Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Der Gral
Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Der Gral
Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Der Gral
Ebook392 pages4 hours

Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Der Gral

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Editorial
Aufsätze zum Schwerpunkt: Hermann Danuser: Verheißung und Erlösung – Zur Dramaturgie des „Torenspruchs“ in Parsifal – William Kinderman: Gral und Gegengral – Die Klangräume des Parsifal-Dramas – Ulrike Kienzle: Die heilige Topographie in Wagners Parsifal – Volker Mertens: Wie christlich ist Wagners Gral? – Peter Moormann: Der Gral im Film – Aufsätze / Essays: Maurizio Giani: Erpresstes Verstummen - Zu Claude Debussys Wagnerkritik – Udo Bermbach: Wagners Weg in den Urwald - Zu Bernhard Försters Gründung von „Neu Germanien“ in Paraguay (1887–1889) – Karl-Heinz Reuband: Wagner im Kino. Der Chéreau-Ring und sein Publikum – Forum: Parsifal – christlich oder buddhistisch? Ein Briefwechsel des Philosophen Kurt Hübner mit Dieter Borchmeyer – Besprechungen / Bücher – CD – DVDs
LanguageDeutsch
Release dateSep 30, 2014
ISBN9783826080319
Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Der Gral

Related to Wagnerspectrum

Related ebooks

Music For You

View More

Related articles

Reviews for Wagnerspectrum

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Wagnerspectrum - Udo Bermbach

    Autoren

    Aufsätze zum Schwerpunkt

    Verheißung und Erlösung. Zur Dramaturgie des „Torenspruchs" in Parsifal

    *

    Hermann Danuser

    In Friedhelm Krummachers Diagnose „Religiöse Kunst wird zur Tautologie, wo alle Kunst religiös ist"1 wird „Kunstreligion tendenziell mit „absoluter Kunst gleichgesetzt. Wie indes der Begriff „Weltanschauung religiös-theologische Richtungen keineswegs ausschließt, so darf man „Weltanschauungsmusik, auch wenn bei diesem Begriff die Quellen-und die Analysedimension methodologisch ineinanderfließen, nicht kategorisch gegen religiöse Inhalte abschotten. Wenn bei ihr jegliche Autonomieästhetik einen heteronomieästhetischen Widerpart aufweisen muß, ohne den sie keine Weltanschauungsmusik ist, darf man ihren religiösen Gehalt nicht mit absoluter Kunst in eins setzen. Eine so extreme Zuspitzung würde weder der künstlerischen noch der kulturellen Relevanz wortbezogener Tonkunst – vokaler, programmgebundener und theatraler Musik – im 19. und 20. Jahrhundert gerecht.

    In diesem Beitrag thematisiere ich dasjenige Werk, das am nachhaltigsten – und am problematischsten – mit Religion verbunden ist, ja das oft mit Kunstreligion geradezu identifiziert wird: Richard Wagners Parsifal. Das „Bühnenweihfestspiel" wurde über Bayreuth hinaus zu einem Fokus religiöser Verehrung und setzte rezeptionsgeschichtlich die Autorkonzeption weit übersteigende Bedeutungsschichten frei. Ich betrachte es hier als eine sakral-theatrale Weltanschauungsmusik und konzentriere die Untersuchung auf einen dramaturgischen Zusammenhang, der das unendlich reiche, komplexe Werk in wichtigen Punkten begründet.

    Von „Welthellsichtig zu „Durch Mitleid wissend: Ausgang von der Peripetie

    Im Zentrum der Dramaturgie von Parsifal steht der Zusammenhang zwischen Verheißung und Erlösung. Mit dem Schicksalsparadigma verbunden2, trägt er bei zu jener Spatialisierung der musiktheatralen Zeit, die Gurnemanz’ Spruch „zum Raum wird hier die Zeit"3 in eine tiefgründige Formel faßt. Ein Zug zur Symmetrie durchdringt das sakrale Drama. Während in der klassischen Poetik zwischen Exposition, Entwicklung, Peripetie und Schluß ein flexibles, dynamisches Verhältnis herrscht, weil diese Kategorien funktional, nicht quantitativ bestimmt sind, prägt eine innere Gesetzmäßigkeit Parsifal so klar symmetrisch aus, als würden vor dem Auge die Proportionen eines Gebäudes sichtbar. Da die Peripetie in der Mitte des Werkes angesiedelt ist, wird das ihr Vorangehende als Voraussetzung und das auf sie Folgende als Konsequenz in Szene gesetzt.

    Bei der Peripetie im zweiten Aufzug küßt Kundry, an die Stelle der Mutter tretend, Parsifal mit den Worten „Die Leib und Leben / einst dir gegeben, / der Tod und Torheit weichen muß, / sie beut / dir heut’ – / als Mutter-Segens letzten Gruß / der Liebe ersten Kuß. Parsifal jedoch, statt sich erster Liebe anheimzugeben, erfährt unter „furchtbarer Veränderung Mitleid: „Amfortas! … / Die Wunde! Die Wunde! / Sie brennt in meinem Herzen! […]"4 Mit einer in Halbtonschritten und Tritonus-sprüngen zerklüfteten Chromatik, welche Topoi musikalischer Schmerzdarstellung aktualisiert, übernimmt Parsifal die Diktion des Amfortas und wird mitleidend zum Leidenden. Hiermit durchbricht er Kundrys Verführungskunst und deren Gesetz der Serie, dem zahlreiche Gralsritter – darunter auch König Amfortas selbst – zum Opfer fielen, und macht den Weg frei, durch Restitution des heiligen Speers in den Kreis der Gralsritterschaft „Erlösung dem Erlöser" zu gewähren.

    Hierbei gewinnt der Begriff Weltanschauung im Werk selbst spezifisches Gewicht. Mit Kundrys mitleidsauslösendem Kuß ist die Peripetie des Dramas im 2. Aufzug noch nicht vollzogen, es bedarf weiterer, sich steigernder Versuchungen, bis nach deren Überwindung Klingsors Reich zusammenbricht. Vor der letzten Zurückweisung – die Verführerin hat sich ins Extrem religiös-ekstatischer Raserei gesteigert – setzen Parsifal und Kundry einander die Frage nach Welterkenntnis entgegen.

    Parsifal: „O Elend, aller Rettung Flucht! / O Weltenwahns Umnachten: / in höchsten Heiles heißer Sucht / nach der Verdammnis Quell zu schmachten! Und Kundry: „So war es mein Kuß, der welthellsichtig dich machte?5

    Wagner hat diese vom Mischklang des Orchesters getragene Dialogpassage mit extrem gespannten chromatischen Linienzügen komponiert. Wie ist sie zu deuten? Ist „welthellsichtig synonym mit „weltanschaulich? Kundrys Kuß befreit Parsifal von seiner Torheit und macht ihn in den Augen der Verführerin offen für Kräfte der Welterkenntnis, die Liebe, Sexualität und Erotik entfesseln. Wagner spielt auf den Sündenfall im Paradies an, wenn er in einem Brief an Ludwig II. die „lockende Verheißung der Schlange: „eritis sicut Deus, scientes bonum et malum zitiert.6 Diese Unterscheidung weiß Parsifal, wenn er im 1. Aufzug den Schwan tötet, nicht – noch ist er ein reiner Tor, aber auch und nur als Tor ist er rein. Kundry, Schlange teuflischer Verführung, verspricht Parsifal, er werde die Welt erlösend „Gottheits-Status erlangen. Dieser aber widersteht der Versuchung. „Welthellsichtig wird er demutsvoll „durch Mitleid wissend. Damit hält er dem Wahne stand, den er als „Weltenwahn aufruft, und transzendiert seine Paradoxie.7 „Welthellsichtig und „durch Mitleid wissend, zwei Formen von Weltanschauung, werden in der Mitte des Werkes zum Knoten der Peripetie gebunden. Nur aufgrund der zweiten Form kann Parsifal, so Wagners kühne Konstruktion, zum Erlöser des Erlösers werden.

    Das ausgeführte und aufgeführte musikdramatische Kunstwerk ist indessen etwas anderes als seine poetologische oder weltanschauliche Quintessenz. Die unerhörte Wucht der Peripetie in Parsifal, welche die Zeit brennpunktartig verdichtet, verdankt sich einer dramaturgischen Planung über weite Strecken, die buchstäblich das gesamte Werk erfaßt. Einzelne Etappen, die von Verheißung zu Erlösung führen, spannen über drei Akte hinweg einen riesigen Bogen der Spatialisierung.

    Das prophetische Motto: Stationen einer Verheißung

    Von Beginn an bringt eine kunstreligiöse Figur Hoffnung auf Erlösung zum Ausdruck: Sie wird im 1. Akt in sich wandelnder Form mehrfach evoziert und schwebt nach der Peripetie des 2. Aktes als potentiell bereits erfüllte Prophetie im Raume, bis sie schließlich am Ende des Werkes zu künstlerisch eingelöster Realität wird. Wagner hat sie, indem er den Namen des Titelhelden noch privatmythologisch änderte, zum kryptischen Kern des Werkes chiffriert: statt Perceval oder Parzival (wie die mittelalterlichen Namensformen bei Chrétien de Troyes bzw. Wolfram von Eschenbach lauten8) Parsifal – Fal Parsi: der reine Tor. Während bei der Schicksalsidee wahrgenommene Götterzeichen heidnische Elemente offenbaren, handelt es sich bei der Weissagung, die der leidende Amfortas zur Rettung des heiligen Speeres erflehte, der den Heiland am Kreuze und auch ihn verwundet hatte, um eine in Hauptzügen christliche Prophezeiung, zu deren Dramaturgie Wagner in Der Ring des Nibelungen bzw. Tristan und Isolde entwickelte „Leitmotiv-Techniken adaptierte. Die dichterisch-musikalische Einheit trägt vollständig den Text „Durch Mitleid wissend der reine Tor, harre sein, den ich erkor9, aber die Prophezeiung – Wolzogen nennt sie „Verheißungsspruch (Thorenmotiv)"10 – wird nicht auf einmal, sondern stufenweise in mehreren Etappen enthüllt.

    Wagner selbst hat den mit „Torenmotiv" nur unzulänglich umschriebenen Gedanken mehrfach, im einzelnen durchaus unterschiedlich benannt. Im ersten erhaltenen Prosa-Entwurf zu Parsifal von Ende August 1865 heißt es, Anfortas (später: Amfortas) habe den Gral „um ein Zeichen gefragt und dann „die Rätselworte gelesen: ‚mitleidend leidvoll wissend ein Tor wird dich erlösen‘!11; es finden sich dort auch andere Formulierungen wie: „durch Mitleiden leidet, und ohne wissen weiser ist als andre, bzw. „mitleidend leidvoll wissender Tor. Im zweiten Prosa-Entwurf, den Wagner am 23. Februar 1877 in Bayreuth beendete, lautet der „Spruch bei der Szene mit Gurnemanz: „Mitleidvoll leidend ein wissender Tor soll durch den Speer dich heilen.12

    Abbildung 1: Richard Wagner, Parsifal, 1. Aufzug; 1a: T. 178–182; 1b: T. 189–192 (Auszüge)

    1. Beim ersten Mal – kurz nach Beginn der szenischen Handlung und unmittelbar vor Kundrys Auftritt, da Gurnemanz mit zwei Gralsrittern die Heilungschancen des Königs Amfortas erwägt – erklingt das Motto an Anfang und Schluß einer 15 Takte langen Periodenreplik von Gurnemanz (T. 178–192): am Anfang als Orchesterkommentar zu Gurnemanz’ Versen, die den Torenbegriff auf sich selbst und die Gralshüter statt auf Parsifal bezogen ins Werk einführen: „Toren wir, auf Lind’rung da zu hoffen, / wo einzig Heilung lindert!" (T. 178–182; siehe Abb. 1a). In einer fünftaktigen Grundgestalt, durch den Holzbläserklang (Englisch Horn, 2 Klarinetten und 2 Fagotte) aus dem Kontext herausgehoben, bildet es einen Hintergrund zu Gurnemanz’ Gesangslinie, welche die von der 1. Klarinette gezeichneten melodischen Konturen des Spruchs noch meidet, so daß zwischen dichterischem Text, Gesangslinie und Orchesterstruktur eine Kluft besteht. Am Schluß der Replik deutet Gurnemanz, geborener Erzähler, zu Amfortas’ Rettungschancen an: „ihm hilft nur eines, / nur der Eine! Das Motto, Widerschein des Orchesterkommentars, erklingt hier verkürzt und rhythmisch vorläufig figuriert (T. 189– 192; siehe Abb. 1b), aber während der Anfang der Periode völlig offen ist („Toren wir), gewinnt Gurnemanz’ Gesang, indem er der Linie der 1. Violine mit der Wiederkehr des Quintfalls folgt, rätselhaftes Bedeutungsgewicht. Die beiden sprachlich verwandten Substantive „Eines und „der Eine werden an dieser ersten Stelle auch im Gesang durch fallende Quinten parallelisiert, jenes mit der verminderten Quinte b–e, dieses mit der reinen Quinte c–f. Ohne daß bereits ein Name fiele, ist damit Amfortas’ Rettung noch unspezifiziert durch einen Vorgang bzw. eine Person behauptet – beide Male markant verknüpft durch fallende Quinten einer Sequenz-Struktur. Der Zuschauer vermag den unklaren Zeichen noch keine spezifische Bedeutung zuzuschreiben. Und Gurnemanz weicht an dieser Stelle der neugierigen Frage der Ritter aus und deutet Wissen bloß an – konform einer Dramaturgie, welche erst allmählich vom Vagen zur Gewißheit führt. Den Wortlaut der Prophetie kennt er wohl, nicht aber ihre Bedeutung.

    Indem Gurnemanz den Rittern die Antwort noch verweigert, hält er in der Gralsgemeinschaft ein Herrschaftswissen zurück, das nicht für alle bestimmt ist. Mit der Quinten-Sequenz, einem Kern des Leitmotivs ohne den prophetischen Text, etabliert sich Gurnemanz als wichtige Person im Drama. Solch schrittweise Vergegenwärtigung leitet allmählich zum Motto-Spruch hin, so daß dieser, wenn er schließlich in seiner dichterischmusikalischen Primärform erklingt, aus einem längst Geahnten, Vermuteten, Erhofften resultiert. Daß hier Streicher Gurnemanz’ Quinten begleiten, stützt den Charakter introduktorischer Beiläufigkeit.

    Abbildung 2: Parsifal, 1. Aufzug, T. 319–327 (Auszug)

    2. Nachdem Kundry und Amfortas in die szenische Aktion eingeführt sind, erscheint das Motto erstmals mit dem Wortlaut der Prophetie, bei fünf Takten Länge aber noch keineswegs integral; nur mühsam fördert eine Erinnerungsarbeit die Verheißung zu Tage (siehe Abb. 2). Dieses Mal trägt es der sieche, im Ungewissen auf Heilung wartende Gralskönig Amfortas selbst vor, trotz des ruhenden Amtes eine Person entschieden höheren Ranges als Gurnemanz. Sprecher und Empfänger der Verheißung fallen hier zusammen. Wenngleich einziger direkter Zeuge der Weissagung des heiligen Grales, vergegenwärtigt Amfortas diese nur im Sinne eines zweifach unsicheren Wissens: zum einen vermag er den Wortlaut der Verheißung nur im Dialog mit Gurnemanz zu rekonstruieren; zum anderen übersetzt er ihre Bedeutung – entsprechend der Neigung des Menschen, Zeichen vorschnell zu lesen – irrig mit „Tod".

    Gegenüber dem erstmaligen Auftreten erscheint das Motto hier im Gesang nach Melodie und dichterischem Wortlaut vollständiger, überdies durch Anführungsstriche als Zitat des Spruchs herausgehoben. Der Dialog zwischen Amfortas und Gurnemanz scheidet es in zwei Teile und verleiht ihm so erhöhte Prägnanz: dramatische Musik in actu. Die hier den Holzbläsern (mit Flöten, Oboen und Hörnern) übertragene Instrumentation schafft eine Erinnerungsbrücke zur erstmaligen Stelle im Orchesterkommentar (T. 178ff.) und wandelt die klangliche Erscheinungsform ins Sanfte ab.

    Abbildung 3: Parsifal, 1. Aufzug, T. 729–741 (nur Singstimmen)

    3. Da Gurnemanz’ lange Erzählung von Klingsor in die Hoffnung auf Restitution des heiligen Speeres mündet (unmittelbar vor Parsifals Auftritt), ertönt beim dritten Mal die Prophezeiung nun in ihrer vollständigen dichterisch-musikalischen Form – erst solistisch, danach abgekürzt chorisch (siehe Abb. 3) –, doch nicht Amfortas trägt sie vor, obgleich sie nur ihm, dem unmittelbar Betroffenen, geoffenbart wurde – alle anderen berichten vom Hörensagen –, sondern abermals Gurnemanz in seiner die epischen Tendenzen des Bühnenweihfestspiels stützenden Erzählerrolle.

    Die Prophezeiung besteht aus zwei Teilen: Eine erste Hälfte visiert eine Person an, die aufgrund bestimmter Qualitäten geeignet wäre, die Erlösung herbeizuführen; die zweite Hälfte befiehlt Amfortas, bis zum Erscheinen dieser Person zu warten. So ist es evident, daß die erste Hälfte geeignet ist dazu, wann immer diese Person, d. h. Parsifal, in den Brennpunkt gerät, durch leitmotivische Präsenz die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

    Wie ist die Prophezeiung musikalisch gestaltet, wie wird sie als Zitat dramaturgisch eingeführt? Allen Leitmotiven solcher Relevanz hat Wagner eine unverwechselbare Physiognomie verliehen. Eduard Hanslick vertrat die Auffassung, „an sich werde man „das etwas leere, in Quinten aufsteigende Thema kaum originell oder interessant finden, doch seine Wirkung im dramatischen Zusammenhang bezeichnete er zu Recht als „vortrefflich".13 In der Tat darf man bei Wagners Drama die Musik nur im Ineinanderwirken mit Dichtung und szenischer Handlung bewerten. Es sind die leeren Quinten, melodisch wie harmonisch, die hier eine solche musikalische Physiognomie bewirken und deren volle Bedeutung sich erst am Schluß des Werkes erweisen wird. Die Figur selbst14 bestimmt ein Zug zur Symmetrie, insofern vier Quinten in d-Moll aufeinander folgen – von Orgelpunkten auf A bzw. G gestützt –, drei in einem Sekundgang von der II. zur IV. Stufe aufsteigend und eine letzte dann wieder zur neapolitanischen II. Stufe zurücksinkend: b e / c1 f / d1 g / b [es]15. Bei zwei einander korrespondierenden Phrasen endet die Gesangsmelodie analog: das erste Mal mit einer fallenden Quinte („wissend", c1 f), das zweite Mal auf einem Einzelton („Tor", b), dessen Unterquinte in der Akkordvertikalen enthalten ist. Die zweite Hälfte des Mottos, die von d-Moll zur Variante D-Dur geht, beginnt ebenfalls mit einer fallenden Quinte (a d), schließt dann aber mit dem „Erlösungsmotiv"16 und dessen Stufenfolge aufwärts zur Dur-Terz (d e fis).

    Mit den Stimmen der vier Knappen erlangt das Motto hier17, von einem hohen Streichersatz gestützt, reine Vokalität – Reflex des kirchenmusikalischen A-cappella-Ideals und zugleich religiöser Vorschein künftiger Ritterschaft. Diese Gestalt des Mottos erscheint als dessen Primärform, doch wird sie aus dramaturgischen Gründen – um des überraschenden Auftritts von Parsifal willen – unterbrochen, bevor der zweite Teil erklingt.18 Die musikalischen Differenzen zwischen den bislang beobachteten Etappen, scheinbar geringfügig, sind in Wirklichkeit beträchtlich. Das Motto ändert sich in seinem „Wesen" nicht, weil die Tonkonstellationen immer dieselben bleiben, aber in stets ungewohnten Kontextualisierungen erscheint es immer anders und immer neu.

    Wie Parsifal im zweiten Aufzug Kundry dreimal mit wachsender Intensität abweisen muß, bis die Mitleids-Ethik sich endgültig gegen die sexuelle und intellektuelle Verführung behauptet, so bedarf es im ersten Aufzug dreier Zitationen des Mottos, bis der kryptisch beim Namen Gerufene auf der Bühne erscheint. Bei der Apparition der seraphischen Klänge der vier Knappen – einem akustischen Widerschein des visuellen Verheißungsspruchs – entsteht, das Motto unterbrechend, plötzliche Unruhe, als ein erlegter Schwan niederstürzt und die Knappen einen „reinen Toren" – frevelhaft in seiner blinden Tötungswut, ungebildet, ahnungslos – auf die Szene schleppen.

    Abbildung 4: Parsifal, 1. Aufzug, T. 964–965 (Auszug)

    4. Im weiteren Verlauf des 1. Aufzugs treten die Elemente des prophetischen Spruchs auseinander. Die Antwort, die das Drama auf die Mottofrage gab, lag zunächst im szenischen Auftritt einer unbekannten Person, ohne Leitmotiv und ohne Text. Nun aber beziehen sich Kundry und Gurnemanz auf Parsifal mit dem Torenbegriff, doch charakteristisch verschieden.

    Den biographischen Hintergrund dieser „Tor-Existenz – als im Dialog mit Gurnemanz Parsifal eine völlige Ignoranz von sich und der Welt offenbart – liefert Kundry, neben Gurnemanz die zweite wissende Person im Drama, eine „Halbjahresjournalistin, die sich immer an der richtigen, weil interessanten, nachrichtenträchtigen Stelle befindet. Sie berichtet: „Den Vaterlosen gebar die Mutter, / als im Kampf erschlagen Gamuret; / vor gleichem frühen Heldentod / den Sohn zu wahren, waffenfremd / in Öden erzog sie ihn zum Toren: / die Törin!"19 Hier ist das Element der Torheit so in den fließenden Verlauf der Musik eingewoben, daß das Leitmotiv im Klangtext des Dramas aufgeht. Von einer „Spruchwirkung kann keine Rede mehr sein, aus der isolierten Prophezeiung wird ein leitmotivisch für das Publikum berichteter Sachverhalt, aber zum ersten Mal im Drama wird der Torbegriff, und zwar von Kundry, einschließlich des „wissenden Orchesterkommentars auf die Person Parsifals bezogen, freilich noch pejorativ, wie der Zusatz „die Törin!" unterstreicht. Und geflissentlich, mittels einer leitmotivischen Art des Orchesterkommentars, vermeidet die Musik – Streicher mit zwei Holzbläsern (Englisch Horn und 1. Fagott) mischend – eine besondere Klangwirkung, die die Stelle aus dem breiteren Kontext heraushöbe (siehe Abb. 4).

    Im weiteren Verlauf des 1. Aufzuges – als Gurnemanz und Parsifal in den Saal der Gralsburg eintreten, wo die Zeremonie der Gralsenthüllung stattfinden soll – bezeichnet auch Gurnemanz Parsifal als einen Toren, wenn er mit Worten in der Nähe des Mottos Parsifal anspricht: „Nun achte wohl, und laß mich seh’n: / bist du ein Tor und rein, / welch’ Wissen dir auch mag beschieden sein."20 Gurnemanz spielt hier mit dem Motto, zitiert es aber nicht, weil er in Parsifal nicht ernsthaft den späteren Retter erahnt. Hier, wo mehrere Elemente des Mottos poetisch auftreten, ohne freilich den Spruch-Zusammenhang auszubilden, vermeidet die Musik strikt jede leitmotivische Anspielung.

    Während zuvor bei Kundry die Musiksprache des Mottos leitmotivisch als Orchesterkommentar verwendet wird, ohne daß die Gralsbotin dies wüßte – die subtextuelle Anspielung auf die Mottobedeutung gilt nur für den Rezipienten –, wird nunmehr bei Gurnemanz, der das Motto bereits zweimal vorgetragen hat und nur allzu gut dessen Wortlaut weiß, die musikalische Formulierung vermieden, suggerierte sie doch ein Wissen, das Gurnemanz zu diesem Zeitpunkt des Dramas noch gar nicht haben darf. Wie man beim blinden Ratespiel dem gesuchten Gegenstand nahekommt, ohne seinen genauen Ort zu kennen, und ihn darum manchmal selbst aus größter Nähe nicht zu fassen vermag, so nähert sich Gurnemanz im Dialog mit Parsifal der Motto-Formel weitgehend an. Von vier wichtigen Begriffen sind drei vorhanden („Tor, „rein, „Wissen); ein letzter fehlt hier noch, wie beim Protagonisten selbst, der zentrale: „Mitleid. Tatsächlich kann Gurnemanz seine Kenntnis der Prophezeiung – analog zur Tradition der Mißdeutung und Fehllesung von Götterzeichen – gar nicht adäquat anwenden. Obwohl die Worte, die Wagner ihm in den Mund legt, für das Publikum eine „heiße" Spur indizieren, merkt derjenige, der sie äußert, den hier noch subtextuellen Zusammenhang nicht. Hier kehrt sich die Relation Musik – Text im Vergleich zu Gurnemanz’ erster Stelle um, wo nur das musikalische Motto anklang, die prophetischen Worte vom darauf anspielenden Erzähler aber verschwiegen wurden.

    5. Bisher war die Weissagung immer in das dramatische Geschehen szenisch verwoben – teils trägt eine sichtbare Person den Mottospruch vor, so daß man die Prophezeiung als einen in der Gegenwart erinnerten Akt erfährt, teils sind die Schichten des Spruch-Zusammenhangs aufgespalten in poetische/leitmotivfreie und leitmotivische/textfreie Elemente –, nun jedoch kommen die letzten Male, da das Motto im 1. Aufzug von Parsifal erklingt, einem aktualen Wundergeschehen nahe. Die Reduplikation erfolgt allerdings auch hier nicht direkt, sondern durch Verlebendigung einer bereits historischen Prophetie.

    Mit der ganzen, beschwörenden Kraft seines Leidens ruft Amfortas nach Erlösung – in einem hinreißenden, alle Gewalt der chromatisch gespannten Tonsprache des späten Wagner aufbietenden Monolog – und endet mit den Worten: „Erbarmen! Erbarmen! / Du Allerbarmer! ach, Erbarmen! / Nimm mir mein Erbe, / schließe die Wunde, / daß heilig ich sterbe, / rein Dir gesunde!"21. Dieses tief bewegende, inständige Flehen um Erbarmen zeitigt die Reduplikation: Knaben und Jünglinge, „aus der Höhe, unsichtbar (so Wagners Regieanweisung für die Alt- und Tenorstimmen), singen das vollständige Motto im reinen A-cappella-Gesang22 (siehe Abb. 5). Wohl bindet Wagners Technik des „kleinsten Übergangs diese Vokalität in den Zusammenhang des Dramas ein – anfangs durch einen Liegeton im Horn, dann durch den Vokalsatz der Ritter –, aber weil die Knaben und Jünglinge szenisch nicht zu sehen sind, liegt die Quelle der Musik im Numinosen, Transzendenten. Losgelöst vom Körper, ist die Stimme des Irdischen entledigt. Befreit ist sie auch dramaturgisch von allen Funktionen eines Orchesterkommentars, die die ästhetische Erfahrung reflexiv färben. Der A-cappella-Gesang läßt eine metaphysische Aura ahnen, strömt rein und direkt einen Klang göttlicher Offenbarung aus. Da Wagner darauf verzichtet hat, die prophetische Schrift-Erleuchtung des heiligen Grals aktual in szenischer Form darzustellen, und sie statt dessen im Modus epischer Narration zur Geltung bringt, erhebt gerade die Unsichtbarkeit der Schallquelle bei den letzten beiden Erscheinungen des Mottos im ersten Aufzug den Wunderzeichen-Status der Prophetie zu ästhetischer Realität.

    Abbildung 5: Parsifal, 1. Aufzug, T. 1405–1411 (Auszug)

    6. Nachdem das Fest der Gralsenthüllung vorbei ist und die Ritterschaft den Saal wieder verlassen hat, prägt die Dramaturgie des „Torenspruchs" auch den Ausklang des 1. Aktes. Als Reflex der Gralsenthüllung, Vorschein künftiger Wanderschaft im Drama, erklingt er nun transponiert.23 Weder Gurnemanz noch Parsifal wissen, daß der namenlose Tor zum Retter werden wird – aber das Publikum soll es wissen. Zu Gurnemanz’ Worten „Was stehst du noch da? Weißt du, was du sah’st? erklingt leitmotivisch der Torenspruch als Orchesterkommentar24, durchaus analog zu Kundrys Erzählung über Parsifals Erziehung durch seine Mutter Herzeleide. Gerade im Kontrast gegen die nachfolgende metaphysische Offenbarung der Wahrheit erklingen zu Gurnemanz’ Worten „Du bist doch eben nur ein Tor! (vgl. Abb. 6) bzw. nach „und suche dir Gänser die Gans!" die Quintfälle des Torenspruchs als eine Parodie des prophetischen Mottos, mit Sforzati und von langen Pausen durchsetzt, abrupt, hart, abweisend – in der komischen Art der Meistersinger.25

    Abbildung 6: Parsifal, 1. Aufzug, T. 1643–1645 (Gesang und Bratsche)

    Abbildung 7: Parsifal, 1. Aufzug, T. 1655–1658 (Auszug)

    Nach Parsifals Abgang aber wiederholt, keiner Person des Dramas zugeordnet, eine Altstimme „aus der Höhe die Prophetie ein letztes Mal im ersten Aufzug, unmittelbar vor dessen Ende und verknüpft mit dem Gralsmotiv „Selig im Glauben26 (siehe Abb. 7). Durch die Reduktion der Stimmenzahl auf eine einzige wird Gottes Stimme symbolisiert, die sich in der Bildtradition der Inspiration an einen Einzelnen richtet – ein Extrem an Vergeistigung ist damit erreicht. Auch wenn Gurnemanz diese letzte Motto-Präsentation noch hört, ist doch ausschließlich das Publikum ihr Adressat. So wird die Prophetie schließlich doch noch im Drama kunstreligiös vergegenwärtigt. Die Begleitung dreier Fagotte vermittelt der Altstimme einen abermals neuartigen Klang. Nicht nur die Personenkonstellation und der dramaturgische Kontext des Mottos erscheinen im 1. Aufzug stets neu gestaltet, auch die klangliche Erscheinungsform wandelt sich von Mal zu Mal. Die Kette dieser Stationen erweist eindringlich, wie in Weltanschauungsmusik Gehalte von Religion ästhetisch erfahrbar gemacht werden.27 Die Zeitdispositionen des sakralen Dramas über weite Strecken schlagen den Hörer in ihren Bann und begründen die Musik aus einer paradoxen Identität von Entwicklung und Raumstatik.

    Wagner hat Sorge dafür getragen, daß das prophetische Motto im gesamten 1. Aufzug, immer verschieden und immer gleich, dramatisch gegenwärtig bleibt. Das „Harren, das die göttliche Botschaft dem Amfortas auferlegt, wird somit zu einer dauernden, aufgrund der intermittierenden Struktur aber nicht ermüdenden Erfahrung für das Publikum. Verschiedene Positionierungen – meist hervorgehoben am Anfang oder Ende szenischer Abschnitte –, Differenzen in Tonsatz und Syntax, unterschiedliche Subjekte, die den Spruch äußern, mannigfache Grade und Qualitäten von „Präsenz, vor allem auch die Aufspaltung in Schichten der Musik qua Leitmotivik bzw. Schichten der Poesie qua religiöser, spielerischer Begrifflichkeit – diese musikdramaturgischen Mittel stiften im 1. Aufzug für die Prophezeiung im Drama eine netzähnliche Struktur.

    Im Vergleich zu „Leitmotiven üblicher Art besitzt die musikalische „Prophetie eine geringere Variationsbreite. Je stärker der „Spruch-Charakter des Mottos hervortritt, desto schwächer wird scheinbar sein leitmotivisches Profil. Gleichwohl ist das Motto, wie die Dramaturgie vor allem des 2. und 3. Aufzugs zeigt, beides: identischer Spruch und extrem variables Motiv. „Reinheit und „Hohlheit stechen hervor: Der „reine Tor der Dichtung wird in Melodie und Harmonie markant mit „reinen, leeren Quinten nach einem Noëma-Topos dargestellt. Dies hebt den „Spruch aus dem prozessualen Fluß des Musikdramas heraus und entkontextualisiert ihn in momentaner Beleuchtung. Die Verräumlichung der Zeit im sakralen Drama findet ihren selbstreflexiven Niederschlag in der Noëma-Struktur des Mottos. Der im Rätselspruch kryptisch beim Namen gerufene Mensch, der im 1. Akt noch keinen Namen trägt, erscheint im ausgezeichneten Augenblick auf der Bühne: Der prophetische Spruch verleiht den Namen durch göttliche Fügung.

    Im 2. Aufzug, Klingsors Gegenwelt, erscheint der Motto-Spruch als dichterisch-musikalische Prophetie weitgehend ausgeblendet, umso bedeutsamer führen leitmotivische Prozesse die Verheißung weiter. Klingsor weiß um die Prophezeiung, er weiß, daß gerade die Torheit Parsifal gegen Zauber und Verführung schützt, und wann immer er solche Bedenken äußert, erscheint im Orchesterkommentar musikalisches Material des Torenspruchs leitmotivisch adaptiert. Beispiele hierfür sind u. a. die Musik zu den Versen nach Klingsors Beginn „Die Zeit ist da: „Schon lockt mein Zauberschloß den Toren, den, kindisch jauchzend, fern ich nahen seh!28, oder auch wenn Klingsor über den Toren zu Kundry singt: „Den Gefährlichsten gilt’s heut zu bestehn: ihn schirmt der Torheit Schild29, bzw. wenn er später seine Ansprache vor der Blumenmädchenpartie beendet mit den Worten: „Du da, kindischer Sproß, was auch Weissagung dich wies, zu jung und dumm fielst du in meine Gewalt: die Reinheit dir entrissen [bleibst mir du zugewiesen]30. Zwei Elemente des Torenspruchs werden hier mit einer fallenden Quinte begrifflich und musikalisch markiert: „Torheit in Takt 208 mit der Quinte a → d, „Reinheit in den Takten 411–412 mit der Quinte e → a. Diese isolierten, weit voneinander entfernt klingenden Intervalle sind so aufeinander beziehbar, daß sie den Motivinhalt, eine fallende reine Quinte,

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1