeitgedächtnis.
Abb. 4: Schematische Darstellung des normalen Melatoninrhythmus eines Erwachsenen
Diese Ruhezeiten sind für die Organe und unseren Organismus lebenserhaltend und gesundheitsfördernd. Das zeigt sich auch daran, dass die Wissenschaft heute mehr als 100 Leiden unterscheidet, die als schlafbezogen gelten! (Siehe Abb. 5)
Ist unser Schlaf gestört, kann das viele Ursachen haben. Wir leben in einer Zeit, in der wir permanent Licht ausgesetzt sind: der Fernseher und das Handy mit ihrem blauen Licht, der Wecker neben unserem Bett – all diese Geräte sind Rhythmuszerstörer, die unseren Melatoninhaushalt durcheinanderbringen. (Vgl. z.B. Chang et al. 2015)
Studien haben gezeigt, dass