Warum habe ich nichtepileptische Krampfanfälle?: Mein Recovery-Weg mit Trauma-Therapie
By Mary Rose W.
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Heute ist der Begriff "dissoziative Krampfanfälle" auf der Liste psychiatrischer Diagnosen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgeführt und Betroffene können auf anerkannte Behandlungsverfahren zurückgreifen. Das Buch vermittelt Wissen über diese weithin unbekannte Erkrankung und gibt Einblicke in ihre Ursachen - oftmals tieferschütternde Traumata in frühester Kindheit.
Der ehrliche Erfahrungsbericht, der mit hilfreichen Hinweisen und Links ausgestattet ist, kann aufklären und Betroffenen Mut und Hilfestellung vermitteln.
Mary Rose W.
Mary Rose W. wurde 1962 in der Schweiz geboren. Sie hat drei erwachsene Kinder und arbeitet heute als Künstlerin in einem Kunstatelier. Sie lebt als glückliche Single-Frau in einer kleinen Stadt in der Zentralschweiz.
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Book preview
Warum habe ich nichtepileptische Krampfanfälle? - Mary Rose W.
Inhalt
Es war einmal…
Lebenslauf – Teil 1
Musik und Ausbildung
Lehrerseminar in der nahe gelegenen Stadt 1978
Ausbildung zur Volksmusiklehrerin 1979/1980
Lebenslauf – Teil 2
1997 – In der Krise
Lebenslauf – Teil 3
KV-Lehre 2003 bis 2006
2008 – Stationäre Aufenthalte
Untersuchung im Epilepsie-Zentrum
Suizidversuch
Rückkehr ins Leben
2009 – Auftritt in der »Arena«
Selbsthilfegruppe Depressionen
2010 – Einweisung per FFE
2011 – Suizidalität
Ablauf eines Anfalls
Trigger/Auslöser
Ressourcen
Epilepsie! Ja oder nein?
Psychotraumatologie – der richtige Ansatz
Psychotraumatologie, Theorie praktisch und einfach erklärt
Dissoziation, Theorie praktisch und einfach erklärt
Traumastation
Meine 7 EPs und ich
Selbsthilfegruppe Dissoziative psychogene Krampfanfälle
Unglaublich, aber wahr
Erfahrungen von Angehörigen
Erfahrungsbericht von Anatina
Erfahrungsbericht von Raffael
Erfahrungsbericht von Alexander
Musik, Musik, Musik
Entscheidung
WG-Geschichten
Mein Leben heute
Anfallskalender von 1979 bis heute
Fazit, Schlussgedanken und Dank
Hilfreiche Links
Es war einmal …
SCHNUCKIPUTZI mit Farbstiften, 2005, Mary Rose W.
Es war einmal ein Mädchen. Es wohnte in einem Land, in dem soeben ein jahrelanger Krieg zu Ende gegangen war. Vieles war zerstört worden und es gab fast nichts zu essen. Deshalb beschloss es, in einem fremden Land sein Glück zu suchen, und machte sich auf den langen Weg in die Schweiz. Dort angekommen musste es sehr viel arbeiten und verdiente sehr wenig.
Deshalb hielt es Ausschau nach einem passenden Mann, da es sich sagte: Wenn ich schon so viel arbeiten muss, dann doch lieber für die eigene Familie und nicht für Fremde. Es dauerte nicht lange, bis sich ein junger und sympathischer Mann in das Mädchen verliebte. Nach einer kurzen Verlobungszeit heirateten die beiden. Inzwischen war aus dem Mädchen eine junge Frau geworden und sie schenkte ihrem Gemahl während den ersten drei Jahren ihrer Ehe jedes Jahr ein Kind. Das erste Kind war ein Knabe und die beiden weiteren waren Mädchen. Nach einer Frist von drei Jahren gebar sie nochmals einen Sohn.
Es war nicht eine böse alte Hexe, welche der Frau sagte, wie sie mit ihren Babys umgehen sollte, sondern die Herrgötter in Weiß (Ärzte) und ihre Gehilfinnen (Krankenschwestern). Da die junge Mutter sehr zerbrechlich wirkte, hatten sie einen guten Rat auf Lager. Sie empfahlen der jungen Frau, sich nach den Geburten zu schonen und die Säuglinge während der ersten Nächte zu Hause außerhalb ihrer Hörweite in ihren Körbchen in den Keller oder die Waschküche zu stellen. Dies garantiere ihr erholsame Nächte und die Babys würden danach problemlos durchschlafen, weil sie gemerkt hätten, dass sich nachts niemand ihrer annahm, auch wenn sie noch so laut und lange schrien.
Die junge Mutter nahm den Rat dankbar an und tat, wie ihr geheißen. Wie ging es aber ihren Babys damit? Wie ging es vor allem der Zweitgeborenen? Was bedeutete diese erste fundamentale Erfahrung von Verlassenheit für ihr weiteres Leben? Welche Folgen haben Kindheitstraumen für die lebenslange Gesundheit? Davon handelt dieses Buch.
Bereits als kleines Mädchen liebte ich Märchen über alles. Kaum konnte ich lesen, verschlang ich ein Märchenbuch nach dem anderen. Was mir vor allem gefiel, war, dass das Gute immer siegte und die Geschichten am Schluss zu einem guten Ende fanden.
Im vorliegenden Buch erzähle ich Ihnen aber kein Märchen, sondern meine wahre Geschichte. Ob es in dieser meiner Lebensgeschichte zu einem guten Schluss kommen könnte, war über viele Jahre ungewiss. Die Kämpfe, die auszutragen waren, führten mich oft bis weit über meine Grenzen. Alle Erfahrungen und Erlebnisse wurden von mir so wahrgenommen, wie ich sie niederschrieb. Um Personen und Institutionen zu schützen, wurden alle Namen und Orte von mir abgeändert. Mit eingeflossen in mein Buch sind jahrelang geführte Tagebuchaufzeichnungen und andere originale Dokumente.
Im Anhang habe ich für interessierte Betroffene, Laien und Fachpersonen hilfreiche Links aufgeführt.
Lebenslauf – Teil 1
Meine Geschwister und ich erblickten in den Jahren 1961, 1962 und 1963 das Licht der Welt. Ich bin das mittlere, das »Sandwichkind«, wie man es heute salopp nennt. Mein jüngster Bruder machte 1966 unsere Familie komplett.
Im Alter von knapp zwei Jahren erkrankte ich an einer schweren Meningitis (Hirnhautentzündung). Während Wochen war ich dem Tod näher als dem Leben. Als ich aus der Klinik wieder nach Hause kam, musste ich nochmals alles von Anfang an lernen, was ich als aufgewecktes Kleinkind zuvor schon beherrscht hatte, denn ich war ins Babyalter zurückgefallen. Für meine Mutter war das eine schwierige Zeit. Erst kürzlich sagte sie zu mir: »Du warst als kleines Mädchen ein selten dummes Kind. Egal wie oft du deine Finger oder die ganze Hand verbrannt hattest, du hast nichts daraus gelernt und immer wieder die heiße Herdplatte oder das glühende Bügeleisen berührt.«
An meine Kleinkinderzeit habe ich sehr wenige Erinnerungen. Erst aus den ersten Schuljahren sind mir vereinzelte Geschichten und Erlebnisse im Gedächtnis geblieben. Wir wechselten in den Jahren 1960 bis 1967 mehrmals den Wohnort, bis meine Eltern in einer kleinen Berggemeinde ein Haus fanden, wo wir sesshaft wurden. Mein Vater arbeitete als selbständiger Dachdecker und Spenglermeister und meine Mutter erledigte die Haushaltungspflichten und für das Geschäft alles Administrative.
Während sieben Jahren meiner obligatorischen Schulzeit wurde ich von Klosterfrauen in alten Klostermauern unterrichtet (kein Internat). Einzig in der 5. und 6. Primarklasse machte ich Erfahrungen mit einem »weltlichen« Lehrer an einer öffentlichen Schule.
Musik und Ausbildung
Kirchenorgel
Wie fast jedes Schulkind in der Schweiz machte ich meine ersten musikalischen Erfahrungen in den Fächern Singen und Blockflöte. Die begabteren Schüler durften schon bald in der nahe liegenden katholischen Pfarrkirche während der Gottesdienste, vor allem an den Festtagen, spielen. Ich war eines von diesen Kindern.
Die Möglichkeit, nur eine Stimme zu spielen, begann mich relativ schnell zu unterfordern und zu langweilen.
Ich fragte meine Klassenlehrerin, Schwester Eugenia, ob sie mir das Harmoniumspielen beibringen würde, denn wir hatten zu Hause ein altes Harmonium. Nach drei Monaten war sie mit ihren technischen und praktischen Fähigkeiten an ihre Grenze gestoßen und bat mich, einen besser ausgebildeten Lehrer für Orgel und/ oder Klavier zu suchen. Die Suche verlief erfolgreich und schon bald besuchte ich jeden Mittwochnachmittag die kombinierte Harmonium- und Klavierstunde bei Herrn Canzati. Die schnellen Fortschritte erstaunten alle und mein Vater machte mir im Herbst 1973 folgenden Vorschlag: »Mary Rose, wenn du dich getraust, in der Mitternachtsmesse am 24. Dezember die zwei bekanntesten Weihnachtslieder ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ und ›Oh du fröhliche‹ in der Kirche zu spielen, erhältst du von mir 100 Franken.« Zur damaligen Zeit waren 100 Franken so viel wie heute 1000 Franken. Mein Ehrgeiz war geweckt und so spielte ich als elfjähriges Mädchen vor mehreren hundert Kirchenbesuchern am Heiligabend diese beiden Lieder. Ein wenig Stolz spürte ich dabei.
STÜRMISCHES MEER mit Ölfarben, 2013, Mary Rose W.
Von einem älteren Ehepaar meiner Wohngemeinde erhielt ich ein altes, fast hundertjähriges Klavier der Marke »Burger & Jacobi«. Fast jede freie Minute verbrachte ich nun mit Üben und meine Freude und Begeisterung am Musizieren nahm schnell zu. Im Frühling 1974 spielte ich als Zwölfjährige zum ersten Mal eine ganze Messe in der Kirche und wurde von der katholischen Kirchgemeinde als Organistin angestellt. Das bedeutete für mich: Jeden Samstagnachmittag in die Kirche zu gehen und die verantwortliche Klosterfrau zu fragen, welche Lieder an diesem Samstag und Sonntag gesungen werden. Danach ging ich in die Kirche und übte diese Lieder, bis ich sie konnte. Zum Teil dauerte das drei bis vier Stunden. Mit den Liedern allein war es ja nicht getan. Die Messe wollte mit einem passenden Stück begonnen und auch abgeschlossen werden. Während der Kommunion war zudem leise Musik erwünscht.
Während andere Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren ihre Freizeit in Gruppen und Discos verbrachten, war ich brav in der Kirche und übte. Jeden Samstagabend von 19.30 bis 20.30 Uhr und am Sonntagvormittag von 9.30 bis 10.30 Uhr spielte ich während den Messen die Orgel. Dies von April 1974 bis zu meinem Wegzug im August 1980.
Damals hatte ich das Gefühl, so viel Zeit in der Kirche verbracht zu haben, dass es für mein ganzes zukünftiges Leben reicht. Heute gehe ich sehr selten in die Kirche, und wenn ich gehe, dann hat es einen Grund: eine Hochzeit, eine Taufe, ein spezieller Gottesdienst mit ansprechendem Thema und/oder guter Musik oder auch eine Beerdigung.
Meine Großmutter väterlicherseits verbrachte ihre beiden letzten Lebensjahre fast ausschließlich in einem bequemen Liegesessel in ihrer Arvenstube. Unsere ganze Familie besuchte die Großeltern, welche 30 km entfernt in einem kleinen Dorf wohnten, regelmäßig jedes zweite bis dritte Wochenende. Als Großmama merkte, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, fragte sie mich, ob ich an ihrer Beerdigung die Orgel spielen würde. Ich konnte ihr diesen letzten Wunsch nicht abschlagen und versprach es ihr. Bei jedem Besuch musste ich mein Versprechen erneuern. Damals war ich 16 Jahre alt. 1979 starb sie und ich löste mein Versprechen ein, obwohl es mir sehr schwerfiel, denn ich habe meine Großmama sehr geliebt und fühlte mich ihr nahe und auf spezielle Weise verbunden. Ich musste mich extrem zusammennehmen, meine Trauergefühle ganz stark zurückdrängen, um mich aufs Orgelspielen zu konzentrieren. Auch meine Tränen durften nicht fließen.
Knapp eineinhalb Jahre später verstarb auch mein Großvater und wieder war es für alle klar, dass ich bei seiner Beerdigung die Orgel spielte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit meinem ersten Kind im achten Monat schwanger, was es nicht einfacher machte.
Lehrerseminar in der nahe gelegenen Stadt 1978
Auszug aus meinem Tagebuch vom 10. Dezember 1978 (16 Jahre alt)
»Nun erzähle ich Euch die Geschichte vom Lehrerseminar von August–Dezember 1978. Es begann mit der schwierigen Aufnahmeprüfung. Besonders Französisch und Biologie waren für mich sehr anspruchsvoll. Als die Bio-Prüfung vorbei war, sagte ich zu mir: ›So, liebe Mary Rose, jetzt bist du geflogen.‹ Dies war dann glücklicherweise nicht der Fall. Meine gute Kollegin Barbara schaffte es leider nicht und das tat mir sehr, sehr leid. Mit ›Bärbi‹ pflege ich seither eine Brieffreundschaft, obwohl sie sehr schreibfaul ist.
Ich besuche seit dem 24. August 1978 das Lehrerseminar. Bis jetzt gefällt es mir dort absolut nicht. Alles ist so unpersönlich, Lehrer wie Schüler. Aber es gibt natürlich bei beiden Ausnahmen. Bei den Lehrern ist es vor allem die Deutschstunde bei Herrn Dürrmüller, aber auch das Französisch bei Herrn Schmidt. Apropos, in Französisch bin ich jetzt bei einer Durchschnittsnote von 3,4. In den drei Jahren Sekundarschule war ich immer die Klassenbeste. Note 5 war für mich schon nicht mehr gut. Im Zeugnis hatte ich fast ausnahmslos die Noten 5,5 und 6. Die Note 6 ist bei uns in der Schweiz die beste Bewertung.
Von meinen Studienkolleginnen fand ich vor allem Regula, Tamara und Theres sehr nett.
Wieso lagen die Noten im Seminar um einiges tiefer? Das hatte diverse Gründe. Meine Gesundheit spielte wieder einmal nicht mit. Deswegen war ich wegen chronischem, stundenlang andauerndem Nasenbluten mehr im Sanitäts- als im Klassenzimmer. Im Fach Italienisch war ich so schlecht, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Spickzettel machte. Ich stellte mich dabei so blöd an, dass ich jedes Mal erwischt wurde und die Prüfung mit der Note 1 bewertet wurde. Somit war ich in Italienisch auf einer Note zwischen 2 und 3. Das war für mich undenkbar schlecht und auch deswegen spielte mein Körper mit dem andauernden Nasenbluten verrückt. Ich konnte es mir beim allerbesten Willen nicht vorstellen, in diesem Seminar bis zum Abschluss in fünf Jahren zu bleiben.«
Auszug aus meinem Tagebuch vom 19. Dezember 1978 (16 Jahre alt)
»Heute habe ich sehr wahrscheinlich eine meiner wichtigsten Lebensentscheidungen gefällt. Ich habe beschlossen, dass ich aus dem Lehrerseminar austrete und eine Lehre zur diplomierten Volksmusiklehrerin bei Herrn Schwarzmüller beginnen werde. Diese Lehre dauert vier Jahre und ist genau das, was ich mir schon immer gewünscht habe. Meine Mutter machte mich auf das Inserat in der Tageszeitung vom 15. Dezember 1978 aufmerksam. Ich las es durch und war sofort begeistert. Wir