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Vom guten Sterben: Warum es keinen assistierten Tod geben darf
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Ebook259 pages3 hours

Vom guten Sterben: Warum es keinen assistierten Tod geben darf

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About this ebook

Den Zeitpunkt und die Art des eigenen Todes selbst bestimmen und bis zuletzt die Kontrolle über das eigene Leben und über das eigene Sterben bewahren – das wünschen sich viele, vor allem schwerkranke Menschen. Das Buch führt die Antworten der Palliativmedizin, der Psychiatrie, der medizinischen Ethik und der Philosophie im Umgang mit Todeswünschen zusammen und begründet, warum es keine gesellschaftlich akzeptierte und propagierte
Form der Suizidbeihilfe geben darf. Es zeigt Perspektiven auf, wie ein guter Umgang mit Todeswünschen aussehen kann.
LanguageDeutsch
PublisherVerlag Herder
Release dateMar 17, 2016
ISBN9783451807275
Vom guten Sterben: Warum es keinen assistierten Tod geben darf

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    Vom guten Sterben - Robert Spaemann

    Robert Spaemann | Gerrit Hohendorf | Fuat S. Oduncu

    Vom guten Sterben

    Warum es keinen assistierten Tod geben darf

    Mit einem Vorwort von Manfred Lütz

    Impressum

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand

    Umschlagmotiv: © Panka Chirer-Geyer, Geheimnis Heimat I (2009)

    Foto: Stefan Weigand

    E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80727-5

    ISBN (Buch) 978-3-451-34824-2

    Inhalt

    Vorwort

    Einleitung

    1. Der Wunsch zu sterben: Ängste, Hoffnungen und Wünsche betroffener Menschen – Drei Fallgeschichten

    2. Worum geht es in der Debatte um die Sterbehilfe?

    3. Freiheit zum Tode oder Unfreiheit zum Leben? – Sterbehilfe und Sterbe­hilfe­­organisationen in den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, den USA und Deutschland

    4. Die Perspektive der Palliativmedizin

    5. Zum richtigen Umgang mit Todeswünschen: Solidarität mit den Leidenden statt Suizidbeihilfe

    6. Wer entscheidet letztlich über den Tod? Selbstbestimmung, das Tötungsverbot und die Heiligkeit des menschlichen Lebens

    1. Das moralische Paradox einer Legitimation der Suizidbeihilfe durch Selbstbestimmung

    2. Das Argument von der »Heiligkeit des Lebens«

    3. Die Angst vor Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit als Grundlage für Todeswünsche

    7. Fazit: Warum es keinen assistierten Tod geben darf: Gutes Sterben als gesamt­gesellschaftliche Aufgabe. Fünf Thesen

    8. Es gibt kein gutes Töten

    Dank

    Anmerkungen

    Bibliografie

    Vorwort

    Der Tod geht alle an. Jeder Mensch stirbt. Und viele Menschen fürchten, dass sie ausgerechnet im Sterben hilflos der Macht der Ärzte, des Staates, der Kirche ausgesetzt sind. Das Sterben ist etwas derart Intimes, Persönliches, Verletzliches, dass es für viele eine Horrorvorstellung ist, dann nicht mehr selbst bestimmen zu können, was man mit sich geschehen lassen will und was nicht. Deswegen kann man sehr gut verstehen, dass sehr viele Menschen auf die unvorbereitete Frage, ob sie das Recht und die Möglichkeit haben wollen, notfalls die Notbremse zu ziehen und aktiv aus dem Leben zu scheiden, die unvorbereitete spontane Antwort geben: Ja, selbstverständlich! Selbstbestimmung heißt das Stichwort. Und Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht.

    In den Niederlanden, Belgien und Luxemburg hat diese Lage dazu geführt, dass »Tötung auf Verlangen« inzwischen eine normale gesellschaftliche Dienstleistung ist. In der Schweiz wird der assistierte Suizid von agilen Vereinigungen lautstark propagiert und von der Rechtsordnung toleriert. Im US-Bundesstaat Oregon ist der ärztlich assistierte Suizid gesetzlich ausdrücklich erlaubt. Man nennt solche Regelungen »liberal« oder »fortschrittlich«. Diesen Begriffen wohnt eine Dynamik inne, die davon ausgeht, dass nach und nach auch andere Länder solche Regelungen übernehmen werden wie alles »gute« Neue durch beharrliche Überwindung »schlechten« alten Denkens.

    Ich war Zeuge, als ein Arzt, der sich selbst aktiv für ärztlich assistierten Suizid einsetzt, mit brillanter Rhetorik eine Gruppe führender deutscher Psychiater fast in Trance redete. Es ginge natürlich nur um »Grenzfälle«, er »ringe« immer mit sich. Wie ein Mantra wurde immer wieder der Begriff »Selbstbestimmung« eingestreut. Und natürlich ging es immer um Würde: »würdevolles Sterben«.

    Für mich war dieser Vortrag ein Weckruf. Ich kannte den Film »Ich klage an«, mit dem die Nazis die Euthanasieaktion propagandistisch begleitet hatten. Es ist ein teuflisch-brillant gemachter Film mit ausgezeichneten Schauspielern. Professor Spaemann nimmt in seinem Text darauf Bezug. Der Film ist überhaupt nicht grausam, sondern sentimental und er arbeitet mit der gleichen Rhetorik, die man derzeit – natürlich unbeabsichtigt – bei Befürwortern des ärztlich assistierten Suizids erleben kann. Auch in diesem Film »ringt« ein Arzt um die Frage, ob er seiner Frau einen »würdevollen Tod« ermöglichen soll. Er handelt allein aus Liebe und fordert von der Rechtsordnung, sich dem Fortschritt nicht in den Weg zu stellen und Menschen nicht mehr qualvoll leiden zu lassen.

    Bekanntlich haben nicht die Nazis die Euthanasie »erfunden«, sondern es waren zu Beginn der 1920er-Jahre Psychiater und Juristen, die sich Gedanken über die »Volksgesundheit« machten und empfahlen, Behinderten und anderen leidenden Menschen einen »guten Tod« zu ermöglichen. Euthanasie lag im Trend. Die Nazis haben diese Gedanken mit grausamer Konsequenz dann umgesetzt. Nicht selten werfen niederländische Ärzte uns deutschen Psychiatern heute eine unangemessene Befangenheit vor, wenn wir uns strikt gegen ärztlich assistierten Suizid aussprechen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wir deutschen Psychiater wissen um die manipulative Wucht von Worten. Damals ging es um »Volksgesundheit«, zweifellos ein positiver Begriff, und heute spricht man von Hilfe, »Sterbehilfe«, wenn es in Wahrheit um die Tötung eines Menschen geht. 70 Prozent der Deutschen sind angeblich für »aktive Sterbehilfe«. Wären auch 70 Prozent der Deutschen für das »Töten« von Menschen? Die wirkliche Frage ist also: Töten oder sterben lassen. Wer gegen Tötung ist, ist freilich nicht für Lebensverlängerung um jeden Preis. Denn es wäre genauso manipulativ, das Sterben mit allen Mitteln zu verlängern, so wie es manipulativ ist, das Sterben durch Gift zu verkürzen. Man soll Menschen sterben lassen, wie sie das selber wollen. Genau das geschieht im Hospiz. Selbstbestimmtes Sterben findet also in Wahrheit vor allem im Hospiz oder unter ambulanter palliativer Betreuung statt, denn wie kann man eigentlich sich selbst bestimmen, wenn man das Selbst, das da bestimmt, vernichtet? Wir deutschen Psychiater wissen auch, wenn wir uns der Last unserer Tradition bewusst sind, dass eine gesetzliche Freigabe des ärztlich assistierten Suizids Druck auf alte, chronisch kranke, behinderte und andere Menschen in Not aufbauen würde, ihren Angehörigen und der Gesellschaft nicht mehr zur Last zu fallen und einen Weg zu wählen, der ja dann eine reguläre Option wäre. Wir wissen, dass die ausdrückliche Erlaubnis des ärztlich assistierten Suizids ein vernichtender Anschlag auf die Selbstbestimmung der Schwächsten in unserer Gesellschaft wäre. Und wie eine Gesellschaft mit ihren Schwächsten umgeht, das entscheidet über die Humanität einer Gesellschaft.

    Kein Wunder also, dass die Debatte hoch emotionalisiert verläuft. Kein Wunder, dass viele Diskussionsteilnehmer von höchst persönlichen Erfahrungen geprägt sind. Kein Wunder auch, dass Gerüchte Hochkonjunktur haben und wichtige sachliche Informationen fehlen. Deswegen ist dieses Buch das richtige Buch zur richtigen Zeit. Wie ist die Lage in den Niederlanden, Belgien, Oregon und der Schweiz wirklich? Darüber informiert gründlich und kompetent der Medizinethiker und Psychiater Gerrit Hohendorf. Was kann die Palliativmedizin heute leisten? Darüber schreibt der Onkologe, Palliativmediziner und Medizinethiker Fuat Oduncu, der über langjährige Erfahrung in der Betreuung von schwerkranken und sterbenden Patienten verfügt. Und schließlich analysiert der Philosoph Robert Spaemann messerscharf, welche Argumente tragen und welche nicht.

    Dieses Buch ist notwendig und dringend. Es liefert allgemeinverständlich und wissenschaftlich seriös die unverzichtbaren präzisen Informationen für eine angemessene respektvolle Diskussion dieses aufwühlenden Themas. Zugleich enthält es überzeugende Argumente, die jeder kennen muss. Denn die Frage nach dem ärztlich assistierten Suizid ist keine Fachfrage für Fachleute. Sie ist für jeden von uns eine Frage von Leben und Tod.

    Manfred Lütz

    Einleitung

    Viele Menschen wünschen sich ein gutes und leichtes Sterben. Manche verstehen darunter einen Tod, der sie im Schlaf ereilt, ohne eine lange Zeit des Leidens oder der bewussten Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens. Manche wünschen sich ein bewusstes Abschiednehmen im Kreis von Angehörigen und Freunden in ihrer gewohnten Umgebung. Und manche möchten bis zuletzt die Kontrolle bewahren nicht nur über das eigene Leben, sondern auch über das eigene Sterben. Sie möchten Zeitpunkt und Art des eigenen Todes selbst bestimmen. »Selbstbestimmt sterben« ist zu einem Schlagwort geworden, das in den Jahren 2014 und 2015 auch den Deutschen Bundestag beschäftigt. Aber können wir das wirklich: selbstbestimmt sterben? Soll der von Ärzten, selbsternannten Sterbehelfern und Sterbehilfevereinen angebotene begleitete Suizid Bestandteil unserer Sterbekultur werden?

    Viele Menschen haben Angst, einer Medizin ausgeliefert zu sein, die sich an der technischen Machbarkeit der Lebensverlängerung orientiert, anstatt zu lernen, Menschen sterben zu lassen. »Der medizinische Kampf gegen den Tod ›bis zum letzten Atemzug‹ erscheint jetzt seinerseits als tödliche Bedrohung, der Tod selbst hingegen avanciert zum Retter aus den Griffen einer als fatal empfundenen, unbarmherzigen Maschinerie, die den Sterbenden ›seinen‹ Tod nicht sterben lässt.«¹

    Die moderne Medizin hat lange Zeit die Illusion befördert, sie könne das Leben gleichsam ins Unendliche verlängern und müsse das Sterben eines Menschen verhindern, wo es nur geht. So geriet aus dem Blick, dass der Tod ebenso wie die Geburt zum Leben dazugehört und dass die Sorge um ein gutes Sterben eine ganz wesentliche Aufgabe der Medizin, aber auch der Gesellschaft ist. Zur Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit schrieb der Philosoph Wilhelm Kamlah 1979: »Das Aufbegehren gegen Verfall und Tod ist normal und natürlich und führt doch zur Verzweiflung. Die Hinnahme hingegen kann schwer zu erringen, im Gelingen aber befreiend sein. Und die ars vitae, die mit philosophischer Besinnung gelingende Kunst zu leben, besteht zu allererst nicht im Handeln-Können, sondern im Loslassen-Können. Die Einübung in die Hinnahme unabänderlicher Verluste durchzieht dann wiederum unser ganzes Leben und findet in der einwilligenden Hinnahme des eigenen Todes nur ihre Vollendung.«²

    Gleichwohl gibt es Menschen, die das eigene Sterben – im Sinne eines Geschehenlassens – nicht hinnehmen können oder wollen. Sie wollen ihrem Leben selbst und »selbstbestimmt« ein Ende setzen, weil sie Angst vor dem Leiden an einer unheilbaren Erkrankung haben, weil sie nicht pflegebedürftig oder von anderen abhängig werden wollen, weil sie das »Dahinsiechen« im Alter als unwürdig empfinden oder weil sie in seelischer Not keine Perspektive für ein gelungenes Leben mehr sehen. Todeswünsche gehören zu der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und Sterben, sie sind für sich genommen nichts Krankhaftes oder Unmoralisches. In diesem Buch geht es weniger um die Frage nach der moralischen Bewertung des Suizids, sondern vielmehr darum, wie Medizin und Gesellschaft, Angehörige und Freunde mit Todeswünschen umgehen sollen. Die aktuelle Debatte um Sterbehilfe und Suizidbeihilfe macht deutlich, dass es dabei nicht nur um sterbende Menschen im engeren Sinne geht, sondern auch um Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, ohne dass der Tod konkret absehbar ist, die den Tod als eine Erlösung von körperlichem oder seelischem Leiden verstehen.

    Wir möchten in diesem Debattenbeitrag die Perspektiven der Palliativmedizin, der Psychiatrie, der medizinischen Ethik und der Philosophie zusammenführen und gemeinsam begründen, warum es keine gesellschaftlich akzeptierte und propagierte Form der Suizidbeihilfe geben darf und wie ein guter Umgang mit Todeswünschen aussehen kann. Unser Buch heißt »Vom guten Sterben« – nicht, weil wir denken, dass wir ein Patentrezept für ein gutes Sterben präsentieren können, sondern weil wir denken, dass der Umgang einer Gesellschaft mit Tod, Sterben und Suizidbeihilfe etwas darüber aussagt, wie sie sich zu schwerer Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Einsamkeit im Alter verhält.

    Die Debatte um die Sterbehilfe steht in Deutschland im Schatten der Geschichte und der historischen Verantwortung für die »Euthanasie«-Verbrechen im Nationalsozialismus. Daher rührt – und das ist gut so – die besondere Sensibilität, mit der das Thema in Deutschland behandelt wird. Damit hat sich Gerrit Hohendorf in dem Buch »Der Tod als Erlösung vom Leiden« (Göttingen 2013) ausführlich auseinandergesetzt. In diesem Buch wollen wir die gegenwärtigen menschlichen und ethischen Fragen eines guten Sterbens in den Vordergrund rücken.

    Kapitel 2 beschreibt die Entwicklung der aktuellen Debatte über die Sterbehilfe bis zur Vorstellung der vier Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag im Sommer 2015 und klärt die dabei verwendeten Begriffe. Kapitel 3 untersucht kritisch die Erfahrungen mit aktiver Sterbehilfe, Suizidbeihilfe und Sterbehilfeorganisationen in den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, den USA und Deutschland. Aus der Perspektive der Palliativmedizin (Kapitel 4), einer am einzelnen Menschen orientierten Psychiatrie (Kapitel 5) und der medizinischen Ethik (Kapitel 6) wird dann eine Antwort auf die Frage gegeben, wie wir als Ärzte³[1] und Pflegende, als Angehörige und als Gesellschaft mit Todeswünschen gut und richtig umgehen können, ohne den vorschnellen Tod im Angebot zu haben. Fünf Thesen (Kapitel 7) und die klare Argumentation von Robert Spaemann gegen die Suizidassistenz (Kapitel 8) runden das Buch ab. Doch zunächst soll die Perspektive der betroffenen Menschen in drei Fallgeschichten (Kapitel 1) zur Sprache kommen.

    München im Juli 2015

    Gerrit Hohendorf und Fuat S. Oduncu

    1. Der Wunsch zu sterben: Ängste, Hoffnungen und Wünsche betroffener Menschen – Drei Fallgeschichten

    Eine Fallgeschichte aus der Onkologie

    Frau M. ist 84 Jahre alt, als sie eines Tages vom Notarzt in die Klinik eingeliefert wird. Sie schnappt sichtlich angestrengt nach Luft und hat hohes Fieber. In der Klinik wird zügig eine Lungenentzündung festgestellt und sofort mit einer Antibiotikatherapie begonnen. Die behandelnden Ärzte erkennen aber gleich, dass nicht die Lungenentzündung das eigentliche Problem von Frau M. ist, sondern eine unheilbare Leukämie.

    »Ich habe keine guten Nachrichten«, will der verantwortliche Krebsarzt das Gespräch einleiten.

    »Ich habe den Krieg erlebt und meinen todkranken Mann bis zum Ende gepflegt. Wenn meine Zeit gekommen ist, dann gehe ich eben«, bremst Frau M. den Onkologen aus.

    »Ich weiß nicht, ob Ihre Zeit schon gekommen ist. Aber die Untersuchungen haben ergeben, dass Sie Leukämie haben und Ihre Lungenentzündung nur eine Folge der Erkrankung ist«, antwortet der Arzt mit ruhiger Stimme und wartet etwas ab.

    »Also Krebs! Muss ich jetzt sterben? Ich bin seit Wochen schlapp, kraftlos und lustlos, jede noch so kleine Anstrengung treibt mich in die Erschöpfung«, erklärt Frau M. etwas resignierend.

    Der Arzt nickt und sagt: »Auch die Müdigkeit kommt von der Leukämie, die eine ausgeprägte Blutarmut verursacht hat, unter der Sie jetzt leiden.«

    »Ich habe das alles bereits mit meinem Mann erlebt. Er ist vor 35 Jahren von mir gegangen – Lungenkrebs. Er hat sehr gelitten, und mit der Chemo wurde alles noch viel schlimmer. Ich sage Ihnen gleich, ich will keine Chemo! Können Sie mir nicht etwas geben, damit ich ruhig einschlafe? Ich habe keine Lebenskraft und keine Lebensfreude mehr. Ich möchte nicht wie mein Mann leiden.«

    Der Arzt schweigt eine Zeit lang, um dann neu anzusetzen: »Es ist kein Wunder, dass Sie keine Kraft und keine Lust zum Leben haben. So macht das Leben keine Freude. Aber warum sagen Sie, Sie wollen keine Chemo?«

    Frau M.: »Ich habe Angst, dass die Chemo mich noch mehr schwächt. Aber vor allem will ich nicht meine Haare verlieren. Lieber sterbe ich vorher. Und wenn es sein muss, fahre ich dafür in die Schweiz.«

    Der Arzt lässt die Patientin aussprechen, schweigt wieder für eine kurze Zeit und setzt dann erneut an: »Erzählen Sie mir ein wenig von sich. Wie sah Ihr Leben aus, bevor Sie krank geworden sind?«

    Frau M.: »Nach dem Tod meines Mannes habe ich seine Stiftung weitergeführt. Wir haben keine Kinder bekommen und die Stiftung ist unsere große Familie. Ich bin viel unterwegs in ganz Deutschland und die Menschen brauchen mich. Aber in den letzten Wochen war ich sehr schwach auf den Beinen und konnte nicht mehr zu den Veranstaltungen gehen.«

    Dann unterbricht sie kurz das Gespräch, fängt an, in ihrer Handtasche zu wühlen, und zieht ein Foto heraus, das sie stolz dem Arzt zeigt: »Das war im vergangenen Jahr, als Frau Merkel mir zu unserer Stiftung gratulierte.« Endlich ein Lächeln in ihrem Gesicht. Der Arzt ist sichtlich beeindruckt; er hat das nicht erwartet, als er sie nach ihrem Leben fragte.

    Plötzlich fragt Frau M.: »Können Sie mir nicht etwas geben, damit ich wieder auf die Beine komme? Ich muss noch so viel für die Stiftung machen und ich habe schon so viele Termine absagen müssen.«

    Der Arzt muss sich zunächst etwas sammeln. »Ich finde es toll, dass Sie trotz Ihres respektablen Alters mit so viel Hingabe Ihre Stiftung leiten und Ihnen eine derart besondere Ehre zuteil geworden ist.« Er hält etwas inne und fährt schließlich fort: »Hm, dann schauen wir, dass wir zügig Ihre Lungenentzündung und Ihre Blutarmut behandeln. Wenn die Antibiotika gut wirken und die Blutarmut sich mit Bluttransfusionen beheben lässt, können wir Sie vielleicht nach zehn Tagen wieder entlassen.«

    Frau M.s Lächeln strahlt jetzt über ihr ganzes Gesicht. Der Arzt: »Wir werden keine Chemotherapie machen. Ihre Leukämieform spricht nicht gut auf gängige Therapien an und würde eine sehr starke Chemotherapie erforderlich machen, die aber für Sie zu gefährlich wäre. Aber wir können Ihre Symptome und Beschwerden, die die Leukämie verursacht, gut behandeln. Unser Ziel ist es, dadurch Ihre Lebensqualität und Ihre sozialen Aktivitäten so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Sie brauchen keine Angst haben, wir werden Ihre Beschwerden in den Griff bekommen, sodass Sie nicht leiden müssen. Es wäre doch zu schade um Sie, wenn Sie sich frühzeitig vom Leben und Ihrer Stiftung verabschieden würden. So wie Sie über Ihr gemeinsames Lebenswerk sprechen, kann ich mir gut vorstellen, dass jeder Tag mehr Leben auch mehr Erfüllung und Zufriedenheit für Sie bedeutet.«

    Frau M. zeigt sich mit den Vorschlägen des Arztes sehr einverstanden.

    Der Arzt: »Haben Sie sich schon einmal Gedanken über eine mögliche Nachfolge für Sie in Ihrer Stiftung gemacht?«

    Frau M. versteht sofort. »Sie haben Recht. Es wird höchste Zeit, meine Nachfolge

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