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Last Exit Schkeuditz West: Vom wahren Leben im Regionalexpress
Last Exit Schkeuditz West: Vom wahren Leben im Regionalexpress
Last Exit Schkeuditz West: Vom wahren Leben im Regionalexpress
Ebook177 pages1 hour

Last Exit Schkeuditz West: Vom wahren Leben im Regionalexpress

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Voller Zuversicht wagt Bettina Baltschev den gefährlichsten Schritt ihres Lebens: Sie beginnt eine Existenz als Pendlerin, als Pendlerin in der Regionalbahn. Doch bald muss sie erkennen, dass die Abgründe zwischen Lützschena, Dieskau, und Schkeuditz West tief sind, dass die Pendlerwelt sich auf keiner Karte einzeichnen lässt und dass der Satz "Survival of the fittest" zu den schlechtesten Thesen der Weltgeschichte gehört. Das mutige, nötige und vor allem witzig geschriebene Buch erzählt vom wahren Leben im Regionalexpress.
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Herder
Release dateOct 1, 2010
ISBN9783451334740
Last Exit Schkeuditz West: Vom wahren Leben im Regionalexpress

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    Book preview

    Last Exit Schkeuditz West - Bettina Baltschev

    Dieses Buch ist allen Pendlern gewidmet.

    [zurück zum Inhaltsverzeichnis]

    1.

    Meine Unschuld verlor ich mit dem Kauf einer Abo-Karte. Schon Tage bevor mein Leben als Pendler überhaupt begann, hatte ich mir dieses zart glänzende Plastikkärtchen zugelegt.

    Herr Koslowski, der Mann von den Leipziger Verkehrsbetrieben, füllte mit seiner kleinen festen Handschrift ein Formular mit allerlei Angaben zu meiner Person aus, darunter Geburtstag, Schuhgröße, Haarfarbe sowie Aszendent. Dann erkundigte er sich in einem selbstbewussten sächsischen Tonfall nach den Gründen meiner zukünftigen „Bendelei. Ich erzählte es ihm und er gratulierte mir zu meinem neuen Job in einem gläsernen Kasten in der Innenstadt von Halle an der Saale. Er sagte mir, dass er bereits seit 25 Jahren bei den Leipziger Verkehrsbetrieben war und sich keine schönere Arbeit vorstellen konnte. Falls mir die Lust am „Bendeln also einmal verginge, sie würden immer clevere Auszubildende suchen. Ich nickte und betrachtete den Kalender hinter seinem Schreibtisch, auf dem eine polierte blau-gelbe Straßenbahn ums Leipziger Rathaus bog. Herr Koslowski folgte meinem Blick.

    „Den gibt es ab fünf Zonen gratis dazu."

    Ich hatte gerade einen Vertrag über fünf Zonen abgeschlossen.

    „Soll ich Ihnen einen einpacken?"

    „Och."

    „Es gibt auch welche mit Bus."

    „Nein danke, das ist wirklich nicht nötig."

    Mit einem Lächeln überreichte Herr Koslowski mir meine Abo-Karte, behauptete, ich könne ihn bei Problemen jederzeit anrufen, und wünschte mir allzeit gute Fahrt. Fast hätte ich den Mann zu meiner Jungfernfahrt eingeladen, was ich aber nicht tat. Herr Koslowski hatte sicher Besseres zu tun.

    Außerdem hatte ich mir die Abo-Karte nicht zum Vergnügen gekauft. Wer wird schon zum Vergnügen Pendler? Natürlich hätte ich meinem neuen Job auch hinterherziehen können. In Halle an der Saale wird man in einer Sänfte über den Marktplatz getragen und darf mit der Oberbürgermeisterin essen gehen, wenn man dort eine Wohnung mietet. Aber Leipzig war von der New York Times gerade zu den Hotspots dieser Welt gewählt worden, noch vor Berlin, ich konnte die Stadt also unmöglich verlassen.

    Mit meiner Abo-Karte hatte ich das Recht erworben, ein Jahr lang sooft ich wollte zwischen Leipzig und Halle hin- und herzureisen und in beiden Städten auch noch hemmungslos Straßenbahn und Bus zu fahren. Was wollte ich mehr? Die alte Devise der deutschen Automobilindustrie „Freie Fahrt für freie Bürger!", endlich würde sie auch für mich gelten.

    Und ich fühlte mich tatsächlich frei wie lange nicht. Denn so wie eine Kreditkarte unendliche finanzielle Freiheit verspricht, so verspricht eine Abo-Karte unendliche räumliche Freiheit. Dass diese Freiheit nur bis kurz hinter Halle an der Saale reichte, es interessierte mich in dem Moment nur wenig.

    Wieder zu Hause, saß ich auf meinem Sofa, vor mir eine Landkarte und ein Globus, und malte mir meine Zukunft aus. Ich stellte mir vor, wie ich stundenlang im Regionalexpress, in der S-Bahn, in Bussen und in Straßenbahnen sitzen würde, wie ich staunend meine Region und ihre Bewohner entdecken, wie sich der Begriff Heimatkunde mit Leben füllen würde. Ich konnte noch in die kleinsten Orte vordringen, die Geheimnisse von Land und Leuten lüften und Tieren begegnen, die ich als Großstadtbewohner längst für ausgestorben gehalten hatte. Mein Horizont würde sich ins Unermessliche weiten, ich würde das Glück finden, nach dem ich so lange gesucht hatte, und das alles dank einer kleinen blau-gelben Karte.

    Ich bin nicht religiös, aber ich würde fast sagen, diese Stunden vor der Landkarte und dem Globus, die noch unberührte Abo-Karte in der Hand, es waren Stunden der Seligkeit. In mir mein schnell schlagendes Herz, vor mir nichts weniger als die Welt.

    Merkwürdigerweise kam es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, die Strecke zwischen Leipzig und Halle mit dem Auto zurückzulegen. Vielleicht stießen mich ja die Einsamkeit ab oder die täglichen Staus. Vielleicht dachte ich an die Umwelt oder die Benzinpreise, ich weiß es heute nicht mehr genau. Aber zwei Gründe müssen dafür gesorgt haben, dass der Gedanke erst gar nicht aufkam: Ich hatte kein Auto, und ich hatte auch keinen Führerschein.

    An den sonnigen Morgen im Mai, an dem mein Leben als Pendler begann, erinnere ich mich gut, denn es war ein aufregender Tag. Ich, frisch geduscht, gutgelaunt, tat zum ersten Mal das, was Millionen Deutsche tagtäglich tun: mit öffentlichen Verkehrsmitteln in eine andere Stadt zur Arbeit fahren. Ich schloss mein Fahrrad, mit dem ich von meinem Haus zum Leipziger Hauptbahnhof geradelt war, an einen Laternenpfahl und begab mich, ein Lächeln auf den Lippen, zum Bahnsteig 14.

    Ich kaufte mir auf dem Weg dorthin eine Zeitung und einen Kaffee. Als ich an einem Fahrkartenautomaten vorbeikam, hätte ich ihm am liebsten einen Tritt versetzt, tat es aber nicht, denn ich war nicht allein. Um mich herum strömten meine Schicksalsgenossen in dieselbe Richtung wie ich. Weil die Sonne an diesem heiter-beschwingten Morgen durch das gewölbte Glasdach des Bahnhofs blinzelte, wie sie es sonst nur in Verfilmungen englischer Schmonzettenschreiberinnen tut, erschienen sie mir ebenfalls frisch geduscht und gutgelaunt. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Pendler sind wirklich sympathische Menschen. Sie sind etwas ganz Besonderes, so wie ich!"

    Gemeinsam stiegen wir in die leuchtend roten Waggons des Regionalexpress, die, wie praktisch, Doppeldecker waren. Für mich gab es selbstverständlich nur eine Richtung, nach oben. Dort fand ich, Zufall oder Anfängerglück, sogar noch eine freie Pendlerkoje, bestehend aus zwei mal zwei Plätzen. Die konnte, das lernte ich schnell, ein einzelner Reisender durchaus brauchen. Einen Sitz für sich selbst, einen für die Handtasche, einen für die Zeitung und den vierten bekam man auch schon irgendwie unter. Jacken, Tüten, Füße, Käsebrötchen, Becher mit Getränken, Hauptsache, das Revier war abgesteckt.

    Unbedarft, wie ich war, schaute ich den drei jungen kräftigen Männern mit Kurzhaarschnitt und Kapuzenshirt, die den Gang entlanggeschlurft kamen, freundlich entgegen. Mein offener Blick wurde von ihnen sofort als Einladung verstanden, die nächsten 25 Minuten mit mir zu verbringen. Zum Dank, dass ich Handtasche, Zeitung und Jacke hastig an mich riss und auf meinem Schoß zu sortieren versuchte, mich gegen das Fenster drückte und mir den heißen Kaffee fast über die Bluse kippte, grunzte mir einer der jungen kräftigen Männer etwas zu, während die beiden anderen sofort breitbeinig einschliefen. Der, der gegrunzt hatte, blieb wach und rollte eine Bild-Zeitung auf.

    Weil in einer Pendlerkoje immer nur Platz für eine Zeitung ist, ließ ich meine unausgerollt, begrüßte Wiesen, Felder und Bahnhofsbaracken, die draußen vorbeizogen, und starrte dem Girl von Seite eins auf Brüste und Beine.

    Zwischendurch bemühte ich mich, meine eigenen Beine so zu platzieren, dass es weder per Knie mit meinem Gegenüber noch per Hüfte mit meinem Nebenmann zum Körperkontakt kam. Es gelang nur mäßig. Denn hatte die Koje, als ich sie allein besaß, noch einen recht geräumigen Eindruck gemacht, so ahnte ich in diesem Moment, dass „Platz und „Plätze im Regionalexpress nicht zwangsläufig derselben Wortfamilie angehören. Genug Plätze waren ganz objektiv da, aber Platz eben nicht, jedenfalls nicht für vier erwachsene Menschen, wovon drei, wie soll ich das diplomatisch ausdrücken, ihre jungen kräftigen Gliedmaßen vor allem dafür benutzten, ihrer Rolle als Platzhirsch (sic) Ausdruck zu verleihen.

    Da hatte es die Dame in der gegenüberliegenden Koje besser. Sie hatte es geschafft, ihr Revier zu verteidigen. Kaffee in der Hand, Qualitätstageszeitung weit ausgebreitet, das cremefarbene Jackett zart gefaltet neben sich und ihre Frisur, die saß auch noch. Diese Frau musste Profi sein. Ich nahm mir vor, sie bei nächster Gelegenheit um ein paar Pendlertipps zu bitten. Vorbeugen ist schließlich besser als heilen.

    Immerhin erwartete mich an diesem Morgen noch eine Taufe. Schon als ich vom anderen Ende des Waggons die Stimme des Priesters hörte, lief mir ein wohliges Kribbeln den Rücken hinunter. Endlich konnte ich meine Abo-Karte feierlich ihrer Bestimmung übergeben. Ich wollte es ganz lässig tun, so lässig, dass alle um mich herum glauben würden, auch ich wäre Profi und die jungen kräftigen Männer würden nur bei mir sitzen, weil sie mein Lächeln betört hatte.

    Leider war dem Zugbegleiter die Dimension des Augenblicks nicht ganz bewusst. Er hob weder zu einer Taufpredigt noch zu einem feierlichen Gesang an, sondern brachte es nur zu der profanen Aufforderung: „Die Fahrscheine zur Kontrolle bitte!" Aber ich war nur kurz enttäuscht. Denn ist es nicht mit allen großen Momenten im Leben so, dass sie schneller vorbei sind, als man gucken kann?

    Kaum hatte Hajo Hennig – sein Name stand auf dem Schildchen an seiner Brust – meine Karte abgenickt, schenkte er seine gesamte Aufmerksamkeit bereits den Platzhirschen. Es schien ihm ein besonderes Vergnügen zu bereiten, süße Pendlerträume zu beenden. Erst räusperte er sich sehr deutlich, dann bohrte er seinen Zeigefinger in die Oberarme der beiden schlafenden Engel, bis die endlich die Augen öffneten.

    Und was stellte sich heraus? Auch die drei Muskeltiere hatten bei Herrn Koslowski Pendler-Abos abgeschlossen. Sie hielten Hajo Hennig die in Brust- und Hosentaschen auf Körpertemperatur hochgewärmten Karten hin, ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen. Mein Gott, das war wirklich lässig.

    Doch statt mich neidischen Gefühlen zu ergeben, hörte ich interessiert zu, wie Hajo Hennig nun aus seinem Zugbegleiter-Kabuff spezielle Pendler-Angebote der Deutschen Bahn durchsagte. Er versuchte uns für die sachsen-anhaltinische Landesgartenschau in Aschersleben zu begeistern und legte uns Familientickets bis in den Harz sowie ayurvedische Wochenenden im Mansfelder Land ans Herz. Mit dem Wort „ayurvedisch" hatte Hajo Hennig Schwierigkeiten, die er mit einem Räuspern kunstvoll verschleierte.

    Ich war beeindruckt. Einem Pendler boten sich wirklich viele Chancen, die Welt zu entdecken. Nicht, dass es mich unbedingt zur sachsen-anhaltinischen Landesgartenschau gezogen hätte, was konnte mich da mehr erwarten außer sachsen-anhaltinischem Grünzeug. Aber manchmal reicht es ja schon zu wissen, dass man könnte, wenn man wollte.

    Schließlich waren wir am Bahnhof von Halle an der Saale angekommen, das sich in den Durchsagen am Bahnsteig mit dem Titel „Universitätsstadt" schmückte, vermutlich weil es sich sonst nicht mit viel schmücken konnte. Selbst der große Sohn der Stadt, Georg Friedrich Händel, hatte Halle frühzeitig verlassen und war in England zu Ruhm und Ehre gelangt. Weshalb die Hallenser auch an jedem runden Geburtstag Händels darauf hofften, dass die Queen vorbeikam, ihm zu huldigen. Die kam aber nie, auch Prinz Charles hatte Wichtigeres zu tun, und natürlich fragten sich die Hallenser insgeheim, was das bitte sein sollte.

    Die drei Muskeltiere grinsten mich zum Abschied an. Ich grinste zurück, während ich meine zerdrückte Kleidung glatt strich und dachte, dass das erste Mal in jeder Hinsicht überschätzt wurde, ganz sicher beim Pendeln.

    Ca. neun Stunden später, nach meinem Einstand in dem gläsernen Kasten in der Innenstadt von Halle, lief ich zurück zum Bahnhof der „Universitätsstadt. Im Regionalexpress waren bereits alle Pendlerkojen vergeben und ich hatte nur noch die Wahl, mich zu einem, zwei oder drei Menschen zu setzen. Ich ging auf Nummer sicher und entschied mich für Koje mit einem Menschen. Ein Mann mit Aktentasche schien mir ungefährlich. Auf meine Frage „Ist hier noch frei? antwortete er nicht. Ich deutete das als „Ja", setzte mich zu ihm und widmete mich der Regietheaterdiskussion im Feuilleton meiner Zeitung.

    Doch der Zug war gerade aus dem Bahnhof gerollt, als ich mich nur noch schwer konzentrieren konnte. Zwei weibliche Wesen führten in der Koje hinter mir ein Hörspiel auf. Ihren schrillen Stimmen nach schätzte ich sie auf höchstens sechzehn, aufgrund dessen, was sie besprachen, waren sie, so hoffte ich, um einiges älter. Denn es ging, nun ja, um sehr intime Details. Es kamen mehrere Namen vor, die alle auf „i endeten, und beide Frauen kannten die Anatomie von Danni, Lenni und Sveni ziemlich genau, vor allem „untenrum. Ihr Tonfall changierte zwischen spöttisch und gemein, und irgendwann taten mir die Jungs sogar ein bisschen leid. Wenn sie gewusst hätten, wie sie in der

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