Kinder brauchen Religion!: Orientierung für Erziehung und Bildung
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About this ebook
In diese Situation hinein setzt das Buch ein eindeutiges Plädoyer: Kinder brauchen Religion, weil sie ohne sie weder ein stimmiges Weltbild aufbauen noch eine umfassende Identität herausbilden können. Und beides ist nur möglich in eindeutiger konfessioneller Beheimatung. Das Buch entwirft - gerade auch für Eltern - praktische pädagogische und innovative theologische Perspektiven, wie heute und morgen in Familien, Kindertagesstätten, Schulen und Gemeinden christliche Erziehung und Bildung möglich wird.
Georg Langenhorst
Georg Langenhorst, Dr. theol., geb. 1962, Inhaber der Lehrstuhls für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts und Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg; viel gefragter Referent in der Erwachsenenbildung; Autor zahlreicher Bücher, vor allem im Grenzbereich von Theologie und Literatur.
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Book preview
Kinder brauchen Religion! - Georg Langenhorst
Georg Langenhorst
Kinder brauchen Religion
Orientierung für
Erziehung und Bildung
Impressum
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: excogito, Freiburg im Breisgau
ISBN (E-Book) 978-3-451-80117-4
ISBN (Buch) 978-3-451-32746-9
Inhalt
Vorwort: Ziel und Absicht des Buches
Hinführung in zehn Schritten:
Religiöses Lernen heute und morgen
1. Religion
Verständigung über einen vielstimmigen Begriff
2. Lernen?
Was ist das, wie geht das?
3. Veränderte Kindheit
Kind-Sein in der Gegenwart
4. Aufwachsen in der Postmoderne
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
5. Kinder erleben Welt auf ihre Art
Religionspsychologische Wegmarken
6. Jugendlicher Glaube, jugendliche Moral
Entwicklungspsychologische und empirische Erkenntnisse
7. Pluralität ernstnehmen
Religiöse Einstellungen von Kindern und Jugendlichen
8. Zwischenbilanz für Erwachsene
Konsequenzen für die religiöse Erziehung und Bildung
9. Christentum heute neu denken
Theologie elementarisiert
10. Das Kind als Mittelpunkt?
Chancen und Grenzen von Kindertheologie
Hauptteil:
Fünf Grundelemente religiösen Lernens
I. Kinder brauchen Gott!
1. „Ich gönne mir das Wort Gott"
Warum SchriftstellerInnen ‚Gott brauchen‘
2. Zu spruch und An spruch
Nachdenken über die Grund-Logik des Christentums
3. Taufe als das unbedingte JA Gottes zum Menschen
Was es bedeutet, Christ zu werden
4. Seligpreisungen als Zuspruch unbedingter Würde
Vom Zuspruch ohne Vorbedingungen
5. Erlösung – wovon und wohin?
Neue Zugänge zu einem schwierigen Konzept
6. „Sein Name: Kendauchdich"
Von der Ursehnsucht danach, wahrgenommen zu werden
7. Den Möglichkeitssinn schulen
Auf der Spur der „noch nicht erwachten Absichten Gottes"
8. Geerdete Mystagogie
Wie man Kindern Raum für Gotteserfahrungen schafft
II. Kinder brauchen Jesus!
1. „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat"
Jesus als unverzichtbares Bild Gottes
2. Von Jesus erzählen
Religion erschließt sich über Narration
3. Mit Jesus beten
Das Vater-unser als religiöses Grundgebet
4. Mit Jesus Empathie lernen
Soziales Handeln als selbstverständliche christliche Praxis
5. Mit Jesus in der Eucharistie verbunden
Den Glauben mit Gott und Menschen feiern
6. Vorbilder geben Jesus Gestalt
Modell-Lernen als Weg realistischer Nach-Folge
III. Kinder brauchen Be-Geist-erung!
1. Geist als ‚Person‘?
Zugänge zu einer sperrigen Vorstellung
2. Drei gleich eins – Trinität
Auflösungsmöglichkeiten eines spekulativen Rätsels
3. Religiöses Lernen als Symbollernen
Warum Religion auf Symbole angewiesen ist
4. Sakramente – Symbole des Glaubens
Rituelle Gestaltung von Tiefenwahrheit
5. Buße und Beichte – das vergessene Sakrament
Wege von der Krise zur Neubesinnung
6. Firmung – das verschenkte Sakrament
Vorschläge zu einer neuen Firmpastoral
IV. Kinder brauchen Gemeinschaft!
1. Familie
Nachdenken über den ersten Lernort der Gottesbeziehung
2. Gemeinde
Besinnung auf den zweiten Lernort der Gottesbeziehung
3. Religion in Kindertageseinrichtungen
Zur neuen Bedeutung von religiöser Elementarpädagogik
4. Mitfeier des Kirchenjahrs
Vom Wärmestrom christlicher Festgestaltung
5. Interreligiöse Gemeinschaft der abrahamischen Religionen
Religiöses Lernen in realistischem Miteinander
6. Lesegemeinschaft
Wie Lesen religiöses Lernen unterstützen kann
V. Kinder brauchen Religionsunterricht!
1. Warum Religionsunterricht im religionsneutralen Staat?
Rechtliche Begründung des Religionsunterrichts
2. Religionsunterricht am Lernort Schule?
Pädagogisch-theologische Begründung
3. Streitpunkt Konfessionalität
Zukunftsfähige Grundformen des Religionsunterrichts
4. Religion kompetenzorientiert lernen?
Orientierung an religiösen Grundkompetenzen
5. Erstes Grundprinzip „Korrelation"
Zur Wechselbeziehung von Glaubenstradition und Lebenserfahrung
6. Zweites Grundprinzip „Performation"
Religion erleben und reflektieren
Ausblick
Dankeswort
Literaturverzeichnis
„Gott macht sich im Herzen
jedes Menschen spürbar"
Papst Franziskus
(„Über Himmel und Erde", S. 34)
Vorwort: Ziel und Absicht des Buches
„Religion – das ist Privatsache!"
„Ob meine Kinder sich einer Religion anschließen, das sollen sie später selbst entscheiden. Ich möchte sie da nicht festlegen."
„Religion – da bin ich mir nicht sicher, was ich selber denke. Wie soll ich da meinen Kindern etwas mit auf den Weg geben? Ich halte mich da lieber heraus."
„Die Kirchen und die anderen Religionen sollten mit der öffentlichen Bildung nichts zu tun haben. Kindergarten und Schule sollten frei sein von konfessionellen Vorgaben."
Solche und ähnliche Stimmen lassen sich in unserer postmodernpluralen Gesellschaft mehr und mehr vernehmen. Religion wird zur subjektiven Privatsache erklärt, die jede und jeder für sich selbst entscheiden muss. Den verfassten Religionen wird zunehmend das Recht abgesprochen, sich an öffentlichen Bildungseinrichtungen zu beteiligen. Dass Konfession, also das aktive Bekennen und Praktizieren einer ganz spezifischen Religion, als Teil persönlicher Lebensführung einen wichtigen Raum einnehmen soll und darf, wird dabei in der Regel nicht in Frage gestellt. Sehr wohl umstritten ist aber jegliche Forderung, hieraus politische, institutionelle und öffentlich wirksame Ansprüche herleiten zu dürfen.
Die Diskussion um die Legalität der Beschneidung von männlichen Kindern in Judentum und Islam hat zudem eine weitere Frage in das öffentliche Interesse gerückt: Dürfen Eltern in Sachen Religion überhaupt für ihre Kinder langfristig wirksame Entscheidungen treffen, Prägungen vornehmen, Wegspuren bahnen? Ist das nicht bereits einerseits eine pädagogisch unerlaubte Engführung, andererseits aber auch ein juristischer Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung der Person, das auch schon für Kinder gilt? Die Anfragen bleiben nicht auf die Religionen Judentum und Islam beschränkt. Legt nicht auch die christliche Säuglingstaufe, im kirchlichen Selbstverständnis die Verleihung eines character indelibilis (eines unauslöschlichen Merkmals), Menschen lebenslang auf eine Prägung fest – unabhängig davon, ob sie diese später akzeptieren und gestalten, sich dagegen wehren oder sie schlicht ignorieren?
Religion, religiöse Erziehung und religiöse Bildung sind im Kontext der postmodernen Gesellschaft schon seit einiger Zeit zum Streitthema geworden. Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen reagieren auf diese Situation mit unterschiedlichen Strategien:
mit dem Hinweis auf traditionell festgelegte juristische Rahmenvorgaben und Staatsverträge;
mit dem Rückzug auf vermeintlich eindeutige Aussagen von Katechismen und Dogmen;
mit der Vermeidung und einem Wegducken vor klarer Positionierung;
mit einem Blick auf potentiell langfristige Entwicklungen, der mittelfristige Probleme ignoriert;
mit der konfrontativ ausgerichteten Einforderung vom Menschenrecht auf religiöse Entfaltung, Praxis und Erziehung;
mit der Aufnahme von echten Dialogunternehmungen über künftige Wege und Organisationsformen;
mit kritischer Bestandsaufnahme und offenen Gesprächen.
Auch im Feld der wissenschaftlichen Religionspädagogik finden sich unterschiedliche Strategien und Meinungen: Manche verweisen auf die Notwendigkeit des Abschieds von konfessionellen Engführungen und plädieren für den verstärkten Ausbau christlich-ökumenischer Gemeinschaft auf der Ebene von Gemeinde und Schule. Andere sehen im Miteinander der drei abrahamischen, der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam die tragfähige Basis für eine starke Wirkung in die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen hinein. Und noch einmal andere setzen auf die grundlegenden gemeinsamen Anliegen aller Religionen, sei es im Blick auf das Ethos oder im Blick auf Spiritualität.
Dabei werden die Sorgen vieler gläubiger Menschen um das Weiterleben ihres Glaubens in den Folgegenerationen bis hin in die Formulierung von Buchtiteln aufgenommen. „Erwachsenwerden ohne Gott?", fragt Karl-Ernst Nipkow 1987; „Werden unsere Kinder noch Christen sein?" präzisieren Jürgen Hoeren und Karl Heinz Schmitt 1990 die Fragestellung. Aus Fragen werden positionierte Forderungen: „Kinder nicht um Gott betrügen" mahnt Albert Biesinger 1994 in einem bis heute immer wieder neu aufgelegten Buch; Friedrich Schweitzer postuliert im Jahr 2000 „Das Recht des Kindes auf Religion" – und damit sind nur wenige auflagenstarke und wirkmächtige Einzeltitel in Erinnerung gerufen.
In diese Diskussion hinein soll das vorliegende Buch eine eigene Position einspeisen. Gewiss, Kinder können aufwachsen ohne Religion, das zu bestreiten wäre angesichts breiter Erfahrungen in Geschichte und Gegenwart absurd – außer man verwässert den Religionsbegriff so stark ins Allgemeine, dass man damit keine klar abgrenzbare Dimension mehr erfasst. Und gewiss, Menschen wachsen auf und leben gut ohne Religion, ja sogar besser als manche andere, die von fundamentalistischen Vertretern und Ideologen ihrer Religionen verkrüppelt und versklavt wurden und werden. Das mehrfach mit bedauerndem Ton vorgetragene Bekenntnis eigener ‚religiöser Unmusikalität‘ – ein Sprachbild, das Jürgen Habermas von Max Weber entlehnt hat – weist jedoch auf eine zentrale Analogie hin: Ja, man kann auch ohne Musik leben, moralisch gut, sinnvoll und glücklich– aber welch bereichernde menschliche Dimension fehlt dabei! Wie schade, wenn eine so grundlegende Ebene des Menschseins nicht entfaltet ist! Und mit welchem Bedauern werden musikalische Menschen auf unmusikalische blicken, die oft nicht einmal ahnen, was ihnen fehlt oder entgeht.
Auch wenn der Vergleich von Musik und Religion seine Grenzen hat: Tatsächlich ist es so ähnlich mit Religion. Auch das Religiöse ist eine Grunddimension des Menschen. Auch in ihr geht es um Wahrnehmung, Empfindung, Ausdruck und Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten, ja mehr noch: um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost. Ganz in diesem Sinne wagte schon die Würzburger Synode – die Versammlung der deutschen katholischen Kirche im Versuch der Neuformulierung zentraler Glaubensüberzeugungen in das Zeitalter der Moderne hinein – vor vierzig Jahren die Behauptung: „Die ‚religiöse‘ Dimension von „Situationen und Erfahrungen
, die uns „unbedingt angehen, auszuklammern, „hieße den Menschen verkümmern lassen
(Der Religionsunterricht in der Schule 1974, S. 24).
„Kinder brauchen Religion!" (in Hugoth/Benedix 2008, S. 9f.) – so überschrieben die Vorsitzenden der BETA (Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder) und des KTK (Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder) 2008 in ökumenischer Gemeinsamkeit ihr Plädoyer. In der Tat, das ist die Grundüberzeugung, die auch hier stark gemacht werden soll: Vor allem Kinder ‚brauchen‘ Religion weit jenseits einer „einseitigen Festlegung bloß auf das Nützliche" (Schweitzer 2000, S. 24), und das gleich doppelt: zum einen jeweils gegenwartsbezogen in ihrem Kind-Sein, zum Aufbau von kindlich tragfähigen Weltbildern, Überzeugungen und Wertvorstellungen. Zum anderen aber auch zukunftsorientiert, um sich in unserer Gesellschaft zu eigenständigen, selbstverantworteten, gebildeten Persönlichkeiten entwickeln zu können. Ob sie sich als Erwachsene zu einer konkreten Religion bekennen und eine bestimmte Religion praktizieren, ist dabei zunächst zweitrangig – dafür und dagegen kann es gute Gründe geben, die in jedem Fall allein der persönlichen Einschätzung vorbehalten bleiben. Gut so! Von zentraler Bedeutung ist jedoch die grundlegende Befähigung zu einer solchen Entscheidung, die eine wenigstens basale religiöse Erziehung und Bildung voraussetzt. Wenn Kinder also in diesem Sinne ‚Religion brauchen‘, ergeben sich Konsequenzen für Eltern, Kirchengemeinden, Kindertagesstätten, Schulen, staatliche Vorgaben.
Was aber, wenn gerade die Vertreterinnen und Vertreter dieser Instanzen sich selbst als ‚religiös unmusikalisch‘ einschätzen? Wenn sie die Verantwortung in Sachen Religion an die dafür zuständigen ‚Fachleute‘ abschieben – nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus der gut begründeten Selbsteinschätzung heraus, selbst viel zu unsicher, selbst viel zu inkompetent in Sachen Religion zu sein, um Kinder in dieser Hinsicht zu erziehen oder zu begleiten? Eine derartige Zurückhaltung hat ihre Berechtigung, gleichzeitig aber auch ihre Grenzen. Viele Eltern etwa nehmen heute beträchtliche Belastungen auf sich, um ihre Kinder bestmöglich zu fördern: ob im Blick auf sportliche Aktivitäten oder musikalische Ausbildung. Und niemand erwartet von ihnen, dass sie selbst in der entsprechenden Disziplin Höchstleitungen erbringen, dass sie selbst überragende Experten auf dem fraglichen Gebiet sind.
Im exemplarischen Bild gesprochen: Eine Mutter, die ihre Tochter zum Ballettunterricht bringt, muss nicht selbst Ballett tanzen können. Ein Vater, der seinen Sohn zum Fußballtraining begleitet, muss nicht selbst in der Bundesliga gespielt haben. Eine Großmutter, die ihren Enkel zum Flötenspiel animiert, muss nicht selbst das Instrument orchesterreif beherrschen. Ein Großvater, der seiner Enkelin den Reitunterricht bezahlt, muss nicht selbst jemals auf einem Pferd gesessen haben … Gewiss: Erneut sind die Vergleichsbedingungen begrenzt, aber trotzdem darf man fragen: Warum wird ausgerechnet im Bereich Religion eine eigene Kompetenz als Voraussetzung angeführt, um ihr in Erziehung und Bildung Raum zu geben, um selbst Energie und Zeit für die entsprechende Ausbildung der eigenen Kinder zu ‚investieren‘? Natürlich gibt es individuell sehr unterschiedlich bestimmte Grenzen der eigenen Zuständigkeit und Fähigkeiten. Aber: Den Kindern zuliebe braucht auch der Bereich der Religion alle Förderung und Stützung, zu der wir fähig sind.
Von einem Doppelten soll also in diesem Buch die Rede sein: Davon dass und warum und wie Kinder ‚Religion brauchen‘ auf der einen Seite, auf der anderen aber auch davon, welche Konsequenzen sich daraus für Erwachsene im privaten wie im öffentlichen Leben ergeben. Und da Kinder nolens volens immer früher zu Jugendlichen werden, da die Übergänge zwischen beiden Entwicklungsstufen immer mehr verwischen, darf sich die Perspektive dabei nicht auf Kinder allein beschränken, auch wenn dieses Buch diesen Lebensabschnitt ins Zentrum rücken will. Ein Plädoyer dafür, dass Kinder ‚Religion brauchen‘, kann nur dann sinnvoll sein, wenn die potentiellen Weiterentwicklungen zum Jugendlichen und Erwachsenen im Hintergrund mitbedacht werden.
Dieses Buch wendet sich so an Eltern, Erziehende, Unterrichtende, zielt auf an Erziehungs- und Bildungsprozessen pädagogisch und politisch Beteiligte. Es richtet sich aber auch an in den Religionen für Erziehung und Bildung Verantwortliche, weil es Orientierungen dahingehend anbietet, welche Art von Religion Kinder ‚brauchen‘ und welche Erschließungs- und Vermittlungsprozesse dafür geeignet sind. Es soll eine begründete Ermutigung dahingehend sein, Erziehung und Bildung auch religiös zu profilieren. Ein zu streng wissenschaftlicher Zugang (etwa: mit ausführlichem Fußnotenapparat, einer Fülle an Belegzitaten, einer engmaschigen Verweisstruktur auf bestehende Diskurse) ist dabei explizit nicht angestrebt. Orientiert an der Vorgabe von Lesbarkeit und Verständlichkeit sollen gleichwohl grundlegende Bezüge deutlich und Lesehinweise auf Quellen und Vertiefungslektüre gegeben werden.
Im Aufbau des Buches soll das bereits mehrfach angeführte Vergleichsbild von Musik und Religion aufgegriffen und strukturell fruchtbar gemacht werden. Nach einer Einführung in die thematischen Zusammenhänge von religiösem Leben und Lernen heute werden im Hauptteil vier Grundelemente religiösen Lernens entfaltet. Kinder brauchen Gott, Jesus, Be-Geist-erung und Gemeinschaft. Diese vier Aspekte verhalten sich zueinander wie die vier Saiten einer Geige. Jede kann für sich allein klingen; eine Symphonie der Töne, ein Gesamtklang aber kann nur durch alle vier Saiten gelingen. Mal wird eine Saite bespielt, mal zwei gleichzeitig, im Normalfall aber braucht es alle, damit die Geigenmusik umfassend und perfekt zum Klingen gebracht wird.
Und mehr noch: Es braucht Räume, in denen man das Spielen dieses Instrumentes erlernen kann. Zahlreiche derartige Räume gibt es: Familie, Kindertagesstätten, Gemeinde und viele mehr. Alle haben ihre besondere Bedeutung, ihre je eigene Reichweite, ihre speziellen Gesetze und Regeln. Ein Raum ragt jedoch heraus. Die meisten Kinder erlernen das Spielen eines Musikinstrumentes in der Musikschule. Ähnlich verhält es sich mit Religion. In der Schule, im Religionsunterricht wird der Raum bereitgestellt, um möglichst alle Kinder religiös zu sensibilisieren und zu bilden. Deshalb soll in diesem Buch im übertragenen Sinne davon gesprochen werden, dass Kinder im Blick auf die Fragestellung ein Fünftens brauchen: einen (guten) Religionsunterricht als Raum, in dem die vier Saiten zum Klingen gebracht werden können, in dem das kundige Hören und im Idealfall auch das Musizieren selbst eingeübt werden kann.
Der Geigenbauer Martin Schleske hat vor Kurzem ein faszinierendes Buch vorgelegt, in dem die Geheimnisse des Geigenbaus und des Geigenspiels in christlichem Geist spirituell gedeutet werden. „Der alles erfüllende Klang" (Schleske 2010, S. 309) ist das nur bedingt planbare Ergebnis von umfangreicher Vorbereitung, vielerlei Mühen und dem beglückenden „Zusammenspiel von Arbeit und Gnade (ebd., S. 72). Ein vergleichbares Zusammenspiel lässt sich auch im Blick auf religiöse Lernprozesse finden. Auch sie bringen verschiedene Saiten zum Klingen, auch sie sind nur bedingt planbar, auch sie ein Ergebnis des Zusammenspiels von „Arbeit und Gnade
. Ihr viersaitiger Klang soll in diesem Buch zu Gehör kommen, für religiös Musikalische wie religiös Unmusikalische. Nicht um ein opulentes Opernwerk soll es dabei gehen, sondern um kleine Melodien, die zusammen gesungen und gespielt Lust und Mut machen zum ‚religiösen Musizieren‘.
Hinführung in zehn Schritten:
Religiöses Lernen heute und morgen
Bevor die einzelnen Saiten des religiösen Lernens zum Klingen gebracht werden, bedarf es der Vorbereitung, des Stimmens des Instruments, der Klärung der Rahmenbedingungen. Wenn in diesem Buch von Religion die Rede ist, die Kinder ‚brauchen‘, sollte zunächst kurz geklärt werden, was damit gemeint ist. Dasselbe gilt für die grundlegenden Lerndimensionen von Erziehung und Bildung sowie für die heutigen und morgen zu erwartenden Lebensbedingungen von Kindern. Zu all diesen Themen liegen ungezählte, umfassende und hervorragende Studien und Untersuchungen vor. Sie sollen hier weder referiert noch diskutiert werden. Auch werden keine substantiell neuen Theorien oder Begriffsfüllungen etabliert. Es geht hier lediglich um eine Vergewisserung als Grundlage für die folgenden Ausführungen.
1. Religion
Verständigung über einen vielstimmigen Begriff
So einfach der Begriff ‚Religion‘ zu sein scheint, so sehr man bei ihm mit einem intuitiven Vorverständnis rechnen kann – so überraschend der Befund: Es gibt schlicht keine konsensfähige Definition dessen, was man damit bezeichnet (vgl. Porzelt 2009, S. 45ff.). Man kann den Begriff eng fassen, indem man ihn nur für die traditionell ausgebildeten großen Weltreligionen verwendet. Oder man fasst ihn weit und beschreibt dann eine menschliche Grundkonstante, den Bereich jener Grundfragen und Ursehnsüchte des Menschen, die er von sich aus nicht beantworten und stillen kann. In beiden Fällen kann man jeweils vier Zugangsmöglichkeiten voneinander unterscheiden, um den Begriff präziser auszudifferenzieren:
Man kann Religion von ihren Funktionen her bestimmen, also von den Zwecken, zu denen sie dient, etwa zur Stiftung von Sinn, Moral und Lebensorientierung, zur Bereitstellung von Trost, zum Umgang mit Leid, Trauer und Vergänglichkeit.
Oder man sieht sie als grundmenschliches Potential, als eigenständige Dimension, die allen Menschen innewohnt. Religion bezieht sich dann auf das Innerste eines Menschen, seine Seele, seinen Wesenskern.
Oder man beschreibt sie anhand ihrer objektiv beobachtbaren Erscheinungsformen, mittels derer sie konkrete Gestalt erhält: ihre Riten und Symbole, ihre sozialen Formen von Gemeinschaft, ihr ästhetisches Erscheinungsbild in Bauwerken und Kunst.
Oder man versucht ihre innere Substanz zu bestimmen, ihre eigene Weise der Erklärung und Gestaltung von Wirklichkeit. Dann konzentriert man sich auf die Lehre, den geistigen Gehalt, die ausformulierte Theologie.
All diese Versuche sind sinnvoll und beleuchten je unterschiedliche Seiten dessen, was Religion ausmacht. Für die Ausführungen in diesem Buch sollen folgende Aspekte besonders betont werden:
Religion wird zunächst verstanden als eine Dimension, die im Menschen verankert ist. Das religiöse Potential des Menschen liegt in all den Bereichen, die ihn tief prägen, ihn „unbedingt angehen" – so die berühmte Formulierung von Paul Tillich –, die er aber letztlich nicht selbst begründen, mit Sinn füllen und auf letzte Ziele hin ausdeuten kann. Dazu zählen die Grundfragen: Woher komme ich, woher kommt die Welt? Wie soll ich leben? Warum gibt es mich und die Welt? Was wird aus mir und der Welt? Dazu gehören aber auch Grundsehnsüchte nach Anerkennung, Liebe, Gelingen und Sinn. Und schließlich zählen dazu alle Hoffnungen auf erfülltes Leben, Getragen-Sein im Leid und eine Form der Weiterexistenz nach dem Tod.
Diese Dimensionen kann und muss der Mensch selbst erforschen, soweit es geht, und mit Leben ausfüllen, soweit er kann. Letzte Sicherheiten und Bestätigungen wird er aus sich selbst heraus nicht finden. Deshalb umfasst Religion auch nicht ausschließlich die bislang skizzierten Dimensionen von Frage und bloßem Potential – diese sind auch rein anthropologisch, psychologisch und philosophisch zu erheben. Einem Plädoyer, dass Kinder in diesem Sinne ‚Religion brauchen‘, würde allgemeine Zustimmung und völlige Folgenlosigkeit sicher sein. Entscheidend: Religion stellt ein System zur Verfügung, das Antworten setzt, Perspektiven vorgibt, Handlungsimpulse enthält, sei es im Blick auf das spirituelle, rituelle, gesellschaftliche, moralische oder politische Verhalten und Handeln. Damit müssen keine ‚endgültigen‘ Antworten, Perspektiven und Handlungsimpulse gemeint sein, sondern vorläufige und provisorische, die gleichwohl als verlässlich, wahrhaftig und als nicht einfach verfügbar gelten. Religion in diesem Sinne bezieht sich