Die Krankheiler: Südtirols Gesundheitswesen auf dem Prüfstand
By Franz Plörer and Kurt Langbein
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About this ebook
• Südtirols Sanitätsbetrieb kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Ist die medizinische Versorgung schlechter als ihr Ruf?
• Alle Menschen sind krank, man muss nur lange genug suchen. Segen oder Fluch modernder Diagnostik?
• Arme Menschen sind häufiger und länger krank, und sie sterben früher. Haben wir eine Zweiklassenmedizin?
• Ärzte wehren sich gegen wirtschaftliche Kennzahlen. Wie viel Markt darf oder muss es im Gesundheitswesen geben?
• Die Erste Hilfe in Bozen und die überfüllten Bettenstationen. Wo bleibt der Ausweg für Patienten?
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Die Krankheiler - Franz Plörer
vor?
Gesundheit ist eine Frage der Solidarität
Der Medizinbetrieb ist mehr als ein Spiegel der Gesellschaft, aber er ist auch das. Alte Hierarchien versperren den Weg in die moderne Dienstleistungsgesellschaft, Regionalpolitik oft jenen zu mehr Qualität, die in der techniklastigen Medizin nur mit großen Fallzahlen erreicht werden kann.
Aber es gibt einen weiteren Wandel, der große Herausforderungen schafft: Die längst an die Finanzierungsgrenzen gestoßene Reparaturmedizin erlebt eine massive Krise der gesellschaftlichen Akzeptanz. Neben ihr entwickelt sich – noch relative leise – die vielgliedrige Strömung einer Ganzheitsmedizin, die sich auf die Erhaltung und die Wiedererlangung von Gesundheit des ganzen Menschen konzentriert und weniger auf die Reparatur kranker Zellen oder Organe.
150 Jahre nach dem Beginn des naturwissenschaftlich-medizinischen Fortschritts und den ersten Erfolgen einer mechanistischen Sicht auf die Dinge des Lebens beginnt also ein neues medizinisches Zeitalter: Es wird getragen von der Erkenntnis, dass Gesundheit das Ergebnis komplexer psychischer, sozialer und physiologischer Prozesse ist.
Seit den Studien Michael Marmots, Professor für Public Health am University College London, über sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen wissen wir, dass die Reparaturmedizin nur zu einem kleinen Teil zur Steigerung der Lebenserwartung beiträgt. Der Lebensstil und vor allem die „effort reward balance", also die Balance zwischen den Bemühungen des Menschen und der dafür erhaltenen Anerkennung am Arbeitsplatz und im privaten Umfeld, entscheiden mehr als alle klassischen Risikofaktoren über Gesundbleiben bzw. Krankwerden eines Menschen.
Der Einfluss, den wir auf die Umstände unseres Lebens haben – und die Chancen, uns als vollwertige, anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft zu fühlen – sind also entscheidend für die Gesundheit. Marmot bringt auf den Punkt, was im Licht der Studienergebnisse das Leben länger macht: „Die gesellschaftliche Position eines Menschen entscheidet nicht nur über Einkommen und Ansehen, sondern auch über Leben und Tod. Denn der entscheidende Faktor heißt soziale Lage und vor allem Anerkennung für das, was man tut."
Und da wird das Gesundheitswesen wieder bedeutsamer als die reine Reparaturmedizin: Wenn es im Medizinbetrieb, der fast überall zu den größten Arbeitgebern zählt, gelingt, demokratische und menschenfreundliche Strukturen zu etablieren, kann er auch für sozialen Ausgleich sorgen. Und das ist bitter nötig. Im Gesundheitswesen wird sich entscheiden, ob nach dem Zusammenbruch der alten sozialstaatlichen Modelle in der modernen Zivilgesellschaft ein neues System der Solidarität entsteht oder eine tiefe Dezivilisierung in den Industriestaaten Platz greift.
Damit letzteres nicht geschieht, tut Aufklärung über die Zukunft des Gesundheitswesens not. Der vorliegende Band schafft es – eingebettet in die internationale Diskussion um das Thema und mit Verweis auf zahlreiche wissenschaftliche Studien – in leicht verständlicher Weise die lokalen Herausforderungen aufzuzeigen. Es liegt nun an den Entscheidungsträgern, darauf zu reagieren. Und an der Bevölkerung, für ihre langfristigen Interessen einzutreten.
Kurt Langbein
Ehemaliger Mitarbeiter von Claus Gatterer, Mitautor des 1983 erstmals erschienenen Bestsellers „Bittere Pillen (aktuelle Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch, 2017) und Autor von „Weißbuch Heilung: Wenn die moderne Medizin nichts mehr tun kann
(Ecowin Verlag, 2014)
1
Südtirols Sanitätsbetrieb kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus.
Ist die medizinische Versorgung schlechter als ihr Ruf?
Wer auch nur flüchtig die Zeitungen durchblättert oder im Radio und im Fernsehen die Nachrichten hört – oder gelegentlich mit einem Arzt oder einer Krankenschwester spricht –, dem muss angst und bange werden angesichts der Berichte über das Südtiroler Gesundheitswesen.
Das Südtiroler Wochenmagazin „ff titelte 2013 „Patient tot – Das Südtiroler Gesundheitssystem steht vor dem Infarkt: Ärzte und Pfleger sind gehetzt, die Kommunikation schlecht, die Arbeitsabläufe chaotisch. Der Alltag frustriert alle Beteiligten und führt oft zu falschen Diagnosen.
Selbst Sanitätsdirektor Oswald Mayr (er ist 2016 in den Ruhestand getreten) macht keinen Hehl aus seiner Befürchtung, „dass wir das Gesundheitswesen an die Wand fahren, wenn wir nicht rasch die notwendigen Reformen angehen und umsetzen."
Wie ist diese katastrophale Zustandsbeschreibung möglich, wo uns doch die Politik seit Jahr und Tag versichert, dass wir eines der besten Gesundheitssysteme in Europa, um nicht zu sagen in der Welt, haben?
Die Wahrnehmung der Patienten ist keineswegs alarmierend. Die Befragungen zur Patientenzufriedenheit, die der Sanitätsbetrieb durchführt, geben keinen Anlass zur Beunruhigung: Herr und Frau Südtiroler deutscher, ladinischer und italienischer Muttersprache sind mit dem Südtiroler Gesundheitswesen rundum zufrieden – abgesehen von den Wartezeiten, die als zu lang empfunden werden.
Nun könnte man einwenden: Der Sanitätsbetrieb führt die Befragung selber durch, also darf einen das positive Umfrageergebnis nicht überraschen. Mag sein. Aber andere gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. Das Quality of Government Institute der Universität Göteborg hat 2010 im Auftrag der EU-Kommission in 172 europäischen Regionen eine Studie durchgeführt, und siehe da: Bei der Patientenzufriedenheit rangierte das Südtiroler Gesundheitssystem unter den ersten zehn Regionen Europas. Erhoben wurden Aspekte wie Menschlichkeit, Informiertheit, technische Kompetenz, Bürokratie und Erfolg der Behandlung. Dänemark führte die Hitliste an, es folgten Schweden, Finnland, die Niederlande und Luxemburg. Südtirol lag bei der Regionenbewertung an neunter Stelle und damit gleichauf mit dem Trentino und dem Aostatal. Einziger Schönheitsfehler der Studie: Die Forscher hatten in Südtirol nur 200 Menschen befragt.
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: negative Schlagzeilen
Das eine ist die Zufriedenheit der Patienten, etwas anderes die mediale Berichterstattung. „Schock für Sterzing titelte die „Neue Südtiroler Tageszeitung
im Juni 2016, nachdem die Landesregierung das Aus für die Geburtenstation im Wipptal beschlossen hatte. Die Aufregung um das Ende der Geburtenstationen in Sterzing und Innichen war noch nicht verflogen, da heizte sich die Stimmung im Vinschgau auf: „Es brodelt in Sachen Krankenhaus, berichteten die „Dolomiten
.
Parallel zum Streit um die Geburtenstationen, der zu einem tiefen Riss zwischen Landesregierung und Teilen der Bevölkerung geführt hat, gärte 2016 monatelang ein Konflikt zwischen den Hausärzten auf der einen Seite und Gesundheitslandesrätin Martha Stocker und Ressortdirektor Michael Mayr auf der anderen Seite. „Wir ziehen ihnen das Fell über die Ohren, tönten die Hausärzte und drohten nicht nur mit Streik. Auch vor Gericht wollten sie ziehen, wenn Stocker und Mayr nicht einlenkten. Die Hausärztegewerkschaft FIMMG forderte Ressortdirektor Mayr auf, „sich für sein rechtswidriges Verhalten öffentlich zu entschuldigen
. Von „organisierter Hetze war die Rede und davon, dass die Hausärzte in die öffentlichen Verhandlungspartner „kein Vertrauen
mehr haben.
An anderer Stelle war zu lesen, dass in Brixen die Ärzte der Notaufnahme mittels Notverordnung zur OP-Assistenz verpflichtet werden, weil ärztliches Personal fehle. Die Schlagzeile der „Dolomiten vom 8. April 2016: „Urologe beim Kaiserschnitt im OP
. Für die Spitalsärztegewerkschaft ANAAO stand außer Zweifel: „Das ist illegal! Urologen haben in einem Kreißsaal nichts verloren."
Kaum im Amt, da wollten ihn viele schon wieder loswerden. Die „Dolomiten-Schlagzeile vom 29. April 2016: „An Schaels Stuhl wird gesägt.
Gemeint ist Thomas Schael, der seit Juni 2015 neuer Generaldirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebes ist. Noch nicht einmal zwölf Monate waren seit seiner Amtsübernahme vergangen, schon sah sich Schael „einer transversalen Front aus vergraulten Chefärzten, Gesundheitsbezirken und reformunwilligen SVP-Bezirkspolitikern gegenüber".
In Innichen hatten Ärzte, Hebammen und Pflegerinnen gemeinsam mit Bürgermeistern und der Bevölkerung das letzte Aufgebot mobilisiert. Mit Fackelumzügen, Protestmaßnahmen vor dem Landtag und Unterschriftenaktionen hatten sie sich vehement gegen das Unvermeidliche gestemmt: gegen die Schließung der Geburtenstation und gegen die Schließung der Gynäkologie, die ab Juli 2016 mit der Chirurgie verschmolzen wurden. Nach Innichen folgte Sterzing: Unter der Schlagzeile „Geeinte Front gegen Schließung berichteten die Tageszeitungen „Dolomiten
und „Alto Adige am 16. Juli 2016: „3.000 Bürger aus dem Wipptal für den Erhalt der Geburtenstationen – Harsche Kritik an Landesrätin Martha Stocker
und: „In tremila per salvare l’ospedale (3.000 um das Krankenhaus zu retten). „Der Erker
, die Monatszeitschrift für das Wipptal, nutzte die Aussage von Franz Kompatscher, SVP-Bürgermeister der Gemeinde Brenner und Parteifreund der Landesrätin, für die Schlagzeile: „Martha lügt und Martha wurschtelt."
Der Vinschger SVP-Parlamentarier Albrecht Plangger suchte daraufhin italienweit Verbündete, um die Schließung der Geburtenstation in Sterzing zu verhindern, „sonst wird auch noch Schlanders zugesperrt. Das lassen wir uns nicht gefallen. Seine Partei und der Landeshauptmann forderten ihn auf, endlich damit aufzuhören, in Rom gegen die Landesregierung zu arbeiten. Beeindruckt hat ihn das nicht. „Wir müssen uns mit anderen Gebieten zusammenschließen, die dasselbe Problem haben wie wir: Trentino, Lombardei, Veneto, Toskana.
Im Wipptal verweigern die SVP-Funktionäre die Gefolgschaft und drohen mit Parteiaustritt. Eine klare gesundheitspolitische Linie, die zumindest von den Parteifunktionären mitgetragen wird, schaut anders aus. SVP-Obmann Philipp Achammer weiß um den Zustand in seiner Partei, er kennt die Konflikte und Widersprüche. Aber er weiß auch, dass das Südtiroler Gesundheitswesen reformiert werden muss. Einen Ausweg aus diesem Dilemma hat er bislang nicht gefunden. Dabei hätte es schon vor Jahren eine klare politische Entscheidung zu den Geburtenstationen gebraucht.
„Das Thema ist seit 20 Jahren auf dem Tisch, aber die Politik war bisher nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, bemerkt Karl Lintner, der frühere Sanitätskoordinator des Gesundheitsbezirkes Brixen und Leiter der Basisdienste. „Rein ökonomisch gesehen hat die Geburtenstation in Sterzing keine Berechtigung: Man muss sich nur vorstellen: Sterzing hat durchschnittlich eine Geburt am Tag, dafür müssen wir vier Fachärzte, einen Pädiater, einen Gynäkologen, eine Hebamme und einen Anästhesisten für 24 Stunden 365 Tage im Jahr teuer bezahlen. Das kann’s doch nicht sein! Dabei wäre es überhaupt kein Problem, die 300 Geburten in Brixen unterzubringen.
Aber in einer emotional aufgeheizten Atmosphäre haben solche Hinweise kaum eine Chance.
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: positive Studienergebnisse
Die Geschichte des Südtiroler Sanitätsbetriebes (betriebsinternes Kürzel: Sabes) könnte eine Erfolgsstory sein. Die Zahlen, die 2015 im Gesundheitsbericht des Landes veröffentlich wurden, sind beeindruckend:
• 200.000 Mal suchten Menschen medizinische Hilfe bei der Notaufnahme,
• 8,2 Millionen ambulante fachärztliche Leistungen wurden erbracht,
• es gab 470.000 akute und 61.000 postakute Aufenthaltstage,
• drei Millionen Rezepte für Medikamente wurden ausgestellt.
Aber was sagen diese Zahlen in Anbetracht der offen oder auch versteckt ausgetragenen Konflikte zwischen Gesundheitsbezirken und Landesregierung, zwischen Parteispitze und Parteibasis, zwischen den Primaren und dem Generaldirektor, zwischen Gewerkschaften, Landesrätin und Landesbeamten?
Auskunft über die Qualität der medizinischen Versorgung geben die Reports der Scuola Universitaria Superiore Sant’Anna in Pisa, besser bekannt unter Bersaglio-Studie, das Programma nazionale esiti der AGENAS (Agenzia Nazionale per i Servizi Sanitari Regionali, eine Einrichtung, die beim Gesundheitsministerium angesiedelt ist) oder auch die Studien, die von der Universität Tor Vergata in Rom (Una misura di Performance dei Sistemi Sanitari Regionali) erstellt werden.
Laut Bersaglio-Studie (siehe Abb. 1) kann sich die Bilanz des Südtiroler Sanitätsbetriebes durchaus sehen lassen. Viele Beurteilungen liegen im grünen Bereich, werden also positiv bewertet. Das gilt zum Beispiel für die Prozessqualität (C 5) und für die Angemessenheit der Medikamentenverschreibungen (C 9), negativ schaut es hingegen bei der Impfrate (B 7) oder bei der Angemessenheit chirurgischer Eingriffe (C 4) aus. Ein Hinweis, der sich seit Jahren wiederholt: Das Südtiroler Gesundheitswesen wird von den Autoren als zu teuer (F 17) kritisiert. Ein Grund für die hohen Kosten bestehe darin, dass viele Patienten in Südtirol stationär behandelt werden, obwohl eine Aufnahme im Krankenhaus gar nicht notwendig wäre (siehe Kap. 5).
Abb. 1: Das Südtiroler Sanitätswesen: gut, aber teuer
Quelle: Scuola Universitaria Superiore Sant’Anna (2014). Il sistema di valutazione, Pisa
Abb. 2: Oberschenkelhalsbruch: Die Wahrscheinlichkeit in Südtirol innerhalb von zwei Tagen operiert zu werden, ist im Vergleich mit anderen Regionen Italiens hoch.
Quelle: AGENAS (2015). Programma nazionale esiti, Roma
Abb. 3: Chronische Niereninsuffizienz: Die Wahrscheinlichkeit in Südtirol innerhalb von 30 Tagen daran zu sterben, ist im Vergleich mit anderen Regionen Italiens gering.
Quelle: AGENAS (2015). Programma nazionale esiti, Roma
Die Studie der AGENAS vergleicht Krankheiten und deren Verlauf anhand mehrerer Qualitätsindikatoren. Ein Beispiel, das dem Programma nazionale esiti der AGENAS entnommen wurde, bezieht sich auf die Oberschenkelhalsbrüche (siehe Abb. 2). Früher kam eine solche Fraktur bei älteren Menschen einem Todesurteil gleich. Um das zu verhindern, ist es wichtig, dass der Eingriff möglichst rasch erfolgt. Verglichen mit anderen Regionen befindet sich Südtirol im Spitzenfeld. Besonders schlecht schneiden hingegen die Regionen Molise und Kampanien ab.
Ein anderes Beispiel, das als Qualitätsmerkmal herangezogen werden kann, bezieht sich auf die chronische Niereninsuffizienz (siehe Abb. 3). Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Krankheit innerhalb von 30 Tagen nach der stationären Aufnahme zu sterben, ist in Südtirol geringer als in anderen Regionen.
Abb. 4: Rangliste der regionalen Gesundheitsdienste: Südtirol im oberen Drittel
Quelle: Università di Roma Tor Vergata (2016). Una misura di Performance dei SSR, Roma
Auch die Studie der Universität Tor Vergata in Rom zeigt, dass das Südtiroler Gesundheitssystem gute Ergebnisse liefert, aber im Vergleich zu anderen italienischen Regionen noch Verbesserungspotenzial hat: Die Gesundheitssysteme in Venetien, Trient, Toskana, Piemont und Friaul-Julisch Venetien wurden von den Experten aufgrund zahlreicher Qualitätskriterien besser bewertet.
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb: interne Unzufriedenheit
Trotz der vielen Erfolge und der beeindruckenden Bilanz, die das Südtiroler Gesundheitswesen vorweisen kann, besteht kein Anlass für Freudentänze. Der Druck auf das System steigt, weil die Widersprüche offensichtlicher werden. Nicht wenige Primare, Oberärzte, aber auch Pfleger und Verwalter kommen mit den Anforderungen (zunehmende Bürokratie und Leistungsverdichtung) nicht klar, kündigen oder ziehen sich in die innere Emigration zurück. Andere mucken auf und riskieren ein Disziplinarverfahren. Tatsächlich findet man in der Führungsetage kaum jemanden, der die Stimmung unter Ärzten und Pflegepersonal als „gut" bezeichnen würde.
Ein Beispiel, das dafür Pate steht, ist „SP-Expert, das der Sanitätsbetrieb 2013 einführen wollte. Es handelt sich dabei um ein elektronisches System, mit dem der Personaleinsatz besser geplant werden kann. Knapp eine halbe Million Euro hat die Software gekostet, berichtete die „Tageszeitung
. Dem Blatt wurde ein Brief zugespielt, in dem sich Chefärzte über dieses neue Informationssystem entrüsten. Schwerfällig sei es, zeitraubend und nervtötend, hinausgeworfenes Geld für zusätzliche Bürokratie, die nur dazu beitrage, dass Ärzte von den Patienten ferngehalten werden. „Wir Primare des Südtiroler Sanitätsbetriebes sind einem funktionsfähigen, schlanken Gesundheitswesen mit möglichst wenig bürokratischem Aufwand verpflichtet, heißt es in dem Schreiben der Primare an den damaligen Landesrat für Gesundheit Richard Theiner. Jede Doppelgleisigkeit und Schwerfälligkeit in Erfassung und Dokumentation müsse verhindert werden. Trotzdem wurde es eingeführt, obwohl selbst die Führungsspitze im Sanitätsbetrieb der Meinung sei, „SP-Expert müsse nur deshalb verwendet werden, weil es viel gekostet hat.
2016/17: Berichte und Polemiken im Zeitraffer
Andere Beispiele, die mehr oder weniger zufällig ausgewählt wurden, fügen sich wie Puzzleteile in ein Gesamtbild, das die Schwierigkeiten, mit denen der Südtiroler Sanitätsbetrieb konfrontiert ist, erahnen lässt:
14. April 2016: Die „Dolomiten berichten, dass 39 Jungärzte ohne Facharztausbildung Diagnosen stellen und Therapien verschreiben. Besorgt müsse man dennoch nicht sein, so die Direktorin des Gesundheitsbezirkes Meran Irene Pechlaner: „Es sind unsere Leute, sie sind unsere Zukunft, und die Bevölkerung kann absolut beruhigt sein. Die jungen Ärzte werden Schritt für Schritt an ihre Aufgaben herangeführt.
23. April 2016: Der Gesundheitsbezirk Meran schreibt 19 neue Stellen für Ärzte und eine Primarstelle aus. Die Tageszeitung „Alto Adige – wachsame Hüterin der ethnischen Ausgewogenheit – stößt sich am Umstand, dass nur eine von 20 Stellen der italienischen Sprachgruppe vorbehalten sei. Das dürfe nicht hingenommen werden: Zuerst kommt der ethnische Proporz und dann die medizinische Versorgung. Reinhold Perkmann, Primar der Thorax-und Gefäßchirurgie am Bozner Krankenhaus kontert: „Immer diese Heilige Kuh Proporz! Ich weiß, es gibt Bereiche, da ist der Proporz wichtig, aber im Sanitätsbereich müssen wir pragmatischer werden.
26. April 2016: Die „Dolomiten berichten, dass der Rechnungshof den Haushalt des Sanitätsbetriebes überprüft habe und dringend Reformen und mehr interne Kontrollen anmahne. Es gebe zu viele Abweichungen, die internen Kontrollen seien mangelhaft, die Berechnungen der Abfertigungsrückstellungen zu ungenau, die Unternehmensrisiken zu vage dargestellt. Landesrätin Martha Stocker parierte den Vorwurf mit der Feststellung: „Ich hoffe, dass man 2015 genauer hingeschaut hat.
29. April 2016: Kaum ein Jahr im Amt, geht über Generaldirektor Thomas Schael ein Frühjahrsgewitter nieder. Die „Dolomiten berichten: „An Schaels Stuhl wird gesägt
, und im Vorspann wird eine (nicht namentlich genannte) Führungskraft mit den Worten zitiert: „Das sind nicht Einzelne, die am Stuhl von Schael sägen, das ist eine Säge-Industrie. Auch das Südtiroler Wochenmagazin „ff
berichtet unter der Schlagzeile „Die Schläfer: „Wie Südtiroler Ärzte versuchen, Generaldirektor Thomas Schael loszuwerden, und sich dabei selbst im Wege stehen.
Die Tageszeitung „Alto Adige ergänzt: „La sanità è ferma al palo. Scaricabarile su Schael
(Das Gesundheitswesen verharrt in den Startblöcken. Schuldzuweisung an Schael). Im Untertitel wird Landeshauptmann Arno Kompatscher mit den Worten zitiert: „Er ist kein Teamplayer, er muss die Ärzte und Primare stärker mit einbeziehen. Damit war Generaldirektor Schael gemeint, dem nun öffentlich und von höchster politischer Stelle fehlende Sozialkompetenz vorgeworfen wird. Zudem will die Tageszeitung „Alto Adige
erfahren haben, dass zwischen Schael und Landesrätin Stocker eine neue Eiszeit ausgebrochen sei.
7. Mai 2016: Die „Dolomiten machen mit der Schlagzeile „Die Gefäßchirurgie-Notfälle nach Bozen
auf. Auslöser dieser überraschenden Maßnahme war der Personalnotstand im Brixner Spital, das dank hoher Qualität jahrelang die Patienten von Bozen nach Brixen lockte. Das Krankenhaus muss nun offenbar zur Kenntnis nehmen, dass diese Erfolgsgeschichte zu Ende geht.
28. Juni 2016: Die Tageszeitung „Alto Adige" berichtet, dass vier Ärzte des Sterzinger Krankenhauses vor Gericht erklären müssen, wieso sie Krebspatienten operiert haben, obwohl sie nach Ansicht von Sanitätsdirektor Oswald Mayr die Voraussetzungen nicht erfüllten. Mayr stützt sich auf internationale Studien und Standards, denen zufolge die Sicherheit der Patienten nicht gewährleistet ist, wenn Ärzte bestimmte Eingriffe zu selten durchführen, weil ihnen dann die notwendige Erfahrung fehlt.
1. Juli 2016: Die Tageszeitung „Alto Adige" berichtet, dass Staatsanwältin Donatella Marchesini gegen sechs Ärzte des Zentralkrankenhauses in Bozen ermittelt. Anlass ist der Tod einer Frau, die man kurz zuvor stationär aufgenommen hatte. Den Ärzten wird fahrlässige Tötung vorgeworfen.
21. Juli 2016: Unter der Schlagzeile „Monatelanges Warten berichtet die „Tageszeitung
über ein Thema, das seit Jahren für Unmut sorgt: die langen Wartezeiten. „In rund 30 Südtiroler Krankenhausabteilungen beträgt die Vormerkzeit für fachärztliche Visiten mehr als 100 Tage." Die Spitzenreiter sind: Für (nicht dringende) Augenvisiten warten Patienten in Sterzing 314 Tage, in Bozen 226 Tage, in Brixen 194 Tage und in Meran 164 Tage. Für eine dermatologische Visite müssen Patienten in Bozen 156 Tage warten, für eine Koloskopie in Meran 151 Tage, für eine Hals-Nasen-OhrenVisite in Brixen 181 Tage, für eine Herzuntersuchung in Brixen 218 Tage, für eine neurologische Visite in Sterzing 111 Tage, für eine pneumologische Visite in Meran 128 Tage, für eine Rheumatologische Visite in Bozen 251 Tage und für eine urologische Visite in Brixen 132 Tage.
15. Oktober 2016: Die Südtiroler Medien berichten von einem Autounfall, bei dem eine 63 Jahre alte Frau ums Leben kommt. Sie wollte eine Straße überqueren und wurde dabei von einem Auto erfasst. Die Sanitäter des Roten Kreuzes und auch die Männer der Feuerwehr waren innerhalb weniger Minuten an der Unfallstelle. Nicht aber der Notarzt, dieser traf knapp eine Stunde später ein. Der Grund: Im Jahr davor hatte die Landesregierung den Notarztdienst in Gröden abgeschafft. Die Frau erlag ihren Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus. Im Nachhinein fragten sich viele, ob sie vielleicht überlebt hätte, wenn der Notarzt früher gekommen wäre und die Landesregierung nicht an der Sparschraube gedreht